L 15 SB 140/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 15 SB 410/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SB 140/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9a SB 4/07 B
Datum
Kategorie
Urteil
I. Der Rechtsstreit über die Berufung des Klägers (L 15 SB 33/06) ist durch die Berufungsrücknahme vom 22.08.2006 erledigt.
II. Außergerichtliche Kosten im Rahmen der Fortsetzung des Verfahrens vor dem Bayer. Landessozialgericht sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Beendigung des Berufungsverfahrens durch Berufungsrücknahme am 22.08.2006 bzw. um die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 40 nach dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX).

Mit Urteil vom 09.02.2006 wies das Sozialgericht Augsburg die Klage gegen den Änderungsbescheid vom 22.04.2004 (Herabsetzung des GdB von 60 auf 30) und gegen den Teilabhilfebescheid vom 02.06.2004 (GdB 40) in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2004 ab. Seine hiergegen am 21.02.2006 zum Bayer. Landessozialgericht eingelegte Berufung nahm der Kläger im Erörterungstermin vom 22.08.2006 nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage ausweislich der Sitzungsniederschrift, die ihm am 23.08.2006 übermittelt wurde, zurück.

Am 28.08.2006 ging bei Gericht eine Ablichtung dieser Niederschrift mit dem handschriftlichen Zusatz des Klägers ein: "Zurückgenommen habe ich nicht - nur "ruhen lassen"; werde nach "ärztlicher Rücksprache" einen Neuantrag des SB-Ausweises beim Versorgungsamt stellen". Nachdem der Vorsitzende Richter des Senats den Kläger mit Schreiben vom 13.09.2006 darauf hingewiesen hatte, dass in der Niederschrift mit entsprechender Beweiskraft die Rücknahme der Berufung festgehalten sei und er davon ausgehe, dass der Kläger hiergegen keinen Rechtsbehelf einlegen wolle, schickte der Kläger dieses Schreiben mit folgender Anmerkung zurück: "Ich werde beim Versorgungsamt A. einen Neu- bzw. Wiederantrag auf Schwerbehinderung mind. 50 G.d. Behinderung stellen. - Ersatzweise für § 109 SGG - von daher betrachte ich den Rechtsstreit wegen o.g. Schwerbehindertenangelegenheit als nicht erledigt an. Ich hatte schon ähnliche Probleme mit anderen Gutachten/Ärzten." Mit Schreiben vom 20.09.2006 teilte er mit: " ... Im beigefügten Rechtsstreit sind wir bei dem Erörterungstermin so verblieben, dass ich beim Versorgungsamt A. einen Neu- bzw. Wiederantrag auf Schwerbehinderung G.d.B. mind. 50 stellen werde. Ich sehe daher die Sache als nicht erledigt an. Vielleicht sollte man daher das Antragsverfahren einmal abwarten." Der Beklagte teilte mit Schreiben vom ... mit, das Berufungsverfahren sei beendet.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Beklagten unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 09.02.2006 sowie der Bescheide vom 22.04.2004, 02.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2004 zu verurteilen, für ihn mindestens einen GdB von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

festzustellen, dass der Rechtsstreit über die Berufung des Klägers (L 15 SB 33/06) durch die Berufungsrücknahme vom 22.08.2006 erledigt ist.

Zum Verfahren wurden beigezogen die Akten des Sozialgerichts Augsburg S 15 SB 410/04 sowie die Schwerbehindertenakten.

Bezüglich des weiteren Sachverhalts in den Verfahren des Beklagten und des Sozialgerichts wird gem. § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und § 540 der Zivilprozessordnung (ZPO) auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils und die dort angeführten Beweismittel, hinsichtlich des Sachverhalts im Berufungsverfahren auf die Schriftsätze der Beteiligten und den Inhalt der Berufungsakte nach § 136 Abs.2 SGG Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Obwohl der Kläger in dem Erörterungstermin vor dem Bayer. Landessozialgericht am 22.08.2006 ausweislich der Niederschrift seine Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 09.02.2006 zurücknahm, wodurch nach § 156 Abs.2 SGG der Verlust des Rechtsmittels bewirkt wird, führen seine danach als Widerruf/Rücknahme/Anfechtung zu wertenden gegenteiligen Erklärungen auf der Ablichtung der Niederschrift bzw. des Schreibens des Vorsitzenden vom 13.09.2006 bzw. seines eigenen Schreibens vom 20.09.2006, in denen er einer Berufungsrücknahme widerspricht, zu einem Streit über die Wirksamkeit seiner Berufungsrücknahme und damit zur Weiterführung des Verfahrens vor dem Bayer. Landessozialgericht. Nachdem die Berufungsrücknahme sich am Ende der mündlichen Verhandlung jedoch als wirksam erweist, muss der Senat feststellen, dass der Rechtsstreit über die Berufung des Klägers (L 15 SB 33/06) durch die Berufungsrücknahme vom 22.08.2006 erledigt ist (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 8. Auflage, Rdnr.6 zu § 156).

Grundsätzlich konnte der Kläger seine Berufung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zurücknehmen (§ 156 Abs.1 SGG). Diese Berufungsrücknahme ist von ihm am 22.08.2006 nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage auch wirksam im Erörterungstermin erklärt worden. Indirekt wird dies von ihm auch bestätigt, wenn er beispielsweise im Schreiben vom 20.09.2006 angibt: " ... Im beigefügten Rechtsstreit sind wir bei dem Erörterungstermin so verblieben, dass ich beim Versorgungsamt A. einen Neu- bzw. Wiederantrag auf Schwerbehinderung Grad d.B. mind. 50 stellen werde." Damit liegt grundsätzlich eine wirksame Berufungsrücknahme vor, so dass eine Entscheidung in der Sache selbst, d.h. über einen höheren GdB dem Senat nach wirksamer Beendigung des Rechtsstreites nicht mehr möglich ist.

Eine Prozesshandlung wie die vom Kläger zu Protokoll erklärte Rücknahme der Berufung kann weder frei widerrufen noch entsprechend den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften wegen Irrtums oder Drohung (§§ 119, 123 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) angefochten werden (BSG SozR Nr.3 zu § 119 BGB; BSG in SozR 1500 § 102 Nr.2 m.w.N.; BSG 17.05.1966, 7 RAr 7/66). Auch eine Nichtigkeit der Rücknahmeerklärung könnte selbst dann nicht angenommen werden, wenn - wie nicht geschehen - diese Erklärung aufgrund einer "Überrumpelung" durch das Gericht oder infolge einer unrichtigen Belehrung über die Prozessaussicht abgegeben worden wäre (BSG 24.04.1980, 9 RV 16/79 m.w.N.; BSG in Breithaupt 1960, 744).

Dies ergibt sich aus der Rechtsnatur von Prozesshandlungen, zu denen auch die Berufungsrücknahme zählt. Diese können zwar durch eine spätere Prozesshandlung widerrufen, ergänzt, geändert oder berichtigt werden; grundsätzlich geht dies jedoch nur, solange der Rechtsstreit noch anhängig ist. Nicht frei widerruflich bzw. nicht frei abänderungsfähig sind Prozesshandlungen, durch die der Prozessgegner eine Rechtsstellung erlangt oder aufgrund deren er seine Rechtsstellung eingerichtet hat (z.B. auch Rücknahme; vgl. hierzu Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 24. Auflage, Einleitung III Anm.21 ff. m.w.N.). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kann dann angenommen werden, wenn gleichzeitig mit der Rücknahme der Widerruf bei Gericht eingegangen wäre, was im Falle des Klägers nicht der Fall war; der Erörterungstermin fand am 22.08.2006 statt, seine Einwendungen gingen bei Gericht erst am 28.08.2006 ein.

Sofern der Kläger in seinem Schreiben vom 20.09.2006 ausführt, er werde einen Neu- bzw. Wiederantrag stellen und "sehe daher die Sache als nicht erledigt an", kann der Senat darin weder eine wirksame Irrtumsanfechtung im Sinne des § 119 BGB noch einen Widerruf oder einen möglichen Nichtigkeitsgrund erkennen. Schließlich wird darin lediglich ausgedrückt, dass der Kläger gegenüber dem Beklagten sein Begehren auf Feststellung eines höheren GdB als 40 im Rahmen eines Neuantragsverfahrens weiterverfolgen wird.

Allenfalls könnte eine Berufungsrücknahme entsprechend den Regeln über die Wiederaufnahmeklage widerrufen werden, falls ein gesetzlicher Restitutionsgrund (§ 179 Abs.1 SGG i.V.m. § 580 ZPO) gegeben wäre (BSG vom 24.04.1980, 9 RV 16/79 m.w.N.). Einen solchen Tatbestand (insbesondere: falsche eidliche Aussage des gegnerischen Prozessbeteiligten, Urkundenfälschung, strafbares falsches Zeugnis/Gutachten, Urteilserschleichung, Amtspflichtverletzung eines Richters, Auffinden einer bisher unbekannten Urkunde) hat der Kläger nicht vorgetragen; auch ergeben sich diesbezüglich keine Hinweise aus den Akten. Eine strafbare Verletzung der richterlichen Amtspflichten gegenüber dem Kläger könnte im Übrigen nur dann eine Restitutionsklage und damit einen Widerruf rechtfertigen, wenn der zuständige Richter wegen einer solchen Straftat rechtskräftig verurteilt worden wäre oder wenn ein Strafverfahren aus anderen Gründen als mangels Beweises nicht eingeleitet oder durchgeführt werden könnte (§ 580 Abs.1 Nr.5 i.V.m. § 581 ZPO). Das ist nicht der Fall. Ob ein Nichtigkeitsgrund im Sinne des § 579 ZPO ebenfalls einen Widerruf rechtfertigt, kann dahingestellt bleiben. Denn die in § 579 Abs.1 ZPO aufgeführten Nichtigkeitsgründe (unvorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts; Mitwirkung eines kraft Gesetzes ausgeschlossenen oder wegen Befangenheit abgelehnten Richters, den gesetzlichen Vorschriften nicht entsprechende Vertretung einer Partei) liegen offensichtlich nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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