S 94 AS 7728/06 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
94
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 94 AS 7728/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 17. August 2006 wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz die Weiterzahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes.

Der 1971 geborene Antragsteller beantragte im Januar 2006 Arbeitslosengeld II, das der Antragsgegner mit Bescheid vom 20. Januar 2006 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 2. Juni 2006 und 8. Juni 2006 zunächst bis Juli 2006 gewährte.

Seit dem 17. Januar 2006 wohnt der Antragsteller im Übergangshaus G. Allee. Mit dem Träger, der G. Gesellschaft, schloss der Antragsteller am 18. Januar 2006 einen Nutzungs- und Betreuungsvertrag, auf dessen Inhalt (Blatt 14 ff. der Gerichtsakte) Bezug genommen wird. Das Bezirksamt M. übernahm Kosten gemäß §§ 67 ff. Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch. Die Unterkunftskosten in Höhe von 11,09 Euro täglich gewährte der Antragsgegner bis zum 31. August 2006. Seit März 2006 nimmt bzw. nahm der Antragsteller an einer vom Antragsgegner bewilligten MAE (Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung) teil.

Mit Bescheid vom 10. Juli 2006 bewilligte der Antragsgegner auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 1. August 2006 bis zum 31. Januar 2007 in Höhe von 315,- Euro monatlich (345,- abzüglich 30,- sonstiges Einkommen).

Mit Bescheid vom 17. August 2006 hob der Antragsgegner die Leistungsbewilligung ab dem 1. September 2006 auf wegen Wegfalls der Erwerbsfähigkeit. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Absatz 1, §§ 8, 9 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch und § 48 Absatz 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch in Verbindung mit § 40 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch und § 330 Absatz 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch. Hiergegen erhob der Antragsteller Widerspruch.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist am 29. August 2006 beim Sozialgericht Berlin eingegangen. Der Antragsteller macht geltend, er sei offensichtlich erwerbsfähig, da er ja einer MAE nachgehe. Diese Tätigkeit sei für ihn überaus wichtig, da sie ihm unter anderem durch die Tagesstrukturierung helfe, nicht rückfällig zu werden. Er sei drogenabhängig und seit ca. zwei Jahren clean. Durch den Verlust der Arbeit werde seine Reintegration in die Gesellschaft wesentlich erschwert, er verliere zudem die Möglichkeit der Schuldentilgung durch den Hinzuverdienst. Sein Aufenthalt im Übergangshaus sei auch nicht als stationär zu werten, das Übergangshaus übernehme nicht die Gesamtverantwortung für seine tägliche Lebensführung, er habe volle Entscheidungsmacht.

Der Antragsteller hat keinen ausdrücklichen Antrag formuliert.

Der Antragsgegner beantragt, den Antrag zurückzuweisen.

Er wendet ein, die vom Antragsteller ausgeübte geförderte Beschäftigung sei keine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes: Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II werde damit nicht begründet. Ab dem Inkrafttreten des SGB II- Fortentwicklungsgesetzes sei die Bewilligungsentscheidung rechtswidrig und mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die Leistungsakte des Antragsgegners verwiesen.

II.

Der Antrag hat Erfolg.

Statthaft ist vorliegend ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid.

Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz ist nur zulässig, soweit kein Fall des Absatzes 1 dieser Vorschrift vorliegt. Hier liegt indes ein Fall von § 86b Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz vor. Soweit der Antragsgegner durch Bescheid vom 17. August 2006 die Leistungsbewilligung wieder aufgehoben hat, entfaltet der Widerspruch hiergegen keine aufschiebende Wirkung nach § 86a Absatz 2 Nummer 4 Sozialgerichtsgesetz in Verbindung mit § 39 Sozialgesetzbuch Zweites Buch.

Der Antrag war hier daher sachgerecht auszulegen in einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom17. August 2006, § 86b Absatz 1 Nummer 2 Sozialgerichtsgesetz. Für das Begehren des Antragstellers auf Weiterzahlung der Regelleistung ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung notwendig und hinreichend. Die Leistungsbewilligung bis zum 31. Januar 2007 durch Bescheid vom 10. Juli 2006 wird dadurch wieder wirksam. Auch eine Umdeutung des Antrags in diesem Sinne wäre möglich (hierzu Keller, in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 86b, Randziffer 9b).

Der so verstandene Antrag ist zulässig und begründet.

Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung kommt in Betracht, wenn das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung das Vollzugsinteresse eines begünstigenden Dritten oder der Allgemeinheit überwiegt. Das Gericht überprüft dabei nicht nur die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung, es entscheidet hinsichtlich des "Wie" des einstweiligen Rechtsschutzes nach eigenem Ermessen auf der Grundlage einer Interessenabwägung (vergleiche Keller, in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 86b, Randziffer 12). Ein überwiegendes Aussetzungsinteresse ist insbesondere dann gegeben, wenn nach summarischer Prüfung der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist.

Der Bescheid des Antragsgegners vom 17. August 2006 ist nach summarischer Prüfung nicht rechtmäßig.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung der bereits bis zum 31. Januar 2007 bewilligten Leistung ist § 48 Absatz 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Nach den vom Antragsgegner im Bescheid vom 17. August 2006 angeführten Rechtsnormen ist die Aufhebung der Bewilligung nicht rechtens. Eine Änderung des § 7 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch ist durch das Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches und anderer Gesetze vom 24. März 2006 (Bundesgesetzblatt I, Seite 558 ff.) nur im Hinblick auf Ausländer getroffen worden. Die gesetzlichen Voraussetzungen des § 7 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch liegen in der Person des Antragstellers unverändert vor, insbesondere ist der Antragsteller auch als erwerbsfähig anzusehen. Nach § 8 Sozialgesetzbuch Zweites Buch ist nicht erwerbsfähig, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller hierzu (weiterhin) aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage wäre, bestehen nicht. Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist weder vorgetragen noch ersichtlich.

Eine wesentliche Änderung der Rechtslage ist vorliegend auch nicht durch die Neufassung des § 7 Absatz 4 Sozialgesetzbuch Zweites Buch durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (Bundesgesetzblatt I, S. 1706 ff) eingetreten.

§ 7 Absatz 4 in der ab 1. August 2006 geltenden Fassung bestimmt: Leistungen nach diesem Buch nicht erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch, 1. wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder 2. wer in einer stationären Einrichtung untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.

Der Aufenthalt des Klägers im Übergangshaus stellt zur Überzeugung der Kammer keine stationäre Unterbringung in Sinne dieser Vorschrift dar. Eine Legaldefinition des Begriffs der stationären Einrichtung enthält das Zweite Buch des Sozialgesetzbuches nicht. Die Auslegung des Begriffs hat sich am Sinn und Zweck der Regelungen des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches zu orientieren. Ausgehend vom zentralen Kriterium der Erwerbsfähigkeit liegt danach stationäre Unterbringung nur vor, wenn aufgrund des Charakters, der Art, Struktur und Verfasstheit der Einrichtung von dieser aus einer Erwerbstätigkeit nicht nachgegangen werden kann (siehe hierzu der Aufsatz von Prof. Münder "Stationäre Einrichtungen im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II", veröffentlicht unter www.diakonie-portal.de). Selbst diese gesetzliche Vermutung ist widerlegbar, § 7 Absatz 4 Satz 2 Nummer 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch, wenn tatsächlich eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich ausgeübt wird.

Es erscheint hier zumindest zweifelhaft, ob das Übergangswohnheim eine stationäre Einrichtung im vorgenannten Sinne ist. Bei der gebotenen Einzelfallprüfung ist der Aufenthalt des Antragstellers dort jedenfalls nicht als stationärer Aufenthalt zu qualifizieren. Der Antragsteller hält sich auf eigenen Wunsch im Übergangswohnheim auf, nicht infolge Anweisung oder Einweisung Dritter. Mit der G. Gesellschaft schloss er einen Nutzungs- und Betreuungsvertrag, der jederzeit einseitig auflösbar ist. Der Antragsteller erfährt auf dessen Grundlage Anleitung, Unterstützung und Hilfestellung durch die G. Gesellschaft, um seine sozialen Schwierigkeiten zu überwinden und die eigenständige Selbstversorgung zu gewährleisten.

Hier sind keine Umstände vorgetragen oder ersichtlich, dass der Antragsteller zur Selbstversorgung in einem die Erwerbsfähigkeit ausschließenden Umfang nicht in der Lage wäre. Insbesondere dadurch, dass der Antragsteller seit März 2006 regelmäßig einer Beschäftigung im Rahmen einer MAE - außerhalb des Übergangswohnheims – nachging, belegt, dass er in seinem Tagesablauf nicht räumlich oder zeitlich derart fremdbestimmt ist, dass er Vermittlungsbemühungen des Antragsgegners nicht zur Verfügung steht bzw. stehen kann. Es kommt insoweit auch nicht darauf an, ob der Antragsteller tatsächlich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig ist.

Im Übrigen lässt sich auch aus der Arbeitsanweisung des Antragsgegners die Aufhebung der Leistungsgewährung hier nicht begründen. Kein Leistungsausschluss liegt danach vor, wenn der Einrichtungsträger nicht die Gesamt-, sondern nur die Teilverantwortung für die tägliche Lebensführung übernommen und ein gewisses Maß an Selbständigkeit verlangt wird. Insoweit ist eine Einzelfallprüfung durchzuführen (7.36). Eine solche Einzelfallprüfung hat der Antragsgegner hier nicht vorgenommen. Dafür, dass der Antragsteller jedenfalls in Teilbereichen selbstverantwortlich handelt, spricht nicht nur die Ausübung der MAE, sondern beispielsweise auch der Antrag auf Kostenübernahme zur Beschaffung von Hausratsgegenständen um die Selbstversorgung des Antragstellers im Bereich der Ernährung und Reinigung zu ermöglichen.

Die Kostenentscheidung folgt aus der analogen Anwendung des § 193 Sozialgerichtsgesetz. Sie orientiert sich am Ausgang der Sachentscheidung.
Rechtskraft
Aus
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