S 19 SO 25/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
19
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 19 SO 25/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9b SO 15/06 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 21.07.2005 und 14.09.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2006 und unter entsprechender Abänderung der Bescheide vom 11.01.2005, 14.06.2005 und 23.06.2005 verurteilt, dem Kläger weitere Leistungen der Grundsicherung für die Zeit vom 01.12.2004 bis zum 30.06.2005 in Höhe von 1078,00 EUR zu zahlen.

Der Beklagte hat die Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Nachzahlung von Leistungen zur Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem Grundsicherungsgesetz (GSiG) bzw. dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII) vom 01.12.2004 bis zum 30.06.2005.

Der am 00.00.1961 geborene Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100 und dauerhaft erwerbsgemindert. Er lebt bei seiner Mutter, die zu seiner Betreuerin bestellt ist.

Mit Bescheiden vom 11.01.2005 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen zur Grundsicherung bei Erwerbsminderung für den Monat Dezember 2004 nach dem GSiG und für die Zeit vom 01.01.2005 bis auf weiteres nach dem SGB XII. Dabei rechnete der Beklagte das Kindergeld, das der Mutter des Klägers gezahlt wurde, in Höhe von 154,00 EUR monatlich als Einkommen des Klägers an. Mit Bescheid vom 14.06.2005 hob der Beklagte den Bewilligungsbescheid für die Zeit ab dem 01.07.2005 auf. Er bewilligte dem Kläger Leistungen zur Grundsicherung in Höhe von weiter 234,20 EUR. Hierbei rechnete er weiter das an die Mutter gezahlte Kindergeld als Einkommen des Klägers an. Einen gleichlautenden Bescheid erließ der Beklagte unter dem 23.06.2006.

Gegen den zuletzt Bescheid erhob der Kläger Widerspruch und verwies auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes aus dem April 2005, wonach Kindergeld nicht beim Kind als Einkommen anzurechnen sei.

Mit Bescheid vom 21.07.2005 hob der Beklagte die bisherigen Bewilligungsbescheide auf und berechnete ab August 2005 die Leistungen ohne Anrechnung des Kindergeldes neu. Eine Änderung für den Zeitraum bis zum 31.07.2005 lehnte er ab. Mit Bescheid vom 14.09.2005 stellte der Beklagte den Grundsicherungsanspruch auch für den Juli 2005 ohne Berücksichtigung des Kindergeldes als Einkommen des Klägers neu fest. Eine Aufhebung der Bescheide für den vorangegangenen Bewilligungszeitraum lehnte er weiter ab.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 23.09.2005 ebenfalls Widerspruch.

Diesen wies der Beklagte mit Bescheid vom 01.02.2006 zurück. Zur Begründung trug er vor, dass § 44 SGB X, der die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes auch für die Vergangenheit zulasse, nicht einschlägig sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes finde § 44 SGB X im Sozialhilferecht keine Anwendung.

Zur Begründung seine am 09.02.2006 erhobenen Klage trägt der Kläger vor, dass die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes zur Anwendbarkeit von § 44 SGB X im Sozialhilferecht auf das Recht der Grundsicherung nicht gelte. Vielmehr sei dem Bayerischen Verwaltungshof zu folgen, der im Recht der Grundsicherung § 44 SGB X für anwendbar halte.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 21.07.2005 und 14.09.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2006 und unter entsprechender Abänderung der Bescheide vom 11.01.2005, 14.06.2005 und 23.06.2005 weitere Leistungen der Grundsicherung für die Zeit vom 01.12.2004 bis zum 30.06.2005 in Höhe von monatlich 154,00 EUR zu zahlen.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung trägt er vor, dass die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes zur Nichtanwendbarkeit von § 44 im Sozialhilferecht auch im Recht der Grundsicherung Anwendung finde.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die der Kammer vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und beschweren den Kläger im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Beklagte hat zu Unrecht in der Zeit vom 01.12.2004 bis zum 30.06.2005 das an die Mutter des Klägers gezahlte Kindergeld als Einkommen des Klägers angerechnet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Nachzahlung der ihm deswegen zu Unrecht nicht gezahlten Leistungen zur Grundsicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von monatlich 154,00 EUR.

Der Anspruch ergibt sich aus § 44 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 4 Satz 1 SGB X. § 44 SGB X ist nicht nur für die Zeit ab dem 01.01.2005 anwendbar, sondern auch für die Zeit in der die Leistungen der Grundsicherung nach dem Grundsicherungsgesetz erbracht wurden (Dezember 2004). Dem steht steht § 1 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 SGB X nicht entgegen. Danach gelten für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden der Länder, der Gemeinden und Gemeindeverbände zur Ausführung von besonderen Teilen dieses Gesetzbuches, die nach Inkrafttreten der Vorschriften dieses Kapitels Bestandteil des Sozialgesetzbuches werden, die Vorschriften des SGB X nur, soweit diese besonderen Teile mit Zustimmung des Bundesrates die Vorschriften dieses Kapitels für anwendbar erklären. Eine entsprechende Bestimmung enthält das Grundsicherungsgesetz zwar nicht. Jedoch ist eine solche Regelung auch nicht erforderlich, weil es einer solchen nicht bedurfte. Das Sozialgericht Aachen hat dazu in seinem Urteil vom 06.07.2006 ausgeführt (Az. S 20 SO 34/06):

"Es bedurfte keiner solchen Regelung, weil das Grundsicherungsrecht kein besonderer Teil des Sozialgesetzbuchs ist, der nach In-Kraft-Treten des SGB X (am 01.01.1981) Bestandteil des Sozialgesetzbuches geworden ist. Die durch das GSiG geregelte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist eine besondere Form der Hilfe zum Lebensunterhalt und gehört zu den Leistungen der Sozialhilfe im weitem Sinne des § 9 Abs. 1 SGB I. Diese Vorschrift lautet: " Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert. Hierbei müssen Leistungsberechtigte nach ihren Kräften mitwirken." Dies trifft auf die GSi-Leistungen zu. Diese Leistungen waren deshalb wie die Übrigen in §§ 3-10 SGB I aufgeführten Sozialleistungen schon vor dem In-Kraft-Treten des SGB X, nämlich seit dem In-Kraft-Treten des SGB I am 01.01.1976, Bestandteil des Sozialgesetzbuches. Dies erschließt sich auch daraus, dass die GSi-Leistung zunächst als besondere Sozialhilfeleistung in das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) integriert werden sollte (vgl. Artikel 8 des Entwurfs eines Altersvermögensgesetz, BT-Drucksache 14/4595, S. 30). Da es hiergegen jedoch politische Widerstände gab, wurde die Leistung in einem besonderen Gesetz, dem GSiG, normiert (vgl. dazu den Bericht des Ausschusses für Arbeit- und Sozialordnung, BT-Drucksache 14/5150, S. 48-51). Seit dem 01.01.2005 ist die GSi-Leistung Bestandteil des SGB XII ("Sozialhilfe") in dessen Viertem Kapitel (§§ 41-46 SGB XII). § 8 Nr. 2 SGB XII bestimmt nunmehr ausdrücklich, dass die Sozialhilfe die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung umfasst. War und ist aber diese Leistung Bestandteil der Sozialhilfe, die schon bei In-Kraft-Treten des SGB X Bestandteil des Sozialgesetzbuches war, so galt und gilt das Erste Kapitel des SGB X für diese Leistungen auch ohne besondere Anwendungsbestimmung."

Diesen Ausführungen schließt sich die Kammer nach eigener Überzeugungsbildung an.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit entsprechend zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren nach der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X).

§ 44 SGB X findet entgegen der Auffassung des Beklagten auch im Recht der Grundsicherung Anwendung. Das Wesen der Grundsicherung schließt eine Anwendung von § 44 SGB X nicht aus. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht § 44 SGB X auf die Sozialhilfe nicht für anwendbar gehalten und dies mit der Eigenart der Sozialhilfe begründet (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.11.2003, Az.: 5 C 26/02). Bei der Sozialhilfe handele sich um eine Nothilfe, die gleichsam täglich neu regelungsbedürftig sei und deswegen einen gegenwärtigen Bedarf voraussetze. Daraus ergebe sich, dass für einen in der Vergangenheit bestandenen Bedarf der nicht mehr fortbesteht, rückwirkend kein Anspruch auf Sozialhilfe geltend gemacht werden könne.

Diese Rechtsprechung ist auf die Grundsicherung bei Erwerbsminderung nicht übertragbar. Denn bei dieser Leistungsform besteht die vom Bundesverwaltungsgericht als entscheidungserhebliche Eigenart der Sozialhilfe als eine ausschließlich auf die Gegenwart bezogene, gleichsam täglich neu regelungsbedürftige Hilfe nicht. Vielmehr ist die Grundsicherung zwar ebenfalls bedarfsorientiert. Sie ist jedoch nicht am Bedarfsdeckungsprinzip ausgerichtet, wonach nur der im Einzelfall notwendige Lebensunterhalt sichergestellt werden soll, sondern die Grundsicherung soll den grundlegenden Bedarf für den Lebensunterhalt sicherstellen. Es handelt sich bei der Grundsicherung um eine auf Dauer angelegte Sozialleistung, die in der Regel für einen Zeitraum von 12 Monaten bewilligt wird (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, § 6 Abs. 1 GSiG). Der Bescheid über die Bewilligung von Grundsicherung stellt einen Dauerverwaltungsakt dar (vgl. Grube-Wahrendorf, SGB XII, § 44 Rn. 1). Entsprechend muss, wenn sich nachträglich herausstellt, dass eine Grundsicherungsleistung zu Unrecht abgelehnt oder nicht erbracht worden ist, ein rechtswidriger Bescheid nach § 44 Abs. 1 SGB X zurückgenommen werden (so auch VGH München, Beschl. v. 13.04.2005 Az.: 12 ZB 05.262); SG Aachen, Urt v. 06.07.2006, Az. S 20 SO 34/06; SG Köln, Urt. v. 06.02.2006, Az.: S 10 SO 15/05). Für das Recht der Grundsicherung ergibt sich darüber hinaus auch unmittelbar aus § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII bzw. § 6 Satz 2 GSiG , dass hier der Gesetzgeber - anders als bei der Sozialhilfe - bei einer Änderung der Verhältnisse eine Leistungsanpassung rückwirkend für die Vergangenheit vorgesehen hat.

Bei Erlass der Bewilligungsbescheide hat der Beklagte das Recht auch unrichtig angewandt, denn der Beklagte hat das Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR im Monat zu Unrecht als Einkommen des Klägers angerechnet und die entsprechenden Bescheide sind mit Wirkung für die Vergangenheit abzuändern. Gemäß § 41 Abs. 2 i. V. m §§ 82 bis 84 XII (bzw. bis zum 31.12.2004 § 2 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 und 2 GSiG i. V. m. §§ 76 ff. BSHG) hat ein Behinderter Anspruch auf Grundsicherungsleistungen, wenn er seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen beschaffen kann. Bei dem an die Mutter des Klägers gezahlten Kindergeld handelt es sich jedoch nicht um Einkommen des Klägers. Denn das Kindergeld für volljährige Kinder ist Einkommen desjenigen, an den es ausgezahlt wird. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Kindergeld dem Kind gesondert zugewendet wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.04.2005, Az.: 5 C 28/04; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 02.04.2004, Az.: 12 B 1577/03). Eine gesonderte Zuwendung ist hier weder ersichtlich, noch wird sie vom Beklagten vorgetragen. Da die zu Unrecht für die Vergangenheit nicht erbrachten Sozialleistungen gemäß § 44 Abs. 4 SGB X für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme nachzuzahlen sind, hat der Kläger einen Anspruch für den von ihm geltend gemachten Zeitraum vom 01.12.2004 bis zum 30.06.2005.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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