L 8 KR 18/05

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 10 KR 621/02
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 18/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 16/07 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Lorenzos Öl gehört mit Änderung der AMR ab 1. Oktober 2005 zu den nach
Ziff. 15.2.5 AMR erstattungsfähigen diätetischen Lebensmitteln.
2. Ab dem 1. Oktober 2005 besitzt ein Versicherter gegen seine Krankenkasse einen Anspruch auf Erstattung der Kosten der Behandlung seiner Adrenomyeloneuropathie (AMN) mit dem ärztlich verordneten Lorenzos Öl als erstattungsfähiges diätetisches Lebensmittel nach Ziff. 15.2.5 AMR.
3. Vor dem 1. Oktober 2005 besitzt ein Versicherter keinen Kostenerstattungsanspruch gegen seine Krankenkasse, da das Lorenzos Öl weder ein Fertigarzneimittel noch ein Rezepturarzneimittel nach § 21 AMG ist und auch nicht unter die Regelungen der
Ziff. 17.1 Buchstabe i AMR a.F. fällt.
4. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-Label-Use ist auf die Behandlung von AMN mit Lorenzos Öl nicht anwendbar.
5. Eine analoge Anwendung der Ziff. 17.1 Buchstabe i AMR a.F. auf die Behandlung von AMN mit Lorenzos Öl ist nicht zulässig.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 17. November 2004 abgeändert und die Beklagte verurteilt, den Kläger ab dem 1. Oktober 2005 von den Kosten der Behandlung mit den ärztlich verordneten Spezialölen Glycerol-Trioleat und Glycerol-Trieruct freizustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zur Hälfte zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Übernahme der Kosten der Behandlung des Klägers ab 1. Dezember 2003 mit dem sogenannten Lorenzo`s Öl, ein Spezialöl in Form einer Mischung von Glycerol-Trioleat (GTO) und Glycerol-Trieruct (GTE) im Verhältnis 1:4 (GTO/GTE-Therapie).

Der Kläger, geboren 1963, ist bei der Beklagten krankenversichert. Er leidet an einer Form der angeborenen X-chromosomalen Adrenoleukodystrophie (X-ALD) und zwar der Adrenomyeloneuropathie (AMN), eine genetisch determinierte Fettstoffwechselerkrankung. Es handelt sich bei AMN um eine seltene, ausschließlich bei Männern auftretende Erb-Erkrankung. Diese Erkrankung stellt sich als Defekt des Fettstoffwechsels dar. Der Abbau überlangkettiger Fettsäuren ist gestört. Dies führt zu einer Konzentration im Blutplasma und im Gehirn sowie in der Nebennierenrinde mit entsprechenden Schädigungen. Die Erkrankung manifestiert sich zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr und hat einen protrahierten Krankheitsverlauf. Folge dieser Erkrankung ist eine Schädigung des Rückenmarks und der peripheren Nerven zum Teil unter Einbeziehung des Zentralennervensystems. Hauptsymptome sind eine spastische Lähmung der Beine, periphere Neuropathie und Nebennierenrindeninsuffizienz. Eine Heilung der Erkrankung ist nicht möglich, die Behandlung erfolgt symptomatisch. Bei Nebennierenrindeninsuffizienz erfolgt eine Hormonsubstitution, ohne Einfluss auf neurologische Symptomatik, sowie die Medikamentation mit Antikonvulsiva, Antispastika neben Krankengymnastik, Ergotherapie u.s.w. Des Weiteren wird durch eine fettreduzierte Diät - zur Reduktion überlangkettiger Fettsäuren - und die Gabe des Lorenzo`s Öl eine Normalisierung der Konzentration überlanger Fettsäuren erreicht. Dadurch sollen Nervenschäden durch Anhäufung von überlangkettigen Fettsäuren möglichst vermieden werden. Diese Diagnose wurde beim Kläger im Alter von 17 Jahren gestellt. Seit 1990 ist er auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Es besteht eine Störung der Blasen- und Darmfunktion, eine Nebennierenrindeninsuffizienz und testikulärer Dysfunktion. Der Kläger nimmt zur Behandlung die Medikamente Lioresal und Siredarlut.

Auf der Grundlage einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen in Hessen (MDK Hessen, Frau Dr. B. vom 21. Februar 2000) übernahm die Beklagte die Kosten der Behandlung des Klägers mit dem Spezialöl für ein Jahr (Bescheid vom 23. Februar 2000).

Am 30. Januar 2001 beantragt der Kläger die weitere Kostenübernahme unter Vorlage dreier Laborberichte der FT.-A. Universität G.

Frau Dr. B. (MDK Hessen) kam in ihren erneuten Stellungnahmen vom 10. April 2001 und vom 23. April 2001 zu dem Ergebnis, die weitere Kostenübernahme könne nicht befürwortet werden. Eine kausale Behandlung der Erkrankung des Klägers sei nicht möglich. Die Lebenserwartung sei durch die Diagnose AMN nicht wesentlich eingeschränkt. Das Spezialöl sei ein Diätpräparat bzw. Lebensmittel. Die Einnahme des Spezialöls sei zwar medizinisch sinnvoll. Die Kostenübernahme sei jedoch nach § 31 Abs. 1 Satz 1 und 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) ausgeschlossen, da es nicht apothekenpflichtig sei und nicht unter die Ausnahmeregelungen der Arzneimittel-Richtlinien (AMR) falle.

Mit Bescheid vom 26. April 2001 übernahm die Beklagte die Kosten für weitere sechs Monate mit der Anregung, im Falle eines weiteren Antrages diesen rechtzeitig und unter Vorlage aussagekräftiger Unterlagen zu stellen.

Am 20. August 2001 stellte der Kläger einen weiteren Antrag auf Verlängerung der Kostenübernahme unter Vorlage einer Stellungnahme des Chefarztes des S. Krankenhauses H., Abteilung Neurologie, Herrn W. K., vom 16. August 2001. Danach betreut dieses Krankenhaus als Therapie-Zentrum für X-ALD (Patienten aus 150 Familien) etwa 30 Patienten mit der rein spinalen Verlaufsform dieser Erkrankung, der AMN, bzw. mit lediglich kernspintomographisch nachweisbarer Erkrankung, der AMN-TI. Die Gabe von Lorenzo`s Öl habe bei 90 % dieser Patienten zu einer Verbesserung der klinischen Verlaufsparameter geführt, bzw. bei 55 % der Patienten sei das Krankheitsbild klinisch stabil geblieben oder habe sich leicht verbessert. Die neurodegenerative AMN stehe in einem engen Zusammenhang zu der genetisch bedingten Fettstoffwechselstörung. Aus seiner Sicht sei anzunehmen, dass eine Normalisierung der Fettstoffwechselstörung zu einer günstigen Beeinflussung des Krankheitsverlaufs führen müsse. Diese Hypothese werde durch die Untersuchungsergebnisse untermauert, auch wenn diese weder doppelblind noch placebokontrolliert seien. Auch wenn das Lorenzo`s Öl (GTO/GTE) nicht als Arzneimittel gelistet sei, so habe es doch medikamentenähnliche Wirkung. Diese Therapie sei die einzige z. Zt. zur Verfügung stehende Therapie für erwachsene Patienten und es gäbe begründete Aussicht auf Erfolg im Sinne einer Verhütung weiterer Krankheitsprozesse. Des Weiteren legte der Kläger der Beklagten ein Gutachten von Prof. Dr. H. vom 9. Juni 2000 zur Therapie von AMN mit dem Lorenzo`s Öl vor. Danach besteht nur die Möglichkeit, AMN mit dem Spezialöl zu behandeln. Eine Wirksamkeit dieses Spezialöls lasse sich statistisch nicht beweisen. Viele klinische Beobachtungen sprächen jedoch dafür, dass unter der Behandlung mit dem Spezialöl es zu einer Stabilisierung der Krankheitssymptome komme. Bei einigen Patienten sei über Jahre kein Fortschreiten der Erkrankung festzustellen gewesen, bei anderen habe man den Eindruck gewonnen, dass der Krankheitsverlauf langsamer voranschreite. Nach dem Stand der Wissenschaft stelle derzeit die Gabe des Spezialöls die einzige Erfolg versprechende Behandlungsmethode dar. Etwas Vergleichbares gäbe es nicht. Selbst wenn bestehende Symptome durch das Spezialöl nicht gebessert werden könne, so bestünde doch die begründete Hoffnung, den progredienten Krankheitsverlauf aufzuhalten. Statistische wissenschaftliche Daten gäbe es nicht, die sicher verwertbar seien. Das Spezialöl sei kein Diätetikum, sondern habe den Charakter eines medikamenten ähnlichen Wirkstoffs. Es habe eine biochemische Wirkung mit z. T. ernstzunehmenden Nebenwirkungen wie Veränderung der Blutwerte (Leukopenien und Thrombozytopenien) oder auch Herzmuskelschäden (Kardiomyopathie).

Die Beklagte holte zwei Befundberichte von Frau Dr. NL. vom 11. September 2001 sowie von Dr. S. vom 12. September 2001 ein und veranlasste eine weitere Stellungnahme durch den MDK Hessen, Frau Dr. B. vom 31. Oktober 2001. Nach ihrer Stellungnahme sei die Einnahme des Spezialöls zweckmäßig, jedoch komme keine Kostenübernahme in Frage. Zudem bestünden für den Kläger weitere Behandlungsmöglichkeiten (Krankengymnastik und Benutzung einer Lioresalpumpe).

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 19. November 2001 die weitere Kostenübernahme ab.

Den dagegen erhoben Widerspruch des Klägers vom 3. Dezember 2001 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. April 2002 als unbegründet zurück. Dazu führte sie aus, eine Kostenübernahme für eine neue Behandlungsmethode komme nur in Betracht, wenn der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen eine Empfehlung über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens abgegeben habe. Dies sei für das Spezialöl nicht geschehen. Selbst wenn man annehme, das Spezialöl sei ein Arzneimittel, so könnten die Kosten nicht übernommen werden, da ihm die Zulassung fehle. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts scheide damit die Kostenübernahme aus. Aus der Tatsache, dass in der Vergangenheit die Kosten übernommen worden seien, könne kein Anspruch auf Kostenübernahme abgeleitet werden, da aus einem früheren - fehlerhaften - Verwaltungshandeln kein Anspruch für die Zukunft abgeleitet werden könne. Des Weiteren könne sich der Kläger auch nicht auf ein Urteil der Zivilgerichtsbarkeit berufen, da es sich insoweit um eine Kostenübernahme im Bereich der privaten Krankenversicherung handele. Ein privatrechtlicher Anspruch sei gestützt auf die allgemeinen Versicherungsbedingungen, vorliegend müsse sich der Anspruch des Klägers jedoch nach den Regelungen des SGB V ergeben.

Dagegen hat der Kläger am 6. Mai 2002 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben.

Er hat einen Arztbrief von Dr. S. vom 23. April 2002 zum Nachweis einer Besserung seines Krankheitsbildes unter Einnahme des Spezialöls vorgelegt, sowie ein Schreiben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vom 17. Januar 2003. Nach diesem Schreiben ist in Deutschland kein Arzneimittel zur Behandlung von AMN zugelassen. Auch die Firma X sei nicht in Besitz einer Herstellerzulassung für das streitige Spezialöl. Zur Begründung des geltend gemachten Anspruchs hat der Kläger auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22. November 2002, Az.: 1 BvR 1586/02) verwiesen. Danach habe das Gericht im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens eine besonders intensive und nicht nur summarische Prüfung der Erfolgsaussichten bzw. eine Folgenabwägung vorzunehmen, die die verfassungsrechtlich geschützten Belange des Antragstellers/Beschwerdeführers hinreichend zur Geltung bringe, wenn Lebensgefahr bestehe. Darüber hinaus hat der Kläger zwei Atteste von Dr. NL. vom 12. November 2004 und von Dr. S. vom 4. November 2004 vorgelegt.

Das Sozialgericht hat eine Stellungnahme von Dr. E. E. (MDK in Bayern) vom 26. August 2002 beigezogen. Dieser nimmt zu einem Fall der juvenilen Form des ALD und der Behandlung mit dem vorliegend streitigen Spezialöl Stellung. Unabhängig davon vertritt Dr. E. E. in seiner Stellungnahme die Auffassung, die Kosten des Spezialöls könnten von der Krankenkasse nicht übernommen werden, da es mangels arzneimittelrechtlicher Zulassung nicht verordnet werden könne und als diätetisches Lebensmittel nicht unter der Ausnahmeregelung der Ziff. 17.1. Buchstabe i der AMR falle. Zwar handele es sich um eine Stoffwechselerkrankung, jedoch sei das Lorenzo`s Öl weder eine Aminosäuremischung noch ein Eiweißhydrolysat.

Mit Urteil vom 17. November 2004 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger besitze weder einen Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte für die Vergangenheit noch einen Anspruch auf Freistellung von den Kosten für die Zukunft. Beide Ansprüche - gestützt auf § 13 Abs. 3 SGB V - würden nur bestehen, wenn das streitige Spezialöl zu den Leistungen gehörte, die die gesetzliche Krankenkasse (GKV) als Sach- oder Dienstleitung zu erbringen habe. Das Lorenzo`s Öl stelle weder ein Fertigarzneimittel noch eine Diät dar, die den Leistungsumfang der GKV umfasse. Der geltend gemachte Kostenerstattungs- bzw. Freistellungsanspruch scheitere daran, dass das streitige Spezialöl keine arzneimittelrechtliche Zulassung für Deutschland bzw. EU-weit habe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgericht (Urteil vom 18. Mai 2004, Az.: B 1 KR 21/02 R) könnten zu Lasten der GKV nur in Deutschland oder in der EU zugelassene Arzneimittel verordnet werden. Selbst wenn man mit dem OLG Celle (Urteil vom 31. Januar 1997, Az.: 8 U 33/96) annehmen würde, das streitige Spezialöl sei ein Arzneimittel, so könne die Beklagte nicht zur Tragung der Kosten verpflichtet werden, da die entsprechende Zulassung nach den Regelungen des § 21 Abs. 1 AMG fehle. Da eine Zulassung fehle, könne der Kläger den geltend gemachten Anspruch nicht auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-Label-Use stützen. Diese Rechtsprechung setze voraus, dass ein zugelassenes Arzneimittel zur Behandlung einer Erkrankung eingesetzt werde, das nicht seiner Zulassung entspreche. Auch könne das Spezialöl nicht als verordnungsfähiges Rezepturarzneimittel angesehen werden. Es werde nicht in einer Apotheke hergestellt, sondern von der Herstellungsfirma fertig angeliefert. Allenfalls sei es notwendig, dass der Versicherte die beiden Substanzen mische. Der Kläger könne den geltend gemachten Anspruch auch nicht darauf stützen, dass es sich bei dem Spezialöl um ein verordnungsfähiges Diätnahrungsmittel handele. Das streitige Spezialöl unterfalle nicht den Ausnahmeregelungen der Richtlinien über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (AMR), nach denen apothekenpflichtige, aber nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel zu Lasten der Krankenkasse verordnet werden könnten. Auch aus dem Gesichtspunkt eines Systemversagens könne der Kläger den geltend gemachten Anspruch nicht herleiten. Grundsätzlich dürfe eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode nur zu Lasten der Krankenkasse erbracht werden, wenn der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen eine entsprechende positive Empfehlung zum diagnostischen und therapeutischen Nutzen gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V abgegeben habe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 16. September 1997, Az.: 1 RK 32/95 und vom 19. März 2002, Az.: B 1 KR 36/00 R) bestehe kein Anspruch auf Kostenerstattung bzw. auf -freistellung, wenn eine entsprechende Empfehlung fehle. Nur im Fall eines Systemversagens komme dann ein Anspruch des Versicherten auf Kostenerstattung bzw. auf -freistellung in Betracht. Ein Systemversagen liege vor, wenn die Einleitung oder Durchführung des Verfahrens willkürlich oder aus sachfremden Erwägungen nicht erfolgt sei. Auch in einer Untätigkeit liege dann ein Systemversagen, wenn eine rechtliche Verpflichtung zum Handeln bestanden habe (Bundessozialgericht, a.a.O.). Außerdem müsse nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 19. März 2004, Az.: 1 BvR 131/04) die neue Behandlungsmethode als "Standardbehandlung" des vorliegenden Krankheitsbildes anzusehen sein. Dies könne vorliegend nicht angenommen werden. Wie Herr K. eingeräumt habe, seien die Erkenntnisse über die Erkrankung, insbesondere in der vorliegenden erwachsenen Form, noch sehr jung. Es lägen keine größeren Forschungsergebnisse vor. Nichts anderes ergebe sich aus der vom Kläger vorgelegten Internet-Recherche. Auch Dr. E. komme nach Auswertung der Literatur zu dem Ergebnis, dass eine Standardtherapie sich bislang nicht herausgebildet habe. Auch habe Herr K. einräumen müssen, dass trotz der Einnahme des Spezialöls beim Kläger schwere neurologische Komplikationen eingetreten seien, auch wenn in der Zwischenzeit nach den Befundberichten von Dr. NL. und Dr. S. keine weiteren Verschlechterungen bzw. ein Stillstand der Progredienz angenommen werden könne.

Gegen das am 25. Januar 2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 26. Januar 2005 Berufung eingelegt.

Er verweist auf die außerordentliche Seltenheit seiner Erkrankung und trägt vor, er gehe davon aus, dass das Spezialöl in Italien, Frankreich, Belgien, Niederlanden, Luxemburg sowie in den USA und Australien als Arzneimittel zugelassen sei. Wegen der Seltenheit der Krankheit und den gesetzlichen Hürden einer Zulassung nach § 21 Abs. 1 AMG scheue der Hersteller des Spezialöls das förmliche Zulassungsverfahren. Zudem ist er der Auffassung, dass die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-Label-Use auf seinen Fall analog anwendbar sei. Auch sei davon auszugehen, dass seine Behandlung mit dem Spezialöl zum Therapiestandard gehöre. Es müsse von einem Systemversagen ausgegangen werden. Des Weiteren weist er auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 19. März 2004 Az.: 1 BvR 131/04) hin und vertritt die Auffassung, das Sozialgericht hätte eine Güterabwägung vornehmen müssen. Zur Wirksamkeit des Spezialöls legt der Kläger eine Stellungnahme des Chefarztes des S. Krankenhauses H. Herrn W. K. aus Februar 2005 sowie eine Auskunft des BfArM vom 17. Januar 2003 vor.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgericht Darmstadt vom 17. November 2004, den Bescheid vom 19. November 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 18. April 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die Kosten für seine Behandlung mit dem ärztlich verordneten Spezialölen Glycerol-Trioleat und Glycerol-Trieruct auf der Grundlage seines Antrages vom 20. August 2001 zu erstatten und ihn von diesen Kosten freizustellen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Sie ist der Auffassung, das Sozialgericht habe mit dem angefochtenen Urteil zutreffend entschieden. Sie legte ein Gutachten von Frau Prof. Dr. G. vom 13. Dezember 2004 aus einem Verfahren vor dem Sozialgericht Reutlingen (S 4 KR 3620/03) zur medizinischen Notwendigkeit der Behandlung des streitigen Spezialöls bei X-chromosomal vererbter ALD vor. Des Weiteren legte sie eine Stellungnahme von Dr. N. aus Mai 2005 (MDK Westfalen-Lippe) zur Stellungnahme von Herrn K. aus Februar 2005 vor.

Der Senat hat eine Auskunft des Gemeinsamen Bundesausschuss – Unterausschuss Arzneimittel - vom 27. April 2006 beigezogen. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Gerichtakte und die Verwaltungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und zum Teil begründet.

Auf die Berufung des Klägers war das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 17. November 2004 insoweit abzuändern, als die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger ab dem 1. Oktober 2005 von den Kosten seiner Behandlung mit dem sog. Lorenzo`s Öl nach § 13 Abs. 3 SGB V freizustellen.

Der Kläger besitzt gegen die Beklagte mit Inkrafttreten der Änderung der AMR zum 1. Oktober 2005 einen Anspruch auf Freistellung von den Kosten seiner Behandlung mit dem sogenannten Lorenzo`s Öl. Nach Überzeugung des Senats erfüllt dieses Spezialöl den Ausnahmetatbestand von Ziff. 15.2.5 der neuen AMR. Diese Regelung lautet:

"Verordnete Produkte müssen der Legaldefinition für diätetische Lebensmittel (Diätverordnung) entsprechen und sich rechtmäßig auf dem deutschen Markt befinden. Produkte, die nicht den vorgenannten Definitionen entsprechen, z.B. weil sie nur Kohlehydrate oder Fette enthalten, sind keine Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysate, Elementardiäten und Sondernahrungen im Sinne dieser Richtlinie und des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V. Dies gilt nicht für ergänzende bilanzierte Diäten zur Behandlung von angeborenen, seltenen Defekten im Kohlehydrat- und Fettstoffwechsel und anderen diätpflichtigen Erkrankungen, die unbehandelt zu schweren geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen führen und bei denen eine diätetische Intervention mit ergänzenden bilanzierten Diäten medizinisch notwendig ist. Die verordnende Ärztin, der verordnende Arzt hat für jeden Defekttyp zu prüfen, ob eine Behandlung durch diese Produkte medizinisch notwendig ist oder ob symptomatische oder eigenverantwortliche Maßnahmen Priorität haben."

Der Senat stützt seine Überzeugung, dass das Spezialöl ein diätetisches Lebensmittel nach § 1 Abs. 1 des Lebensmittel- und Bedarfsgegenstandsgesetzes (LMBG) i.V.m. § 1 Abs. 1 und 2 der Verordnung über diätetische Lebensmittel ist, auf die beigezogene Auskunft des Gemeinsamen Bundesausschusses – Unterausschuss Arzneimittel - vom 27. April 2006 und die Stellungnahme des Chefarztes des S. Krankenhauses H, Herrn W. K., aus Februar 2005. Lebensmittel sind nach dieser Regelung Stoffe, die dazu bestimmt sind, in unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand von Menschen verzehrt zu werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss geht in seiner Stellungnahme vom 27. April 2006 ohne weitere Begründung davon aus, dass die Voraussetzungen der neuen AMR-Regelung erfüllt sind. Der Senat stützt sich deshalb insbesondere auf die Ausführungen von Herrn W. K. in seiner Stellungnahme aus Februar 2005. Nach dem Ergebnis der Stellungnahme von Herrn K. wird das Spezialöl zusammen mit einer fettreduzierten Diät verabreicht. In dieser Diät wird der Gehalt an natürlichen Nahrungsfetten auf bis etwa 10 bis 15 % der Gesamtkalorien reduziert, um die Aufnahme von VLCFA (überlangkettige Fettsäuren) aus der Nahrung zu reduzieren. Der restliche Fettbedarf (etwa 20 % der Gesamtkalorien) wird durch die Zufuhr von Lorenzo`s Öl sichergestellt. Damit stellt dieses Spezialöl einen wesentlichen Bestandteil der täglichen Ernährung im Rahmen des Diätplans dar. Somit ist dieses Spezialöl ein Lebensmittel nach § 1 des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes. Nach Überzeugung des Senats ist es auch ein diätetisches Lebensmittel. Diätetische Lebensmittel sind gemäß § 1 Abs. 1 der Verordnung über diätetische Lebensmittel, solche die für eine besondere Ernährung bestimmt sind. Nach § 1 Abs. 2 dieser Verordnung sind Lebensmittel für eine besondere Ernährung bestimmt, wenn sie (Buchstabe a) den besonderen Ernährungserfordernissen bestimmter Personengruppen, deren Verdauungs- oder Resorptionsprozess oder Stoffwechsel gestört ist oder (Buchstabe b) wenn sie für eine bestimmte Personengruppe bestimmt ist, die sich in besonderen physiologischen Umständen befinden und deshalb einen besonderen Nutzen aus der kontrollierten Aufnahme bestimmter Nahrung enthaltener Stoffe ziehen können. Der Senat ist der Auffassung, dass das Spezialöl auch die Voraussetzungen eines diätetischen Lebensmittels erfüllt. Nach der Darstellung von Herrn W. K. in seiner Stellungnahme aus Februar 2005 unterscheidet sich das Spezialöl wesentlich von Lebensmitteln des allgemeinen Verzehrs. Das Spezialöl verfügt über einen hohen Anteil an Erukasäure. Die Verwendung des Spezialöls bei AMN-Patienten zielt in Verbindung mit einer speziellen Diät vornehmlich auf eine auf die Krankheit abgestimmte Ernährungsweise.

Damit konnte sich der Senat der Rechtsprechung des Thüringer Landessozialgerichts (Urteil vom 27. September 2004, Az.: L 6 KR 883/02) nicht anschließen. Das Thüringer Landessozialgericht geht in seiner Entscheidung davon aus, dass Lorenzo`s Öl wegen möglicher Nebenwirkungen ein Arzneimittel darstellt. Dem kann der Senat wegen der Zielsetzung des Einsatzes des Spezialöls zur Substituierung der überlangkettigen Fettsäuren im Rahmen einer krankheitsbezogenen Diät nicht folgen. Zu erwartende Nebenwirkungen sind keine Unterscheidungsmerkmale zwischen Arzneimittel und diätetischem Lebensmittel.

Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen. Der Kläger besitzt für die Zeit vor dem 1. Oktober 2005 gegen die Beklagte weder einen Erstattungs- noch einen Freistellungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V.

Der Kläger kann den weitergehenden Anspruch nicht auf § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 31 SGB V stützen. Dieser Anspruch wird in § 31 SGB V näher definiert. Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V, in der ab dem 3. August 2001 geltenden Fassung, haben Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 ausgeschlossen sind. Das Spezialöl ist nach Überzeugung des Senats kein Arzneimittel, sondern ein diätetisches Lebensmittel. Gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1 AMG schließt die Einordnung des Spezialöls als Lebensmittel die Annahme eines Arzneimittels aus.

Auch die späteren Änderungen des § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V (ab dem 1. Januar 2004) beinhalten keine Änderung zu Gunsten des Klägers.

Der Kläger kann den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch für die Zeit vor dem 1. Oktober 2005 nicht auf § 31 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V und Ziff. 17.1. Buchstabe i AMR a. F. stützen. Nach § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V legt der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen bis zum 31. Dezember 2003 und ab 1. Januar 2004 der gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 fest, in welchen medizinisch notwendigen Fällen Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysate, Elementardiäten und Sondennahrung ausnahmsweise in die Versorgung mit Arzneimitteln einbezogen werden und damit der Versicherte ein Freistellungsanspruch geltend machen kann. Unstreitig wird die Behandlung der Erkrankung des Klägers mit dem streitigen Spezialöl in Ziff. 17.1. Buchstabe i AMR in der bis zum 30. September 2005 geltenden Fassung nicht erfasst. Diese Richtlinie wurde auf der Grundlage von § 135 SGB V von dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen erlassen.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist eine analoge Anwendung von Ziff. 17.1. Buchstabe i AMR a. F. nicht zulässig. Diese Regelung stellt eine Ausnahmeregelung von dem Grundsatz des § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V dar, dass der Versicherte nur einen Anspruch auf Versorgung mit zugelassenen und apothekenpflichtigen Arzneimitteln besitzt. Eine Analogie dieser Ausnahmeregelung im Sinne einer anspruchserweiternden Auslegung ist nach Überzeugung des Senats nicht zulässig.

Auch kann - entgegen der Auffassung des Klägers – über die Grundsätze der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-Label-Use nicht ein Anspruch auf Übernahme der Kosten bis zum 30. September 2005 begründet werden. Diese Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist nur auf Arzneimittel anwendbar, die eine arzneimittelrechtliche Zulassung besitzen, jedoch im konkreten Einzelfall zur Behandlung einer Erkrankung eingesetzt werden sollen, die von der Zulassung nicht erfasst sind. Nach der zum Verfahren beigezogenen Auskunft des BfArM vom 16. August 2006 und der vom Kläger vorgelegten Auskunft vom 17. Januar 2003 besitzt das streitige Spezialöl keine Zulassung nach deutschem Recht. Zudem geht der Senat – wie dargelegt – davon aus, dass es sich bei dem Spezialöl um ein diätetisches Lebensmittel handelt.

Der Kläger kann den für die Zeit vor dem 1. Oktober 2005 geltend gemachten Anspruch nicht auf einem Systemversagen stützen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kommt ein Kostenerstattungs- oder Freistellungsanspruch des Versicherten wegen Systemversagens nur in Betracht, wenn die fehlende Empfehlung des Bundesausschusses auf einer unsachgemäßen Behandlung durch den Ausschuss selbst oder durch die antragsberechtigten Stellen beruht und zusätzlich die Wirksamkeit der Methode nachgewiesen ist. Eine unsachgemäße Behandlung durch den Bundesausschuss bzw. ab dem 1. April 2004 auch den zuständigen Gemeinsamen Bundesausschuss kann der Senat nicht erkennen. Wie Herr K. in seiner Stellungnahme aus Februar 2005 ausführt, mangelte es den bisher vorliegenden Studien zur Wirksamkeit an Validität und Aussagekraft. In den USA werde momentan prospektiv eine Studie mit einer kontrollierten randomisierten Doppelblindstudie durchgeführt. Dies wird auch in der Stellungnahme von Dr. D aus Mai 2005 ausgeführt.

In Anbetracht dessen kann nach Auffassung des Senats nicht beanstandet werden, dass der Gemeinsame Bundesausschuss am 15. Februar 2005 eine vollständig überarbeitete Richtlinie zur ausnahmsweise Verordnung von Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysaten, Elementardiäten und Sondennahrungen beschlossen hat und die Neufassung des AMR wegen einer Beanstandung des ehemaligen Bundesministeriums für Gesundheit und Sozialer Sicherung erst zum 1. Oktober 2005 in Kraft ist.

Auch besitzt der Kläger für die Zeit vor dem 1. Oktober 2005 keinen Kostenerstattungsanspruch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 6. Dezember 2005 - Az.: 1 BvR 347/98 - ausgeführt hat, ist die gesetzliche Krankenversicherung im Falle von lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen verpflichtet, die Kosten einer alternativen Behandlungsmethode zu übernehmen, wenn die Schulmedizin keine Behandlungsmöglichkeit (mehr) zur Verfügung stellen kann. Der Senat sieht vorliegend diese Voraussetzung nicht als erfüllt an. Nach den Ausführungen des Chefarztes des S. Krankenhauses H., Herr K., aus Februar 2005 ist die Lebenszeit der Patienten mit reiner AMN nicht sicher eingeschränkt, viele erreichen die 7. und 8. Lebensdekade. Nach Überzeugung des Senats kann dies mit dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegenden Fall nicht gleichgesetzt werden. Bei dieser Entscheidung lag eine Duchenne`sche Muskeldystrophie (DMD) vor, bei der die Lebenserwartung bereits im Kindesalter stark eingeschränkt ist. Dies ist mit dem vorliegenden Krankheitsbild nicht vergleichbar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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