L 9 B 261/06 KR ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 9 KR 94/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 B 261/06 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 30. Mai 2006 aufgehoben. Es wird im Wege der einstweiligen Anordnung festgestellt, dass die mit Schreiben vom 12. Mai 2006 ausgesprochene fristlose Kündigung des Vertrages gemäß §§ 132 und 132 a Abs. 2 SGB V über die einheitliche Versorgung mit Häuslicher Krankenpflege sowie zur Erbringung von Leistungen nach §§ 198 und 199 RVO (Häusliche Pflege bzw. Haushaltshilfe) vom 31. Januar 2005 unwirksam ist. Die Antragsgegnerinnen zu 1) bis 6) tragen die Kosten des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens für beide Instanzen. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 30. Mai 2006 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig und begründet.

Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antrag der Antragstellerin abgelehnt, im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, dass die mit Schreiben vom 12. Mai 2006 ausgesprochene fristlose Kündigung des im Tenor näher bezeichneten Vertrages (Versorgungsvertrag) unwirksam ist. Denn dieser Antrag, der bei am Rechtsschutzziel orientierter Auslegung des – mit der Beschwerdeschrift korrespondierenden – Antragsschriftsatzes gegen die Verbände der Krankenkassen im Land Brandenburg als Vertragspartner der Antragstellerin gerichtet ist und den von der Antragstellerin ergänzend gestellten Leistungsantrag auf Verurteilung der Antragsgegnerinnen zur – vorläufigen – Fortsetzung des Vertragsverhältnisses über den 16. Mai 2006 hinaus mit umfasst, ist zulässig und begründet.

Wie das Sozialgericht im Rahmen seiner Zulässigkeitsprüfung zutreffend ausgeführt hat, richtet sich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei der hier gegebenen Fallkonstellation nicht nach § 86 b Abs. 1 SGG, sondern nach § 86 b Abs. 2 SGG. Denn im Unterschied zur Kündigung eines Versorgungsvertrages über die Erbringung von Pflegesachleistungen gemäß § 74 Abs. 3 des Elften Buches des Sozialgesetzbuches ist die hier in Rede stehende Kündigung trotz der ihr am Ende angefügten Rechtsbehelfsbelehrung nicht als Verwaltungsakt, sondern als öffentlich-rechtliche Willenserklärung zu qualifizieren, weil es sich bei dem Versorgungsvertrag, um dessen fristlose Kündigung es geht, um einen öffentlich-koordinationsrechtlichen Vertrag zwischen gleichgestellten Rechtssubjekten im Sinne der §§ 53 ff. des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) handelt (vgl. BSG SozR 3 – 2500 § 132 a Nr. 4 sowie BSG SozR 3 – 3300 § 77 Nr. 2). Diese Willenserklärung ist, will der Erbringer von Leistungen der häuslichen Krankenpflege (Pflegedienst) die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses erreichen, in der Hauptsache mit der Feststellungsklage zu bekämpfen (vgl. BSG SozR 3 – 3300 § 77 Nr. 2). Dies schlägt auf das vorläufige Rechtsschutzverfahren durch.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist der zulässige Feststellungsantrag auch begründet. Denn die Antragstellerin hat für ihr mit diesem Antrag verfolgtes Begehren sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht.

Nach der im hiesigen Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung erweist sich die mit Schreiben vom 12. Mai 2006 ausgesprochene, der Antragstellerin am 16. Mai 2006 zugegangene, fristlose Kündigung des Versorgungsvertrages als unwirksam. Rechtsgrundlage für sie sind die §§ 35, 36 des Versorgungsvertrages in Ver-bindung mit § 59 SGB X. Hiernach kann das Vertragsverhältnis schriftlich unter Angabe von Gründen von den vertragsschließenden Verbänden der Krankenkassen im Land Brandenburg – nach grundsätzlich durchgeführtem Anhörungsverfahren (vgl. § 35 des Versorgungsvertrages) – ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn der Pflegedienst seine ge-setzlichen oder vertraglichen Pflichten gegenüber den Versicherten oder den Krankenkassen derart gröblich verletzt, dass ein Festhalten an dem Versorgungsvertrag nicht zumutbar ist. Eine Pflichtverletzung im vorgenannten Sinne liegt u. a. vor bei schwerwiegenden pflegebe-dingten Qualitätsmängeln, deretwegen Versicherte zu Schaden kommen können (§ 36 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c des Versorgungsvertrages), bei wiederholt festgestellten Mängeln im Rahmen von Qualitätsprüfungen im Sinne des § 29 des Versorgungsvertrages (§ 36 Abs. 1 Satz 2 Buchst. d des Versorgungsvertrages) sowie dann, wenn der Pflegedienst einer Anhörung im Sinne des § 35 Abs. 2 des Versorgungsvertrages nicht innerhalb einer Frist von 3 Wochen nach Zugang des Anhörungsschreibens Folge leistet (§ 35 Abs. 2 Satz 3 des Versorgungsvertrages).

Den vorgenannten Bestimmungen wird die hier in Rede stehende fristlose Kündigung nicht gerecht. Hierbei bestehen bereits Zweifel daran, ob die Kündigung – wie nach § 36 Abs. 1 Satz 1 des Versorgungsvertrages erforderlich – von den im Rubrum als Antragsgegnerinnen zu 1) bis 6) aufgeführten Verbänden der Krankenkassen als Vertragspartner der Antragstellerin ausgesprochen worden ist. Denn die Kündigung ist zwar im Text des Kündigungsschreibens als solche der "Krankenkassen(-verbände)" bezeichnet worden, weist jedoch in ihrer Kopfzeile die – aus den Antragsgegnerinnen zu 1) bis 6) bestehende – "Arbeitsgemeinschaft der Krankenkas-sen im Land Brandenburg" (Arbeitsgemeinschaft) als Verfasserin sowie am Ende eine nicht eindeutig zuordenbare Unterschrift auf, ohne dass in dem Kündigungsschreiben selbst oder in sonstigen Schriftstücken klargestellt worden wäre, ob und inwieweit die Arbeitsgemeinschaft berechtigt gewesen sein könnte, die Kündigung für die Verbände der Krankenkassen im Land Brandenburg als Vertragspartner der Antragstellerin auszusprechen. Diese Zweifel, die sich auch anhand des sonstigen Akteninhalts nicht ausräumen lassen, können jedoch auf sich beruhen, weil sich die Kündigung bei summarischer Prüfung jedenfalls aus sonstigen Gründen als unwirksam erweist.

So fehlt es hier bereits an einer ordnungsgemäßen Anhörung im Sinne von § 35 Abs. 2 des Versorgungsvertrages, an die wegen des in § 35 Abs. 2 Satz 1, Halbsatz 2 des Versorgungsvertrages enthaltenen Hinweises auf die Anwendbarkeit von § 24 SGB X sowie vor allem wegen der in § 35 Abs. 2 Satz 2 des Versorgungsvertrages geregelten Verpflichtung des Pflegediens-tes, der Anhörung innerhalb einer Frist von 3 Wochen Folge zu leisten, und der für den Fall des Verstoßes gegen die vorgenannte Verpflichtung in § 35 Abs. 2 Satz 3 des Versorgungsvertrages vorgesehenen Möglichkeit zur fristlosen Kündigung des Versorgungsvertrages durch die Verbände der Krankenkassen im Land Brandenburg strenge Anforderungen zu stellen sind. Hiernach setzt eine ordnungsgemäße Anhörung im vorgenannten Sinne voraus, dass die Vertragspartner des Pflegedienstes, d. h. die Verbände der Krankenkassen im Land Brandenburg, dem Pflegedienst schriftlich nicht nur die beabsichtigte Maßnahme als solche, sondern alle entscheidungserheblichen Tatsachen, auf die die fristlose Kündigung gestützt werden soll, im Einzelnen nachvollziehbar darlegen, um den Pflegedienst in die Lage zu versetzen, sich hiermit sachgerecht auseinanderzusetzen. Abgesehen davon, dass das maßgebliche Anhörungsschreiben vom 7. März 2006 ebenso wie die Kündigung selbst von der hierzu möglicherweise nicht legitimierten Arbeitsgemeinschaft verfasst worden ist, lässt sich eine derartige Darlegung von Tatsachen hier nicht feststellen. Denn dieses Anhörungsschreiben erschöpft sich insoweit in dem Hinweis, dass die Maßnahmen aus den vorhergehenden Prüfungen laut Bericht des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) vom 11. Januar 2006 immer noch nicht adäquat umgesetzt seien. Dieser Hinweis reicht für eine ordnungsgemäße Anhörung nicht aus, weil damit keine nach Art, Zeit und Ort zuordenbaren Pflichtverlet-zungen aufgezeigt werden, zu denen die Antragstellerin konkret hätte Stellung nehmen können. Hierbei kann dahinstehen, ob in der Anhörung selbst die entscheidungserheblichen Tatsachen aufgeführt werden müssen oder ob insoweit der Verweis auf ein sonstiges Schriftstück genügt. Denn jedenfalls müssten sich dem in Bezug genommenen Schriftstück die maßgeblichen Tatsachen eindeutig entnehmen lassen. Dies ist hier nicht der Fall, weil der in der Anhörung vom 7. März 2006 in Bezug genommene Bericht des MDK auf insgesamt 20 Seiten (ohne Anlagen) nur sehr allgemein gehaltene Feststellungen enthält, die eine genaue Bezeichnung von Mängeln vermissen lassen und für den MDK im Ergebnis nur Anlass gewesen sind, (wohl) dem Pflegedienst in abstrakter Form insgesamt 13 qualitätssichernde Maßnahmen zu empfehlen.

Überdies erweist sich die fristlose Kündigung bei summarischer Prüfung aber auch deshalb als unwirksam, weil auch das Kündigungsschreiben selbst nicht in überprüfbarer Weise erkennen lässt, auf welche konkreten Tatsachen/Pflichtverletzungen die Kündigung gestützt worden ist. Denn dieses Schreiben enthält unter Bezugnahme auf die nachfolgend benannten Unterlagen nur eine abstrakte Zusammenfassung dessen, was der MDK in seinem oben bereits als nicht ausreichend qualifizierten Bericht vom 11. Januar 2006 sowie in seinen früheren Berichten vom 6. Oktober 2004 und 15. Juni 2005 ausgeführt hat, mit denen ebenfalls nur qualitätssichernde Maßnahmen empfohlen, aber keine konkreten Pflichtverletzungen aufgezeigt worden sind. Letzteres gilt im Übrigen auch für die von den Antragsgegnerinnen zu 1) bis 6) erst im Laufe des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens angeführten Auszüge aus drei so genannten Re-gelbegutachtungen des MDK aus dem Jahre 2005 sowie erst recht für den Vermerk über eine anonyme Anzeige aus dem Jahr 2004, weil auch sie keine im Einzelnen nachprüfbaren Tatsachen enthalten. Davon abgesehen hätten hieraus abzuleitende Pflichtverletzungen auch für die hier in Rede stehende Kündigung keine Relevanz, weil die Kündigung auf sie nicht gestützt worden ist.

Ob der Antragstellerin Pflichtverletzungen vorgeworfen werden können, die eine fristlose Kündigung des Versorgungsvertrages rechtfertigen könnten, ist durch das Gericht nicht zu prüfen. Denn dieses ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kündigungsausspruch unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. hierzu auch die von den Vertragsparteien in § 35 des Versorgungsvertrages getroffene Vereinbarung) im Ermessen der Verbände der Krankenkassen steht, nicht gehalten, den Fall von sich aus auf mögliche Kündigungsgründe zu untersuchen. Vielmehr ist es - grundsätzlich - auf die Überprüfung der geltend gemachten Kündigungsgründe beschränkt. Soweit etwas anderes ausnahmsweise nur dann gelten könnte, wenn ein Kündigungsgrund evident feststünde und sein Vorliegen eine Fortsetzung des Vertragsverhältnisses unter jedem denkbaren Gesichtspunkt ausgeschlossen erscheinen ließe, ist hierfür nach Lage der Akten kein Raum.

Schließlich erweist sich die mit Schreiben vom 12. Mai 2006 ausgesprochene fristlose Kündigung bei summarischer Prüfung auch insoweit als unwirksam, als sie auf (nach den obigen Ausführungen ohnehin nicht hinreichend dargelegte) Kündigungsgründe gestützt worden ist, die im Rahmen der Prüfung durch den MDK im September 2004 zu Tage getreten sein sollen. Denn mit der Geltendmachung dieser Kündigungsgründe sind die Verbände der Krankenkasen präkludiert, weil sie sich nur auf solche Kündigungsgründe berufen dürfen, die in der Zeit nach Abschluss des (nach Lage der Akten letzten) Versorgungsvertrages vom 31. Januar 2005 bekannt geworden sind. Schließen die Verbände der Krankenkassen in Kenntnis bestehender Kündigungsgründe einen neuen Versorgungsvertrag ab, kommt - abgesehen von Extremfällen - ein späterer Rückgriff auf diese Kündigungsgründe nicht mehr in Betracht, weil der Pflegedienst bei dieser Sachlage auf den Fortbestand des neu begründeten Vertragsverhältnisses vertrauen darf.

Anders als das Sozialgericht gemeint hat, besteht für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung im vorliegenden Fall im Lichte von Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes auch ein Anordnungsgrund, weil die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für die Antragstellerin zu unwiederbringlichen Nachteilen führen würde. Denn sie könnte das ihr bei summarischer Prüfung zustehende Recht auf Feststellung, dass die fristlose Kündigung unwirksam ist, wegen Zeitablaufs in einem eventuellen Hauptsacheverfahren nicht mehr effektiv durchsetzen. Darüber hinaus erscheint dem Senat nicht zweifelhaft, dass der Antragstellerin ohne die begehrte Feststellung auch in finanzieller Hinsicht wesentliche Nachteile drohen, die die Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz zur Folge haben können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 197 a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 52, 63 des Gerichtskostengesetzes. Hiernach war der Streitwert auf 7.500,00 EUR festzusetzen, was der Hälfte des Streitwerts der Hauptsache entspricht. Insoweit sind die aus dem Versorgungsvertrag erzielbaren Einnahmen für die Zeit vom 16. Mai 2006 (Zugang der fristlosen Kündigung) bis zum 31. Dezember 2006 (Eintritt der inneren Wirksam-keit der hilfsweise ausgesprochenen fristgemäßen Kündigung) zugrunde zu legen, die nach den Angaben der Antragstellerin 2.000,00 EUR monatlich betragen.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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