L 3 RJ 38/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 10 (3) RJ 211/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 RJ 38/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 RJ 8/03 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.03.2001 wird geändert. Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 21. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Oktober 1998 verurteilt, die Zeit vom 01. Juli 1941 bis zum 31. Mai 1945 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Zeit von Juli 1941 bis Mai 1945 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen.

Der im ... 1924 geborene Kläger lebte als Pole jüdischen Glaubens bis Juni 1941 in D ..., Gebiet L ..., Ostgalizien, in der heutigen Ukraine. D ... gehörte bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges zur Republik Polen und war - nach dem geheimen Zusatzprotokoll zum "Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag" vom 28. September 1939 - bis Juni 1941 in sowjetischer Hand; am 01. November 1939 wurde das Gebiet in die Ukrainische Sowjetrepublik eingegliedert. Nach der deutschen Invasion der Sowjetunion am 22. Juni 1941 marschierten deutsche Truppen Ende Juni 1941 in D ... ein; am 01. August 1941 wurde die Stadt dem Generalgouvernement unterstellt.

Im Dezember 1989 beantragte der Kläger die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Er gab an, von Juli 1937 bis Juni 1941 in D ... als Zahntechniker beschäftigt gewesen zu sein. Ende Juni 1941 sei er vor den heranrücken den deutschen Truppen aus D ... über Nikopol, Rostow/Don, Zimovnik, Astrachan nach K ... am Kaspischen Meer geflohen.

In K ... habe er bis Juni 1945 in einer Baracke gelebt und verschiedene Gelegenheitsarbeiten verrichtet. Anschließend sei er nach Polen zurückgekehrt und 1948 nach Israel ausgewandert. Seit dem ist er israelischer Staatsbürger.

Nachdem der Kläger seine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis glaubhaft gemacht und freiwillige Beiträge nach dem deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommen nachentrichtet hatte, gewährte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 21. Oktober 1997 ab 01. Juli 1990 Altersruhegeld. Dabei berücksichtigte sie den Zeitraum vom 01. Juli 1939 bis zum 30. Juni 1941 als Beitragszeit. Gleichzeitig lehnte sie es ab, die Zeit vom 01. Juni 1941 bis zum 08. Mai 1945 als Ersatzzeit anzuerkennen, "weil die für die Feststellung rechtserheblichen Tatsachen nicht glaubhaft gemacht worden" seien.

Nachdem der Kläger dagegen am 11. November 1997 Widerspruch erhoben hatte, erläuterte die Beklagte ihre Entscheidung mit Schreiben vom 03. Juni 1998: Der Kläger sei kein Verfolgter i.S.d. § 1 Abs. 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG), weil er keinen konkreten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen sei. Nach eigenen Angaben sei er vor den heranrückenden deutschen Truppen aus Verfolgungsfurcht in das Innere Russlands geflohen. Für Schäden, die bei oder infolge dieser Flucht entstanden seien, bestehe nach dem BEG keine Entschädigungsberechtigung. Eine Ersatzzeit könne deshalb nicht angerechnet werden. Unter Bezugnahme auf diese Begründung wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 1998 zurück.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 28. Oktober 1998 vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf Klage erhoben und ergänzend ausgeführt, in K ... für seine Arbeit kein Gehalt, sondern nur Lebensmittel und Unterkunft erhalten zu haben. Aufgrund der schlechten Ernährungslage habe er alle Zähne verloren. Außerdem hat der Kläger eine schriftliche Zeugenerklärung des W ... R ... aus P ... T ... in Israel vom 26. April 1999 vorgelegt, auf die Bezug genommen wird (Bl. 10 der Gerichtsakte).

Die Beklagte hat während des Klageverfahrens vom Bayerischen Landesentschädigungsamt eine gutachterliche Stellungnahme zu der Frage eingeholt, ob der Kläger zum Personenkreis des § 1 BEG gehören würde, wenn er seinen Entschädigungsantrag rechtzeitig gestellt hätte. Auf den Inhalt dieser Stellungnahme vom 21. Oktober 1999 (Bl. 23 bis 25 der Gerichtsakte) wird verwiesen.

Mit Urteil vom 30. März 2001 hat das SG die Klage abgewiesen: Der Kläger könne nicht als Verfolgter anerkannt werden, weil er den sowjetischen Machtbereich bei seiner Flucht nicht verlassen habe.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) sei derjenige, der aus Verfolgungsfurcht vor den heranrückenden deutschen Truppen geflohen, jedoch in dem Staat geblieben sei, in dessen Machtbereich er schon bisher gelebt habe, für Schäden nicht entschädigungsberechtigt, die bei oder infolge der Flucht außerhalb des deutschen Einflussgebietes entstanden seien. Denn im Vergleich zu anderen, nicht verfolgten Flüchtlingen aus Ostpolen fehle eine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass die Gefahren der Flucht für die Juden erheblich größer gewesen seien. Eine Anerkennung der geltend gemachten Ersatzzeit scheide daher aus.

Nach Zustellung am 04. Mai 2001 hat der Kläger am 08. Mai 2001 Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, dass die jüdischen Flüchtlinge nicht lediglich Teil fliehender Bevölkerungsmassen gewesen seien, die das Schicksal der Flucht ins Landesinnere aus Furcht vor dem unmittelbaren Kriegsgeschehen und dem fremden Besatzungsregime gemeinsam auf sich genommen hätten. Denn nach dem Einmarsch der deutschen Truppen seien überwiegend Juden, nicht aber größere Teile der ukrainischen Bevölkerung in das Innere der Sowjetunion geflohen.

Der Kläger, der im Termin weder erschienen ist noch vertreten war, beantragt schriftsätzlich sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30. März 2001 zu ändern und die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheids vom 21. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Oktober 1998 zu verurteilen, die Zeit vom 01. Juli 1941 bis zum 31. Mai 1945 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich in ihrer Berufungserwiderung im Wesentlichen auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung und meint, dass das Urteil des erkennenden Senats vom 09. Juli 2001 in der Streitsache L 3 RJ 116/00 nicht einschlägig sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte (Versicherungsnummer: ...) verwiesen. Beide Akten sowie die Entschädigungsakte des Bayerischen Landesentschädigungsamtes in München (Az.: BEG ...) waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Obwohl der Kläger weder im Termin anwesend noch durch seinen Bevollmächtigten vertreten war, konnte der Senat verhandeln und entscheiden, weil der Klägerbevollmächtigte auf diese Möglichkeit in der Ladung hingewiesen worden ist (§§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1 Satz 2, 126 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)).

Die Berufung ist begründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Denn der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG), weil sie rechtswidrig sind, soweit sie ihm die Anrechnung der Zeit vom 01. Juli 1941 bis zum 31. Mai 1945 als Ersatzzeit versagen.

Grundlage der Entscheidung sind die rentenversicherungsrechtlichen Vorschriften des Vierten Buches der Reichsversicherungsordnung (RVO), obwohl sie durch Art. 7 Nr. 24 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992 - RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl. I S. 2261) mit Wirkung vom 01. Januar 1992 (vgl. Art. 85 Abs. 1 RRG 1992) aufgehoben worden sind. Denn der Rentenantrag ist bereits im Dezember 1989 gestellt worden und bezieht sich auf Zeiten vor dem 01. Januar 1992 (§ 300 Abs. 2 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) in der Fassung des Art. 1 des RRG 1992; Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 23. April 1992, Az.: 13 RJ 5/91).

Nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO sind Ersatzzeiten u. A. Zeiten eines Auslandsaufenthaltes bis zum 31. Dezember 1949, sofern der Auslandsaufenthalt durch Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des BEG hervorgerufen worden ist oder infolge solcher Maßnahmen angedauert hat, wenn der Versicherte Verfolgter im Sinne des § 1 BEG ist. Zudem muss eine Versicherung vorher bestanden und während der Ersatzzeit darf keine Versicherungspflicht bestanden haben (§ 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO). Sämtliche Voraussetzungen liegen vor.

Der Kläger ist Verfolgter i.S.v. § 1 BEG, d.h. Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Dazu gehören u.A. Personen, die aus Gründen der Rasse oder des Glaubens durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden sind und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in ihrem beruflichen oder wirtschaftlichen Fortkommen erlitten haben (§ 1 Abs. 1 BEG).

Der Kläger zählte zum Personenkreis der rassisch und religiös Verfolgten, weil er als Jude nach nationalsozialistischer Auffassung zu einer bestimmten Rasse gehörte, die ausgemerzt werden sollte (vgl. BSG, Urteil vom 23. Mai 1995, Az.: 13 RJ 67/91, SozR 3-2200 § 1251 Nr. 7; Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (LSG NW) vom 09. April 2002, Az.: L 18 (3) RJ 246/99). Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger aufgrund der Flucht in das Innere der Sowjetunion Schäden an Rechtsgütern des § 1 Abs. 1 BEG erlitten hat. Unstreitig und glaubhaft ist zunächst, dass der Kläger Ende Juni 1941 aus D ... vor den heranrückenden deutschen Truppen aus Furcht vor "antijüdischen Ausschreitungen und den Gräueltaten ... der Nazis" nach K ... am Kaspischen Meer geflohen ist. Hierfür sprechen seine eigenen widerspruchsfreien Angaben im Entschädigungs-, Verwaltungs- und Klageverfahren sowie die schriftliche Zeugenerklärung des W ... R ... vom 26. April 1999. Der Senat hat mit Blick auf den Lebenslauf des Klägers keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln. Denn der Kläger hat bis Juni 1941 in D ... gelebt und gearbeitet. Ein anderer Grund, als der, der nationalsozialistischen Verfolgung zu entgehen, ist für das Verlassen dieser Stadt nicht ersichtlich. Hierfür spricht auch der enge zeitliche Zusammenhang seiner Flucht mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in D ... und der einsetzenden Judenverfolgung Ende Juni 1941.

Da die deutschen Truppen im Juni 1941 rasch vorstießen, blieb dem Kläger wenig Zeit, seine Flucht vorzubereiten. Es entspricht allgemeiner Lebenserfahrung, dass er Eigentum in D ... zurücklassen und sonstige Einbußen an seinem Vermögen hinnehmen musste (Urteil des Senats vom 09. Juli 2001 - Az.: L 3 RJ 116/00, NZS 2001, 603). Außerdem hält der Senat es für erwiesen, dass der Kläger aufgrund der Flucht Schäden an seinem beruflichen Fortkommen erlitten hat, weil er seine Tätigkeit als Zahntechniker(gehilfe) Ende Juni 1941 sofort aufgeben musste und in der anschließenden Zeit keine adäquate Beschäftigung ausüben konnte.

Die Verfolgteneigenschaft scheitert keinesfalls daran, dass sich der Kläger der Judenverfolgung, die in D ... nach den Angaben in der "Enzyklopädie des Holocaust" bereits Ende Juni 1941 einsetzte, zuvor durch Flucht in das Innere der Sowjetunion entzogen hatte, und deshalb kein unmittelbares Opfer konkreter nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen geworden ist. Denn nach der Rechtsprechung des BGH und ihm folgend des BSG ist der Begriff der konkreten Verfolgung nicht auf unmittelbare Eingriffe in die Lebenssituation des Verfolgten beschränkt, sondern auch erfüllt, wenn eine allgemeine Verfolgungsgefahr bestand, die bei verständiger Würdigung erwarten ließ, dass der Einzelne in absehbarer Zeit von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen betroffen sein werde und er sich dieser Gefahr durch Auswanderung oder auf andere Weise entzog. Insbesondere bei den Gruppenverfolgten - wie den Juden - liegt danach eine konkrete Verfolgung vor, wenn Gruppenverfolgte die Gefahr eines gewaltsamen Zugriffs mit gutem Grund als gegenwärtig ansehen durften und sich ihr durch Flucht entzogen haben (BGH, Urteil vom 03. Juli 1975, Az.: IX ZR 14/75, RzW 1975, 265; BSG Urteil vom 04. April 1979, Az.: 12 RK 7/78, SozR 5070 § 9 Nr. 3 und Urteil vom 09. August 1995, Az.: 13 RJ 25/94, SozR 3-5070 § 20 Nr. 6; Senatsurteil, a.a.O.). Der Kläger war Gruppenverfolgter im Sinne dieser Ausführungen. Zum Zeitpunkt seiner Flucht aus D ... Ende Juni 1941 stand die Gefahr einer solchen Verfolgung auch unmittelbar bevor, denn D ... wurde bereits wenige Tage nach dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) von der rasch vorstoßenden 17. Armee der Deutschen Wehrmacht am 30. Juni 1941 eingenommen (Enzyklopädie des Holocaust; Kindler/Hilgemann, dtv-Atlas zur Weltgeschichte, Band 2, 2. Aufl. 1985, S. 206; Young, Der große Atlas zum II. Weltkrieg, 1980, Köln, Seite 87).

Der Verfolgteneigenschaft des Klägers steht auch nicht entgegen, dass er aus seiner Heimat, die bereits am 01. November 1939 in die Ukrainische Sowjetrepublik der UdSSR eingegliedert worden war (Der große Ploetz, 32. Aufl. 1998, Seite 755), in das Innere der Sowjetunion geflohen ist und damit in dem Staat blieb, in dessen Machtbereich er schon seit 1939 lebte. Die anders lautende gefestigte Rechtsprechung des BGH zum BEG (Urteil vom 04. April 1974, Az.: IX ZR 158/72, RzW 1974, 204 und vom 24. März 1977, Az.: IX ZR 144/75, RzW 1977 168, 169), der sich das Sozialgericht angeschlossen hat, kann nicht ohne weiteres auf das Sozialversicherungsrecht übertragen werden:

Der Rechtsprechung des BGH liegt der Gedanke zugrunde, dass jüdische Flüchtlinge, die im eigenen Land vor den herannahenden deutschen Truppen flohen, ein Teil fliehender Bevölkerungsmassen waren, die das gemeinsame ungewisse Schicksal der Flucht in das Landesinnere aus Furcht vor dem unmittelbaren Kriegsgeschehen und dem fremden Besatzungsregime auf sich nahmen. Die Verfolgung möge als maßgeblicher oder zusätzlicher Beweggrund für das Ausweichen in das Innere des Landes feststellbar sein, sie allein rechtfertige es nicht, die Teilnahme am weithin verbreiteten Schicksal der übrigen zivilen Bevölkerung als entschädigungsrechtlich bedeutsam anzusehen (BGH, RzW 1977, 168, 169).

Diese Auffassung verkennt, dass das Schicksal der osteuropäischen Juden ein gänzlich anderes gewesen ist als das der übrigen Zivilbevölkerung. Den Juden, und nur ihnen, drohte bei Verbleiben im deutschen Einflussbereich der nahezu sichere Tod. Die Juden waren nicht Opfer eines allgemeinen Kriegsschicksals, sondern sie waren - einschließlich Frauen, Alten und Kindern - systematisch staatlich organisierten Massenmorden ausgesetzt (Senatsurteil, NZS 2001, 603). Hieran beteiligten sich in weiten Teilen Europas nicht nur das deutsche Besatzungsregime, sondern auch weite Teile der einheimischen Bevölkerung, deren latenter Antisemitismus durch den Einmarsch der Deutschen entfesselt wurde (vgl. BSG SozR 3-5070 § 20 Nr. 6).

Juden waren damit zur Rettung ihres Lebens unmittelbar und alternativlos gezwungen, Besitz, Eigentum und Beruf aufzugeben und in das Innere der Sowjetunion zu fliehen, gleichgültig wer dort herrschte und welches Schicksal sie dort erwartete. Einem derartigen Zwang unterlag die übrige, nicht speziell von den Nationalsozialisten verfolgte Zivilbevölkerung nicht. Sie hatte die Wahl, ob sie sich dem Kriegsgeschehen und der deutschen Herrschaft aussetzte, oder ob sie es vorzog, in die von Stalin beherrschte Sowjetunion zu fliehen. Wenn einige Bevölkerungsteile ebenso wie die Juden es vorzogen, zu fliehen, kann dies daran, dass die Juden in jedem Fall Verfolgte des nationalsozialistischen Unrechtsregimes waren, nichts ändern (Senatsurteil, NZS 2001, 603).

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass sich aus den Kampfhandlungen und den Umständen eines Besatzungsregimes auch für die übrige Bevölkerung Härten ergaben und auf die Bedürfnisse der Bevölkerung "kaum Rücksicht genommen" wurde (so BGH, RzW 1977, 168, 169.). Diese Gefahrenlage ist nämlich mit der, in der sich die Juden befanden, überhaupt nicht vergleichbar (Senatsurteil, NZS 2001, 603). Die Flucht entstand vielmehr aus einer Gefahrenlage heraus, die für Juden durch die nationalsozialistische Judenverfolgung gegenüber den nichtverfolgten Bevölkerungsgruppen unvergleichlich erhöht war (i.S.v. BGH, RzW 1977, 168, 169).

Die Prämisse des BGH ist jedenfalls für § 1251 Abs. 1 Nr. 4 SGB RVO auch deshalb nicht anzuwenden, weil bei der Anwendung der RVO für die Zurechnung eines Schadens zu einer Ursache (hier: Flucht zur nationalsozialistischen Judenverfolgung) die Kausalitätslehre der wesentlichen Ursache gilt. Diese Kausalitätslehre ist für alle sozialrechtlichen Ansprüche anzuwenden. Als Ursache im Rechtssinne gelten hiernach unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes die Bedingungen, die wegen ihrer besonders engen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Haben mehrere Ursachen an der Entstehung des Schadens mitgewirkt, ist vergleichend zu bewerten, welche von ihnen gleichwertig und welche wegen ihrer geringen Wirkung für den eingetretenen Schaden derart unbedeutend sind, dass sie praktisch außer Betracht bleiben müssen. Entscheidendes Kriterium für die Beurteilung der rechtlichen Wesentlichkeit ist der Schutzzweck des Gesetzes (BSG, Urteil vom 19. August 1996, Az.: 4 RA 85/95; Senatsurteil, NZS 2001, 603; allgemein zur sozialrechtlichen Kausalitätslehre Erlenkämper/Fichte, Lehrbuch zum Sozialrecht, 4. Aufl. 1999, II 2.2, S. 74 f. m.w. Nw.).

Durch § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO soll ein sozialrechtlicher Schaden ausgeglichen werden, der rechtlich wesentlich durch nationalsozialistische Verfolgungen entstand. Selbst wenn auch allgemeine Kriegsereignisse Grund für die Flucht in das Innere der Sowjetunion waren, so ist doch angesichts des oben geschilderten spezifisch jüdischen Schicksals die Tatsache, dass der Kläger Jude war, mindestens gleichwertig - wenn nicht sogar überwiegend - der Grund für die Flucht neben dem allgemeinen Kriegsschicksal, so dass das Schicksal des Klägers der nationalsozialistischen Verfolgung zugerechnet werden muss (Senatsurteil, NZS 2001, 603).

Der Anwendung der sozialrechtlichen Kausalitätstheorie steht auch nicht entgegen, dass der Begriff des Verfolgten im Sinne von § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO mit dem Begriff des Verfolgten im Sinne des BEG identisch ist. Denn es handelt sich auch beim BEG um ein Gesetz, das aufgrund von Tatbeständen, für die sich die öffentliche Hand einstandspflichtig erklärt hat, subjektiv öffentliche Rechte auf Leistungen begründet, so dass es jedenfalls bei der Beurteilung von Zurechnungsfragen auch bei Anwendung des BEG geboten ist, die Theorie der rechtlich wesentlichen Ursache zugrunde zu legen (Senatsurteil, a.a.O.; anders BGH RzW 1977, 168, 169, Anwendung der zivilrechtlichen Adäquanztheorie).

Damit steht - neben der Verfolgteneigenschaft - gleichzeitig fest, dass der Aufenthalt des Klägers in K ... "durch Verfolgungsmaßnahmen i.S.d. BEG hervorgerufen worden ist".

Der Aufenthalt in K ... war schließlich auch ein "Auslandsaufenthalt". Zum Ausland gehören nämlich alle Gebiete außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach seinem jeweiligen Gebietsstand (BSG, Urteil vom 15. Oktober 1985, Az.: 11a RA 32/84, SozR 2200 § 1251 Nr. 116). Da K ... am Kaspischen Meer nie in den Einflussbereich des Deutschen Reiches gelangt ist, hielt sich der Kläger nach dem Ende seiner Flucht bis Mai 1945 im Ausland auf.

Unerheblich ist dagegen, dass der Kläger nicht aus dem Inland ins Ausland geflohen ist (so aber die herrschende Meinung im Schrifttum: Försterling in: GK-SGB VI, § 250 SGB VI Rn. 492; Schmidt in: Kreikebohm, SGB VI, 2. Aufl. 2003, § 250 Rn. 42; Verbandskommentar, § 250 SGB VI Anm. 18; einschränkend: Niesel, Kasseler Kommentar, § 1251 RVO Rn. 83: "in der Regel"; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, Stand: Mai 2002, § 250 Anm. 6b: "grundsätzlich"). Dies setzt § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO nämlich schon nach seinem Wortlaut nicht voraus. Auch aus Sinn und Zweck der Vorschrift kann nicht hergeleitet werden, dass der Versicherte aus dem Deutschen Reich ins Ausland emigriert sein muss, damit eine Verfolgungsersatzzeit anerkannt werden kann. Zwar hat das BSG (a.a.O.) die Auffassung vertreten, dass § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO die Einbußen ausgleichen soll, die Versicherten dadurch entstanden sind, dass sie das Inland verfolgungsbedingt verlassen mussten, wobei der Ausgleich für die Dauer des Auslandsaufenthaltes in der Annahme gewährt wird, dass alleine schon der (erzwungene) Aufenthalt im Ausland dem Erwerb inländischer Versicherungszeiten entgegen stand. Diese Ausführungen bezogen sich aber auf einen Versicherten, der das Deutsche Reich (Stuttgart) verfolgungsbedingt verlassen und sich über Frankreich (Straßburg) in der Tschechoslowakei (Prag) begeben hatte. Das BSG entschied, dass der Auslandsaufenthalt dieses Versicherten beendet war, als Prag gemeinsam mit dem "Protektorat Böhmen und Mähren" in das Deutsche Reich eingegliedert wurde. Hieraus lässt sich für die vorliegende Fallkonstellation aber nichts herleiten. Zudem kann nicht angenommen werden, dass der 11a-Senat des BSG mit seinen Ausführungen im Urteil vom 15. Oktober 1985 ein zusätzliches (ungeschriebenes) Tatbestandsmerkmal ("Verlassen des In- ins Ausland") einführen wollte. Denn dies wäre schon mit Blick auf § 31 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I, in Kraft seit dem 01. Januar 1976) bedenklich, wonach soziale Rechte nur aufgehoben werden dürfen, wenn ein Gesetzes vorschreibt oder zulässt.

Im Übrigen fordert die Literaturmeinung ein Verlassen des Inlands nicht ausnahmslos: Zwar sollen Gebiete, die nicht in das Deutsche Reich eingegliedert waren, aber - wie Ostgalizien - in seinen Einflussbereich gerieten, Ausland bleiben. Habe ein Versicherter - wie der Kläger - ein solches Einflussgebiet aber aus Verfolgungsgründen verlassen und seinen Aufenthalt in einem anderen Ausland begründet, so sei das verlassene Gebiet als Inland anzusehen (so Eicher/Haase/Rauschenbach, § 250 Anm. 6b; Verbandskommentar, § 250 Rn. 18). Diese Ausnahme erfüllt der Kläger nicht, weil er seinen Aufenthalt nicht in einem anderen Ausland begründet hat. Denn als er Ostgalizien im Juni 1941 verließ, gehörte dieses Gebiet nicht mehr zur Republik Polen, sondern bereits zur Sowjetunion (zu den staatsrechtlichen Bezügen: Küchenhoff, Allgemeine Staatslehre, 7. Aufl. 1971, S. 253). Wäre der Kläger dagegen nach der Invasion deutscher Truppen aus D ... beispielsweise in die USA geflohen, so wäre sein dortiger Aufenthalt als Auslandsaufenthalt anzusehen. Der Senat kann keine sachlichen Gründe für die Ungleichbehandlung beider Fallkonstellationen erkennen. Dies gilt nach Ansicht des Senats umso mehr, wenn man Sinn und Zweck des Fremdrentenrechts in die Betrachtung einbezieht: Das Fremdrentenrecht bewirkt nämlich die einseitige Übernahme fremder Versicherungslasten (Eichenhofer in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 3, 1999, § 76 Rn. 52). Grund für diese Übernahme fremder Versicherungslasten ist die Pflicht der Bundesrepublik Deutschland, als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches für die Folgen einzustehen, die Deutschland durch den 2. Weltkrieg verursacht hat. Hierzu gehören auch die Vertreibung und Verfolgung der (ost)europäischen Juden, die zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehörten. Deshalb waren beim Kläger gem. §§ 15, 17a FRG Beitragszeiten zu berücksichtigen, die er von Juli 1937 bis Juni 1941 im Ausland, nämlich teils in der Republik Polen und teils in der UdSSR, zurückgelegt hat. Bezieht der Gesetzgeber diese im Ausland erworbenen Beitragszeiten in die deutsche Rentenversicherung ein, so ist kein Grund dafür ersichtlich, dem Kläger die anschließende Ersatzzeit mit der Begründung zu versagen, dass er nicht vom In- ins Ausland geflohen sei. Vielmehr ist seine Situation mit dem Verfolgungsschicksal "echter" Emigranten, die aus dem In- ins Ausland geflohen sind, vergleichbar. Beide Personengruppen mussten nämlich ihre Heimat aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung verlassen und konnten deshalb keine weiteren Beitragszeiten mehr erwerben. Gerade für diese Konstellation soll § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO "Ersatz" schaffen. Es besteht deshalb - auch im Lichte des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) - kein sachlicher Grund, beide Personengruppen unterschiedlich zu behandeln (ebenso im Ergebnis: LSG NW, Urteil vom 09. April 2002, Az.: L 18 (3) RJ 246/99).

Da vor der Ersatzzeit eine Versicherung bestanden und während der Ersatzzeit keine Versicherungspflicht bestanden hat, ist der Tatbestand des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 RVO erfüllt.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG und trägt dem Klageerfolg Rechnung.

Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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