Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
24
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 4 KR 62/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 24 KR 1208/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 28. Oktober 2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Einstandspflicht der Beklagten für eine Behandlung der Klägerin mit Immunglobulinen.
Die 1962 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie leidet seit 1986 an einer Multiplen Sklerose MS , die im Jahre 1994 diagnostiziert wurde, bei der sich eine Verlaufsform mit erkennbaren Schüben ausbildete. Seit Januar 1996 wird die Klägerin in der Neurologischen Abteilung des Krankenhauses zu B von Frau Prof. Dr. H behandelt. Von Dezember 1997 an wurde eine monatliche intravenöse Immunglobulintherapie mit 15 g Octagam monatlich auf Kosten der Beklagten durchgeführt.
Am 15. August 2001 beantragte die Klägerin die weitere Kostenübernahme für die Immunglobulintherapie, was die Beklagte mit Bescheid vom 05. November 2001 ablehnte. Es läge keine Zulassung von Immunglobulinen zur Therapie bei Multipler Sklerose vor und es sei in wissenschaftlichen Studien hierzu kein Nutzen für die Patienten nachgewiesen worden.
Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 26. November 2001, mit dem sie im Wesentlichen vortrug, die seit 1997 durchgeführten Immunglobulinfusionen hätten bei ihr positiv angeschlagen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 07. März 2002 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat sich die am 11. April 2002 beim Sozialgericht Frankfurt (Oder) erhobene Klage gerichtet, die die Klägerin damit begründet hat, ihr stünde die begehrte Behandlung zu, da die Alternative, nämlich die Betaferonbehandlung, ungeeignet sei.
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 05. November 2001 in Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 07. März 2002 der Klägerin die Therapie mit Immunglobulinen zur Behandlung ihrer Multiplen Sklerose als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen. Die Beklagte hat erstinstanzlich
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide gestützt und auf die Rechtsprechung zum so genannten Off Label Use Gebrauch verwiesen, deren Voraussetzungen hier nicht vorlägen. Darüber hinaus hat sie eine Auskunft des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen vom 29. September 2000 und des P Institutes für Immunglobulintherapie beigebracht.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht der behandelnden Neurologin Prof. Dr. H eingeholt und den Tumorimmunologen Prof. Dr. L zum Sachverständigen ernannt.
Der Sachverständige hat in dem am 06. Juli 2005 erstatteten Gutachten dargelegt, bei der Klägerin sei die Krankheit seit 1999 im Wesentlichen stabil geblieben und habe sich nach Beendigung der Immunglobulintherapie wegen der Ablehnung der Kostenübernahme durch die Beklagte acht Monate später verschlechtert. Danach jedoch seien 1 ½ Jahre lang keine Schübe mehr erkennbar gewesen. Allerdings seien Krankenhausaufenthalte zur stationären Behandlung von rezidivierenden lebensbedrohlichen Komplikationen häufiger geworden. Die Klägerin befinde sich somit in einer lebensbedrohlichen Phase der Erkrankung. Zwischenzeitlich würden zur Behandlung der bei der Klägerin vorliegenden sekundär chronisch-progredienten Multiplen Sklerose Interferonbetapräparate vorliegen, die hierfür zugelassen seien. Eine Therapie mit Betaferon könne bei der Klägerin nicht sicher empfohlen werden und sie habe sie nicht erhalten. Für andere immunsuppressive Therapien liege in dem fortgeschrittenen Stadium der Multiplen Sklerose kein Wirksamkeitsnachweis vor. Eine Empfehlung zur Therapie mit Immunglobulinen könne nicht ausgesprochen werden, denn nach den Therapieleitlinien sei dies nur bei einer schubförmig verlaufenden MS Erkrankung sinnvoll, die bei der Klägerin aber nicht vorliege.
Mit Verfügung vom 19. Oktober 2005 hat das Sozialgericht ein beigezogenes Gutachten des Prof. Dr. M vom 17. August 2004 und eine Stellungnahme des P Institutes vom 05. April 2005 den Beteiligten zur Stellungnahme zugeleitet.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 28. Oktober 2005 hat sich der Sachverständige Prof. Dr. L mit dem Gutachten des Prof. Dr. M und der Stellungnahme des Paul Ehrlich Institutes auseinandergesetzt und dargelegt: Die Patienten, die in diesen Studien beschrieben werden, wiesen einen schubförmigen Verlauf der Multiplen Sklerose auf und nicht wie die Klägerin einen chronisch-progredienten Verlauf. Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zeige sich jedoch, dass die Immunglobulintherapie lediglich beim schubförmigen Verlauf sinnvoll sei, dies habe er in seinem Gutachten dargelegt und daran ändern auch die von Prof. Dr. M und dem P Institut dargestellten Erfolge gerade bei schubförmigem Verlauf nichts. Es bestehe ein wissenschaftlicher Konsens, dass für die chronisch-progrediente Verlaufsform der Einsatz von Immunglobulinen nicht indiziert sei.
Sodann hat das Sozialgericht mit Urteil vom 28. Oktober 2005 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt:
Jedenfalls liegen derzeit die Voraussetzungen für die Gewährung einer Immunglobulintherapie zur Behandlung der bei der Klägerin vorliegenden MS nicht vor, denn es handelt sich hier nicht um einen Off Label Use-Gebrauch. Inwieweit zu einem früheren Zeitpunkt - beim Vorliegen der schubförmigen Verlaufsform der Erkrankung - die Versagung einer Immunglobulintherapie rechtmäßig beziehungsweise rechtswidrig war, hatte die Kammer nicht zu entscheiden. Klagegegenstand war nicht eine Kostenerstattung im Sinne des § 13 SGB V, sondern ausschließlich die Gewährung der Therapie im gegenwärtigen Zeitpunkt und für die Zukunft sowie, ob bei der jetzt vorliegenden, sekundär chronisch-progredienten Verlaufsform der Erkrankung die Voraussetzungen für einen Off-Label Use-Gebrauch vorliegen. Dies war im Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch leider zu verneinen.
Nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst unter anderem die ärztliche Behandlung, welche ausreichend sein muss, zweckmäßig und wirtschaftlich; die das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf (§ 12 Abs. 1 S. 1 SGB V). Die ärztliche Behandlung umfasst die Tätigkeit des Arztes zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten, welche nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig sein muss. Dies umfasst auch die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln (§ 27 Abs. 1 Ziffer 1 und 3 SGB V).
Die durchgeführte Behandlung mit Immunglobulinen gehört nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung, da diese für die Behandlung der Erkrankung der Klägerin nicht zugelassen sind. Das Präparat Octagam (Lösung zur intravenösen Infusion) ist u. a. zugelassen bei primären Immunmangelkrankheiten, Myelom oder chronisch-lympthatischer Leukämie, Kindern mit angeborenem AIDS usw. Eine Zulassung zur Behandlung der MS liegt nicht vor (s. Fachinformation Octagam und Angaben in der "Roten Liste ®" (Arzneimittelverzeichnis für Deutschland, Stand Juli 2005). Wenngleich dies allein für eine Versagung der Leistung nicht ausreicht, sind jedoch auch die Voraussetzungen für einen Off Label Use-Gebrauch nicht erfüllt.
Ein Off Label Use liegt dann vor, wenn ein Arzneimittel dem Grunde nach zugelassen ist, jedoch dieses Arzneimittel für ein Anwendungsgebiet verordnet werden soll, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. Ein Off Label-Use-Einsatz ist grundsätzlich unzulässig. Aufgrund der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 19. März 2002 B 1 KR 37/00 wurden besondere Tatbestandsvoraussetzungen definiert, bei deren Vorliegen in eng gezogenen Grenzen ein Off Label Use-Gebrauch ausnahmsweise zulässig ist. Mithin wurde ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt statuiert. Nach dieser Entscheidung ist die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet nur dann möglich,
wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht,
wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und
wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.
In dieser Entscheidung werden vom BSG für die Tatbestandsvoraussetzung zu 3. zwei Fallgruppen aufgeführt, unter denen ein Behandlungserfolg bejaht werden kann. Es ist ausreichend, dass Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch-relevante Wirksamkeit respektive ein klinisch relevanter Nutzen bei vertretbaren Risiken belegt ist. Die zweite Fallgruppe betrifft veröffentlichte Erkenntnisse, die außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnen worden sind und welche über die Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Bei der 2. Fallgruppe kommt es auf ein Zulassungsverfahren des Arzneimittels nicht an.
Bei der Beurteilung der Frage, ob für das neue Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftliche nachprüfbare Aussagen vorliegen, stellt sich die Frage, welche Qualität diese Aussagen haben müssen. In der vorgenannten BSG Entscheidung stellt das Gericht insoweit für den dort entschiedenen Fall unter Verweis auf die Berufungsinstanz lediglich fest, dass Studien, die einen therapeutischen Nutzen belegen könnten, nicht bekannt seien und aufgrund einer vom P Institut veröffentlichten Pressemitteilung eines internationalen Symposiums deutlich werde, dass der Nutzen einer entsprechenden Behandlung kontrovers diskutiert werde und deshalb ein wissenschaftlicher Konsens hierzu nicht bestehe.
In der Beweisaufnahme war daher zu prüfen, ob derartige Phase 3 Studien vorliegen oder ob in den einschlägigen Leitlinien hierzu Aussagen getroffen wurden. Solche Leitlinien werden von ärztlichen Fachgremien für typische medizinische Sachverhalte aufgestellt, sie stellen normierte Regeln eines guten ärztlichen Handelns dar (Hart, MedR 1998, 8). Sie stellen zumindest einen Anhaltspunkt für einen ärztlichen Konsens dar (vgl. hierzu Schroeder-Printzen/Tadayon, Sozialgerichtsbarkeit H 12/02, 664 ff.). Unstrittig ist zwischen den Beteiligten, dass die Voraussetzungen zu 1. und 2. im Falle der Klägerin erfüllt sind. Die Feststellungen der Beweisaufnahme, dass die Klägerin sich bereits mit einem EDSS-Punktwert von 8,0 in einer lebensbedrohlichen Phase der Erkrankung befindet, mit einer ungünstigen Prognose, und dass zum Zeitpunkt der Antragstellung keine zugelassene Behandlungsalternative bestand sowie der Umstand, dass die IFN Betapräparate Betaferon (seit 1999) und Rebif (seit 2003) inzwischen zwar zugelassen sind, nach Prof. L, in dem Erkrankungsstadium der Klägerin bei einem hohen Behinderungsgrad nicht sicher empfohlen werden können, sind auch für die Kammer nachvollziehbar.
Die Voraussetzungen der vorgenannten Ziffer 3. sind jedoch nicht erfüllt. Hierbei ist entscheidungserheblich, dass die Klägerin nunmehr an einer sekundär chronisch-progredienten Verlaufsform erkrankt ist.
Sowohl in seinem Gutachten als auch in seinen schlüssigen Ausführungen im Termin der mündlichen Verhandlung hat der Sachverständige Prof. L die verschiedenen Verlaufsformen der Erkrankung (schubförmig rezidivierend-remitierende Verlaufsform, sekundär chronisch-progrediente Verlaufsform, primär chronisch-progrediente Verlaufsform) und deren Unterscheidungsmerkmale dargelegt. Bei der Klägerin ist aus der ursprünglich schubförmig verlaufenden Verlaufsform nunmehr eine sekundär chronisch-progrediente entstanden, was erhebliche Auswirkungen auf die Therapie und die hier zu entscheidende Fragestellung hat.
Bei der schubförmigen Verlaufsform, welche durch akut entzündliche Veränderungen im Nervensystem während der Schübe gekennzeichnet ist, muss einerseits der entzündliche Prozess behandelt werden und andererseits sollen Schübe unterdrückt werden. Für diese Verlaufsform besteht nach Prof. S nunmehr Konsens, dass die Behandlung mit Immunglobulinen zu einem früheren Zeitpunkt als eine mögliche Behandlungsalternative anzusehen ist, wenn andere Therapieoptionen nicht zur Verfügung stehen oder kontraindiziert sind. Aufgrund der aktuellen Datenlage ist hier von einem Vorliegen auch der Tatbestandsvoraussetzung nach Ziffer 3. für einen zulässigen Off Label Use des vorgenannten BSG Urteils auszugehen. Hierfür sprechen die von Prof. L angeführten 4 Studien zur intravenösen Gabe von Immunglobulinen bei einem schubförmigen Verlauf. Diese Studien wurden auch von Prof. M in dem beigezogenen Gutachten vom 17. August 2004 angesprochen. Von weiteren 3 Studien mit unterschiedlicher Qualität ebenfalls den schubförmigen Verlauf betreffend ist in der Stellungnahme des P-Instituts vom 05. April 2005 die Rede. Es besteht Konsens darüber, dass bei Patienten, die unmittelbar nach Auftreten der ersten Erkrankungszeichen intravenös mit Immunglobulinen behandelt wurden, sowohl die Schübe verzögert als auch kernspintomografisch nachweisbare Veränderungen ebenfalls reduziert wurden. Diese Studien befassen sich jedoch nicht mit dem chronisch-progredienten Verlauf der Erkrankung, wie er jetzt bei der Klägerin vorliegt.
Auch die Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften bestätigen dies. Die deutschen Leitlinien der Jahre 2000 2002 sehen die intravenöse Immunglobulintherapie als eine mögliche Behandlungsalternative für den schubförmigen Verlauf, wenn andere Therapie-Optionen nicht zur Verfügung stehen. In den englischen Leitlinien spielt nach L die intravenöse Immunglobulintherapie keine Rolle. Die Leitlinien der USA sprechen ebenfalls nur von einer schlecht dokumentierten Alternative bei der schubförmigen Verlaufsform.
Entsprechende positive klinisch kontrollierte Studien der Phase III liegen nach Prof. S jedoch leider für die sekundär chronisch-progrediente Verlaufsform nicht vor. Auch die Leitlinien lassen keine Rückschlüsse auf einen Erkenntnisstand außerhalb des Zulassungsverfahrens, der von einem Konsens zum Einsatz der intravenösen Immunglobulintherapie bei dieser Verlaufsform ausgeht.
Zuzugeben ist der Klägerseite, dass es auch Mischformen in diesen Verlaufsformen gibt. Auch der Sachverständige Prof. L hat eingeräumt, dass sich bei der sekundär chronisch-progredienten Verlaufsform Schübe aufpfropfen können und dass es nicht auszuschließen ist, dass es aus der großen Gruppe von Patienten mit sekundär chronisch-progrediente der Multiple Sklerose Patienten gibt, die von Immunglobulinen profitieren. Allerdings nach L konnte durch die bisher durchgeführten Studien diese Gruppe nicht identifiziert werden.
Wenngleich das Gericht die Stellungnahmen der behandelnden Ärzte und auch das Begehren der Klägerin nachvollziehen kann, konnte dem Klagebegehren nicht entsprochen werden. Wegen des grundsätzlichen Vorranges des Arzneimittelrechts muss ein Off Label Use zu Lasten der Krankenversicherung auf diejenigen Fälle beschränkt bleiben, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind (BSG, a. a. O.). Eine Ausdehnung über diese durch die Rechtsprechung des BSG eröffnete Möglichkeit eines In Verkehr Bringens eines Arzneimittels für eine andere als die zugelassene Indikation durch die genannten Kriterien für einen zulässigen Off Label Use ist zur Überzeugung des Senats nicht möglich.
Gegen dieses dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 10. November 2005 zugestellte Urteil richtet sich dessen Berufung vom 08. Dezember 2005, zu deren Begründung im Wesentlichen vorgetragen wurde, bei der Klägerin läge im Gegensatz zur Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. L die schubförmige Verlaufsform der Multiplen Sklerose vor, so dass auch nach seinem Gutachten die Immunglobulintherapie indiziert sei.
Die Klägerin beantragt,
1. das am 28. Oktober 2005 verkündete Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder), Geschäftszeichen: S 4 KR 62/02, sowie den Bescheid der Beklagten vom 05. November 2001 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 07. März 2002 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Behandlung der MS mit einer IVIG Immunglobulintherapie zu ermöglichen und diese zu bezahlen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und durch die weiteren Ermittlungen des Senats für bestätigt.
Der Senat hat Behandlungsunterlagen vom J Krankenhaus B und der Landesklinik E vom Januar 2005 und Mai 2005 beigezogen. Im J Krankenhaus wurde eine schubförmige Multiple Sklerose diagnostiziert, in der Landesklinik E eine Multiple Sklerose mit sekundär chronisch-progredientem Verlauf. Der Senat hat sodann diese Unterlagen dem Sachverständigen Prof. Dr. L zur Stellungnahme zugeleitet.
In der Stellungnahme vom 25. Juli 2006 legt der Sachverständige dar, die im Arztbrief des J Krankenhauses zum stationären Aufenthalt vom 04. Februar 2005 bis zum 08. Februar 2005 angegebene Diagnose einer schubförmigen Verlaufsform der Multiplen Slerose sei falsch. Diese Diagnose stünde im Widerspruch zu den Arztbriefen vom 02. Mai 2003 des H Klinikums B und der Landesklinik E vom 28. Juni 2005 sowie von früheren Stellungnahmen der behandelnden Ärztin Prof. Dr. H selbst, in denen diese korrekt als Diagnose die sekundär chronisch-progrediente Verlaufsform einer Multiplen Sklerose angegeben habe. Dementsprechend seien auch weder während des stationären Aufenthaltes im H Klinikum B noch während der stationären Aufnahme in der Landesklinik Eberswalde die Indikation für die Gabe von Immunglobulinen gestellt worden. Dass auch im Rahmen der sekundär chronisch-progredienten Verlaufsform der Multiplen Sklerose akute Schübe auftreten können, für deren Behandlung die hoch dosierte Gabe von Corticosteroiden etabliert sei, habe er bereits dargelegt. Wissenschaftlich basierte Hinweise für eine Wirksamkeit von Immunglobulinen in dieser Situation lägen nicht vor.
Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Berichterstatters ohne mündliche Verhandlung über die Berufung erklärt.
Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang der Beklagten () verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg. Diese hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Immunglobulinen zur Behandlung ihrer Multiplen Sklerose zu Lasten der Beklagten. Dies hat das Sozialgericht im angefochtenen Urteil unter Darlegung der nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung für den geltend gemachten Anspruch maßgeblichen Voraussetzungen unter nicht zu beanstandender Würdigung des Beweisergebnisses des erstinstanzlichen Verfahrens zutreffend dargelegt. Der Senat nimmt daher zur Vermeidung bloßer Wiederholungen insgesamt auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz SGG ).
Die Ermittlungen des Senats im Berufungsverfahren haben nicht zu einem anderen für die Klägerin günstigeren Ergebnis geführt, sondern im Gegenteil die Auffassung des Sozialgerichts erneut bestätigt. Insbesondere rechtfertigt auch die Berufungsbegründung keine der Klägerin günstigere Beurteilung. Wenn in der Berufungsbegründung dargelegt wird, bei der Klägerin sei unzweifelhaft eine schubförmige multiple Diagnose festgestellt worden und dies sei insbesondere auch im Krankenhaus E diagnostiziert und behandelt worden, so ist dies schlicht unzutreffend. Der Sachverständige Prof. Ludwig hat den beigezogenen Unterlagen dieser Krankenhäuser zutreffend entnommen, dass lediglich einmal im J Krankenhaus durch die behandelnde Ärztin Prof. Dr. H eine schubförmige Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, dass jedoch im Krankenhaus E ebenso wie im H Klinikum B als auch von Prof. Dr. H selbst zuvor ein sekundär chronisch progredienter Verlauf beschrieben wurde. Prof. Dr. L legt dann überzeugend dar, dass bei der Klägerin tatsächlich keine schubförmige Krankheitsform vorliege und dass das Auftreten einzelner Schübe nicht bedeute, dass insgesamt die schubförmige Form der Multiplen Sklerose vorliege. Der Senat hat keine Veranlassung, an diesen wissenschaftlich begründeten Darlegungen des Sachverständigen aufgrund der Darlegungen des nicht medizinisch ausgebildeten Prozessbevollmächtigten der Klägerin zu zweifeln. Vielmehr sind die Darlegungen des Prof. Dr. L in sich schlüssig und wissenschaftlich fundiert. Somit steht zur Überzeugung des Senats fest, dass bei der Klägerin derzeit keine schubförmige MS Erkrankung vorliegt und die Feststellungen des Sozialgerichts daher Gültigkeit behalten.
Infolgedessen war die Berufung der Klägerin mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Für die Zulassung der Revision war keiner der in § 160 Abs. 2 SGG dargelegten Gründe ersichtlich.
Tatbestand:
Streitig ist die Einstandspflicht der Beklagten für eine Behandlung der Klägerin mit Immunglobulinen.
Die 1962 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie leidet seit 1986 an einer Multiplen Sklerose MS , die im Jahre 1994 diagnostiziert wurde, bei der sich eine Verlaufsform mit erkennbaren Schüben ausbildete. Seit Januar 1996 wird die Klägerin in der Neurologischen Abteilung des Krankenhauses zu B von Frau Prof. Dr. H behandelt. Von Dezember 1997 an wurde eine monatliche intravenöse Immunglobulintherapie mit 15 g Octagam monatlich auf Kosten der Beklagten durchgeführt.
Am 15. August 2001 beantragte die Klägerin die weitere Kostenübernahme für die Immunglobulintherapie, was die Beklagte mit Bescheid vom 05. November 2001 ablehnte. Es läge keine Zulassung von Immunglobulinen zur Therapie bei Multipler Sklerose vor und es sei in wissenschaftlichen Studien hierzu kein Nutzen für die Patienten nachgewiesen worden.
Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 26. November 2001, mit dem sie im Wesentlichen vortrug, die seit 1997 durchgeführten Immunglobulinfusionen hätten bei ihr positiv angeschlagen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 07. März 2002 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat sich die am 11. April 2002 beim Sozialgericht Frankfurt (Oder) erhobene Klage gerichtet, die die Klägerin damit begründet hat, ihr stünde die begehrte Behandlung zu, da die Alternative, nämlich die Betaferonbehandlung, ungeeignet sei.
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 05. November 2001 in Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 07. März 2002 der Klägerin die Therapie mit Immunglobulinen zur Behandlung ihrer Multiplen Sklerose als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen. Die Beklagte hat erstinstanzlich
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide gestützt und auf die Rechtsprechung zum so genannten Off Label Use Gebrauch verwiesen, deren Voraussetzungen hier nicht vorlägen. Darüber hinaus hat sie eine Auskunft des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen vom 29. September 2000 und des P Institutes für Immunglobulintherapie beigebracht.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht der behandelnden Neurologin Prof. Dr. H eingeholt und den Tumorimmunologen Prof. Dr. L zum Sachverständigen ernannt.
Der Sachverständige hat in dem am 06. Juli 2005 erstatteten Gutachten dargelegt, bei der Klägerin sei die Krankheit seit 1999 im Wesentlichen stabil geblieben und habe sich nach Beendigung der Immunglobulintherapie wegen der Ablehnung der Kostenübernahme durch die Beklagte acht Monate später verschlechtert. Danach jedoch seien 1 ½ Jahre lang keine Schübe mehr erkennbar gewesen. Allerdings seien Krankenhausaufenthalte zur stationären Behandlung von rezidivierenden lebensbedrohlichen Komplikationen häufiger geworden. Die Klägerin befinde sich somit in einer lebensbedrohlichen Phase der Erkrankung. Zwischenzeitlich würden zur Behandlung der bei der Klägerin vorliegenden sekundär chronisch-progredienten Multiplen Sklerose Interferonbetapräparate vorliegen, die hierfür zugelassen seien. Eine Therapie mit Betaferon könne bei der Klägerin nicht sicher empfohlen werden und sie habe sie nicht erhalten. Für andere immunsuppressive Therapien liege in dem fortgeschrittenen Stadium der Multiplen Sklerose kein Wirksamkeitsnachweis vor. Eine Empfehlung zur Therapie mit Immunglobulinen könne nicht ausgesprochen werden, denn nach den Therapieleitlinien sei dies nur bei einer schubförmig verlaufenden MS Erkrankung sinnvoll, die bei der Klägerin aber nicht vorliege.
Mit Verfügung vom 19. Oktober 2005 hat das Sozialgericht ein beigezogenes Gutachten des Prof. Dr. M vom 17. August 2004 und eine Stellungnahme des P Institutes vom 05. April 2005 den Beteiligten zur Stellungnahme zugeleitet.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 28. Oktober 2005 hat sich der Sachverständige Prof. Dr. L mit dem Gutachten des Prof. Dr. M und der Stellungnahme des Paul Ehrlich Institutes auseinandergesetzt und dargelegt: Die Patienten, die in diesen Studien beschrieben werden, wiesen einen schubförmigen Verlauf der Multiplen Sklerose auf und nicht wie die Klägerin einen chronisch-progredienten Verlauf. Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zeige sich jedoch, dass die Immunglobulintherapie lediglich beim schubförmigen Verlauf sinnvoll sei, dies habe er in seinem Gutachten dargelegt und daran ändern auch die von Prof. Dr. M und dem P Institut dargestellten Erfolge gerade bei schubförmigem Verlauf nichts. Es bestehe ein wissenschaftlicher Konsens, dass für die chronisch-progrediente Verlaufsform der Einsatz von Immunglobulinen nicht indiziert sei.
Sodann hat das Sozialgericht mit Urteil vom 28. Oktober 2005 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt:
Jedenfalls liegen derzeit die Voraussetzungen für die Gewährung einer Immunglobulintherapie zur Behandlung der bei der Klägerin vorliegenden MS nicht vor, denn es handelt sich hier nicht um einen Off Label Use-Gebrauch. Inwieweit zu einem früheren Zeitpunkt - beim Vorliegen der schubförmigen Verlaufsform der Erkrankung - die Versagung einer Immunglobulintherapie rechtmäßig beziehungsweise rechtswidrig war, hatte die Kammer nicht zu entscheiden. Klagegegenstand war nicht eine Kostenerstattung im Sinne des § 13 SGB V, sondern ausschließlich die Gewährung der Therapie im gegenwärtigen Zeitpunkt und für die Zukunft sowie, ob bei der jetzt vorliegenden, sekundär chronisch-progredienten Verlaufsform der Erkrankung die Voraussetzungen für einen Off-Label Use-Gebrauch vorliegen. Dies war im Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch leider zu verneinen.
Nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst unter anderem die ärztliche Behandlung, welche ausreichend sein muss, zweckmäßig und wirtschaftlich; die das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf (§ 12 Abs. 1 S. 1 SGB V). Die ärztliche Behandlung umfasst die Tätigkeit des Arztes zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten, welche nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig sein muss. Dies umfasst auch die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln (§ 27 Abs. 1 Ziffer 1 und 3 SGB V).
Die durchgeführte Behandlung mit Immunglobulinen gehört nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung, da diese für die Behandlung der Erkrankung der Klägerin nicht zugelassen sind. Das Präparat Octagam (Lösung zur intravenösen Infusion) ist u. a. zugelassen bei primären Immunmangelkrankheiten, Myelom oder chronisch-lympthatischer Leukämie, Kindern mit angeborenem AIDS usw. Eine Zulassung zur Behandlung der MS liegt nicht vor (s. Fachinformation Octagam und Angaben in der "Roten Liste ®" (Arzneimittelverzeichnis für Deutschland, Stand Juli 2005). Wenngleich dies allein für eine Versagung der Leistung nicht ausreicht, sind jedoch auch die Voraussetzungen für einen Off Label Use-Gebrauch nicht erfüllt.
Ein Off Label Use liegt dann vor, wenn ein Arzneimittel dem Grunde nach zugelassen ist, jedoch dieses Arzneimittel für ein Anwendungsgebiet verordnet werden soll, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. Ein Off Label-Use-Einsatz ist grundsätzlich unzulässig. Aufgrund der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 19. März 2002 B 1 KR 37/00 wurden besondere Tatbestandsvoraussetzungen definiert, bei deren Vorliegen in eng gezogenen Grenzen ein Off Label Use-Gebrauch ausnahmsweise zulässig ist. Mithin wurde ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt statuiert. Nach dieser Entscheidung ist die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet nur dann möglich,
wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht,
wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und
wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.
In dieser Entscheidung werden vom BSG für die Tatbestandsvoraussetzung zu 3. zwei Fallgruppen aufgeführt, unter denen ein Behandlungserfolg bejaht werden kann. Es ist ausreichend, dass Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch-relevante Wirksamkeit respektive ein klinisch relevanter Nutzen bei vertretbaren Risiken belegt ist. Die zweite Fallgruppe betrifft veröffentlichte Erkenntnisse, die außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnen worden sind und welche über die Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Bei der 2. Fallgruppe kommt es auf ein Zulassungsverfahren des Arzneimittels nicht an.
Bei der Beurteilung der Frage, ob für das neue Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftliche nachprüfbare Aussagen vorliegen, stellt sich die Frage, welche Qualität diese Aussagen haben müssen. In der vorgenannten BSG Entscheidung stellt das Gericht insoweit für den dort entschiedenen Fall unter Verweis auf die Berufungsinstanz lediglich fest, dass Studien, die einen therapeutischen Nutzen belegen könnten, nicht bekannt seien und aufgrund einer vom P Institut veröffentlichten Pressemitteilung eines internationalen Symposiums deutlich werde, dass der Nutzen einer entsprechenden Behandlung kontrovers diskutiert werde und deshalb ein wissenschaftlicher Konsens hierzu nicht bestehe.
In der Beweisaufnahme war daher zu prüfen, ob derartige Phase 3 Studien vorliegen oder ob in den einschlägigen Leitlinien hierzu Aussagen getroffen wurden. Solche Leitlinien werden von ärztlichen Fachgremien für typische medizinische Sachverhalte aufgestellt, sie stellen normierte Regeln eines guten ärztlichen Handelns dar (Hart, MedR 1998, 8). Sie stellen zumindest einen Anhaltspunkt für einen ärztlichen Konsens dar (vgl. hierzu Schroeder-Printzen/Tadayon, Sozialgerichtsbarkeit H 12/02, 664 ff.). Unstrittig ist zwischen den Beteiligten, dass die Voraussetzungen zu 1. und 2. im Falle der Klägerin erfüllt sind. Die Feststellungen der Beweisaufnahme, dass die Klägerin sich bereits mit einem EDSS-Punktwert von 8,0 in einer lebensbedrohlichen Phase der Erkrankung befindet, mit einer ungünstigen Prognose, und dass zum Zeitpunkt der Antragstellung keine zugelassene Behandlungsalternative bestand sowie der Umstand, dass die IFN Betapräparate Betaferon (seit 1999) und Rebif (seit 2003) inzwischen zwar zugelassen sind, nach Prof. L, in dem Erkrankungsstadium der Klägerin bei einem hohen Behinderungsgrad nicht sicher empfohlen werden können, sind auch für die Kammer nachvollziehbar.
Die Voraussetzungen der vorgenannten Ziffer 3. sind jedoch nicht erfüllt. Hierbei ist entscheidungserheblich, dass die Klägerin nunmehr an einer sekundär chronisch-progredienten Verlaufsform erkrankt ist.
Sowohl in seinem Gutachten als auch in seinen schlüssigen Ausführungen im Termin der mündlichen Verhandlung hat der Sachverständige Prof. L die verschiedenen Verlaufsformen der Erkrankung (schubförmig rezidivierend-remitierende Verlaufsform, sekundär chronisch-progrediente Verlaufsform, primär chronisch-progrediente Verlaufsform) und deren Unterscheidungsmerkmale dargelegt. Bei der Klägerin ist aus der ursprünglich schubförmig verlaufenden Verlaufsform nunmehr eine sekundär chronisch-progrediente entstanden, was erhebliche Auswirkungen auf die Therapie und die hier zu entscheidende Fragestellung hat.
Bei der schubförmigen Verlaufsform, welche durch akut entzündliche Veränderungen im Nervensystem während der Schübe gekennzeichnet ist, muss einerseits der entzündliche Prozess behandelt werden und andererseits sollen Schübe unterdrückt werden. Für diese Verlaufsform besteht nach Prof. S nunmehr Konsens, dass die Behandlung mit Immunglobulinen zu einem früheren Zeitpunkt als eine mögliche Behandlungsalternative anzusehen ist, wenn andere Therapieoptionen nicht zur Verfügung stehen oder kontraindiziert sind. Aufgrund der aktuellen Datenlage ist hier von einem Vorliegen auch der Tatbestandsvoraussetzung nach Ziffer 3. für einen zulässigen Off Label Use des vorgenannten BSG Urteils auszugehen. Hierfür sprechen die von Prof. L angeführten 4 Studien zur intravenösen Gabe von Immunglobulinen bei einem schubförmigen Verlauf. Diese Studien wurden auch von Prof. M in dem beigezogenen Gutachten vom 17. August 2004 angesprochen. Von weiteren 3 Studien mit unterschiedlicher Qualität ebenfalls den schubförmigen Verlauf betreffend ist in der Stellungnahme des P-Instituts vom 05. April 2005 die Rede. Es besteht Konsens darüber, dass bei Patienten, die unmittelbar nach Auftreten der ersten Erkrankungszeichen intravenös mit Immunglobulinen behandelt wurden, sowohl die Schübe verzögert als auch kernspintomografisch nachweisbare Veränderungen ebenfalls reduziert wurden. Diese Studien befassen sich jedoch nicht mit dem chronisch-progredienten Verlauf der Erkrankung, wie er jetzt bei der Klägerin vorliegt.
Auch die Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften bestätigen dies. Die deutschen Leitlinien der Jahre 2000 2002 sehen die intravenöse Immunglobulintherapie als eine mögliche Behandlungsalternative für den schubförmigen Verlauf, wenn andere Therapie-Optionen nicht zur Verfügung stehen. In den englischen Leitlinien spielt nach L die intravenöse Immunglobulintherapie keine Rolle. Die Leitlinien der USA sprechen ebenfalls nur von einer schlecht dokumentierten Alternative bei der schubförmigen Verlaufsform.
Entsprechende positive klinisch kontrollierte Studien der Phase III liegen nach Prof. S jedoch leider für die sekundär chronisch-progrediente Verlaufsform nicht vor. Auch die Leitlinien lassen keine Rückschlüsse auf einen Erkenntnisstand außerhalb des Zulassungsverfahrens, der von einem Konsens zum Einsatz der intravenösen Immunglobulintherapie bei dieser Verlaufsform ausgeht.
Zuzugeben ist der Klägerseite, dass es auch Mischformen in diesen Verlaufsformen gibt. Auch der Sachverständige Prof. L hat eingeräumt, dass sich bei der sekundär chronisch-progredienten Verlaufsform Schübe aufpfropfen können und dass es nicht auszuschließen ist, dass es aus der großen Gruppe von Patienten mit sekundär chronisch-progrediente der Multiple Sklerose Patienten gibt, die von Immunglobulinen profitieren. Allerdings nach L konnte durch die bisher durchgeführten Studien diese Gruppe nicht identifiziert werden.
Wenngleich das Gericht die Stellungnahmen der behandelnden Ärzte und auch das Begehren der Klägerin nachvollziehen kann, konnte dem Klagebegehren nicht entsprochen werden. Wegen des grundsätzlichen Vorranges des Arzneimittelrechts muss ein Off Label Use zu Lasten der Krankenversicherung auf diejenigen Fälle beschränkt bleiben, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind (BSG, a. a. O.). Eine Ausdehnung über diese durch die Rechtsprechung des BSG eröffnete Möglichkeit eines In Verkehr Bringens eines Arzneimittels für eine andere als die zugelassene Indikation durch die genannten Kriterien für einen zulässigen Off Label Use ist zur Überzeugung des Senats nicht möglich.
Gegen dieses dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 10. November 2005 zugestellte Urteil richtet sich dessen Berufung vom 08. Dezember 2005, zu deren Begründung im Wesentlichen vorgetragen wurde, bei der Klägerin läge im Gegensatz zur Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. L die schubförmige Verlaufsform der Multiplen Sklerose vor, so dass auch nach seinem Gutachten die Immunglobulintherapie indiziert sei.
Die Klägerin beantragt,
1. das am 28. Oktober 2005 verkündete Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder), Geschäftszeichen: S 4 KR 62/02, sowie den Bescheid der Beklagten vom 05. November 2001 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 07. März 2002 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Behandlung der MS mit einer IVIG Immunglobulintherapie zu ermöglichen und diese zu bezahlen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und durch die weiteren Ermittlungen des Senats für bestätigt.
Der Senat hat Behandlungsunterlagen vom J Krankenhaus B und der Landesklinik E vom Januar 2005 und Mai 2005 beigezogen. Im J Krankenhaus wurde eine schubförmige Multiple Sklerose diagnostiziert, in der Landesklinik E eine Multiple Sklerose mit sekundär chronisch-progredientem Verlauf. Der Senat hat sodann diese Unterlagen dem Sachverständigen Prof. Dr. L zur Stellungnahme zugeleitet.
In der Stellungnahme vom 25. Juli 2006 legt der Sachverständige dar, die im Arztbrief des J Krankenhauses zum stationären Aufenthalt vom 04. Februar 2005 bis zum 08. Februar 2005 angegebene Diagnose einer schubförmigen Verlaufsform der Multiplen Slerose sei falsch. Diese Diagnose stünde im Widerspruch zu den Arztbriefen vom 02. Mai 2003 des H Klinikums B und der Landesklinik E vom 28. Juni 2005 sowie von früheren Stellungnahmen der behandelnden Ärztin Prof. Dr. H selbst, in denen diese korrekt als Diagnose die sekundär chronisch-progrediente Verlaufsform einer Multiplen Sklerose angegeben habe. Dementsprechend seien auch weder während des stationären Aufenthaltes im H Klinikum B noch während der stationären Aufnahme in der Landesklinik Eberswalde die Indikation für die Gabe von Immunglobulinen gestellt worden. Dass auch im Rahmen der sekundär chronisch-progredienten Verlaufsform der Multiplen Sklerose akute Schübe auftreten können, für deren Behandlung die hoch dosierte Gabe von Corticosteroiden etabliert sei, habe er bereits dargelegt. Wissenschaftlich basierte Hinweise für eine Wirksamkeit von Immunglobulinen in dieser Situation lägen nicht vor.
Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Berichterstatters ohne mündliche Verhandlung über die Berufung erklärt.
Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang der Beklagten () verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg. Diese hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Immunglobulinen zur Behandlung ihrer Multiplen Sklerose zu Lasten der Beklagten. Dies hat das Sozialgericht im angefochtenen Urteil unter Darlegung der nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung für den geltend gemachten Anspruch maßgeblichen Voraussetzungen unter nicht zu beanstandender Würdigung des Beweisergebnisses des erstinstanzlichen Verfahrens zutreffend dargelegt. Der Senat nimmt daher zur Vermeidung bloßer Wiederholungen insgesamt auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz SGG ).
Die Ermittlungen des Senats im Berufungsverfahren haben nicht zu einem anderen für die Klägerin günstigeren Ergebnis geführt, sondern im Gegenteil die Auffassung des Sozialgerichts erneut bestätigt. Insbesondere rechtfertigt auch die Berufungsbegründung keine der Klägerin günstigere Beurteilung. Wenn in der Berufungsbegründung dargelegt wird, bei der Klägerin sei unzweifelhaft eine schubförmige multiple Diagnose festgestellt worden und dies sei insbesondere auch im Krankenhaus E diagnostiziert und behandelt worden, so ist dies schlicht unzutreffend. Der Sachverständige Prof. Ludwig hat den beigezogenen Unterlagen dieser Krankenhäuser zutreffend entnommen, dass lediglich einmal im J Krankenhaus durch die behandelnde Ärztin Prof. Dr. H eine schubförmige Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, dass jedoch im Krankenhaus E ebenso wie im H Klinikum B als auch von Prof. Dr. H selbst zuvor ein sekundär chronisch progredienter Verlauf beschrieben wurde. Prof. Dr. L legt dann überzeugend dar, dass bei der Klägerin tatsächlich keine schubförmige Krankheitsform vorliege und dass das Auftreten einzelner Schübe nicht bedeute, dass insgesamt die schubförmige Form der Multiplen Sklerose vorliege. Der Senat hat keine Veranlassung, an diesen wissenschaftlich begründeten Darlegungen des Sachverständigen aufgrund der Darlegungen des nicht medizinisch ausgebildeten Prozessbevollmächtigten der Klägerin zu zweifeln. Vielmehr sind die Darlegungen des Prof. Dr. L in sich schlüssig und wissenschaftlich fundiert. Somit steht zur Überzeugung des Senats fest, dass bei der Klägerin derzeit keine schubförmige MS Erkrankung vorliegt und die Feststellungen des Sozialgerichts daher Gültigkeit behalten.
Infolgedessen war die Berufung der Klägerin mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Für die Zulassung der Revision war keiner der in § 160 Abs. 2 SGG dargelegten Gründe ersichtlich.
Rechtskraft
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