L 8 Kr 269/73

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 Kr 269/73
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Januar 1973 abgeändert und die Klage im vollem Umfange abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger Anspruch auf Krankenpflege für seine Nierenerkrankung, insbesondere durch Übernahme der notwendigen Kosten für die Behandlung mit einem Heimdialysegerät im Rahmen des § 213 Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.

Der im Jahre 1915 geborene Kläger bezieht von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) seit dem 1. Juli 1968 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Auf seinen Antrag wurde er mit Wirkung vom 24. Juni 1968 von der Rentenerkranktenversicherungspflicht befreit.

Vom 15. März bis 7. Mai 1971 war der Kläger als Expedient in einer beratenden Tätigkeit bei der Firma H. B. in K. beschäftigt. Er wurde als Pflichtmitglied bei der Beklagten angemeldet. Diese Anmeldung enthielt den Zusatz, daß der Kläger auf eigenes Risiko arbeite. Nach Beendigung dieser Beschäftigung meldete sich der Kläger unter dem 25. Mai 1971 zur freiwilligen Weiterversicherung bei der Beklagten an. Die Beklagte hat diese Anmeldung angenommen.

Am 19. April 1971 ging bei der BfA ein Schreiben des Klägers vom 16. April 1971 ein, in dem dieser erklärte, die Dialysestation des Stadtkrankenhauses K. habe ihm eröffnet, daß er in Kürze mit der Anwendung der "künstlichen Niere” rechnen müsse, und zwar zwei- bis dreimal in der Woche.

Durch Bescheid vom 25. Juli 1972 stornierte die Beklagte die von der Firma B. getätigte An- und Abmeldung sowie die freiwillige Weiterversicherung mit der Begründung, es habe ein mißglückter Arbeitsversuch vorgelegen, der weder eine Versicherungspflicht noch das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung begründet habe; eine Leistungspflicht der Beklagten sei nicht gegeben.

Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 2. Oktober 1972 als unbegründet zurückgewiesen. Auf die Begründung des Widerspruchsbescheides wird Bezug genommen.

Mit seiner Klage vom 31. Oktober 1972 wandte sich der Kläger gegen diese Bescheide und begehrte darüberhinaus die Feststellung, daß er mit Wirkung ab 15. März 1971 Mitglied der Beklagten und als solches leistungsberechtigt sei.

Das SG Kassel hat durch Urteil vom 29. Januar 1973 der Klage auf Gewährung von Kassenleistungen stattgegeben, die Klage auf Feststellung der Mitgliedschaft jedoch abgewiesen. Zur Begründung führte es aus, die Beschäftigung des Klägers bei der Firma B. sei zwar kein mißglückter Arbeitsversuch gewesen, es habe sich jedoch um eine versicherungsfreie Nebenbeschäftigung nach § 168 Abs. 1 Nr. 2, § 168 Abs. 2 b RVO gehandelt. Deswegen sei der Kläger auch nicht zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt gewesen (§ 313 RVO). Die angefochtenen Bescheide seien jedoch insoweit fehlerhaft, als die Beklagte nach § 213 RVO verpflichtet sei, dem Kläger Leistungen zu gewähren. Sie habe nach vorschriftsmäßiger und nicht vorsätzlicher unrichtiger Anmeldung über 3 Monate lang die Beiträge des Klägers entgegengenommen. Erst nach Eintritt des Versicherungsfalles habe sich herausgestellt, daß der Kläger weder versicherungspflichtig nicht versicherungsberechtigt gewesen sei.

Gegen dieses am 12. Februar 1973 zugestellte Urteil richtet sich die am 9. März 1973 zu Protokoll der Geschäftsstelle des Sozialgerichts Kassel eingelegte Berufung der Beklagten, mit der sich diese gegen die Rechtsauffassung des Sozialgerichts wendet. Sie ist der Meinung, die Voraussetzungen des § 213 RVO seien nicht erfüllt, weil der Kläger vorsätzlich unrichtig angemeldet worden sei; es sei für sie nicht erkennbar gewesen, daß der Kläger wegen seines Gesundheitszustandes überhaupt nicht versicherungsfähig gewesen sei. Hinsichtlich seines Versicherungsschutzes sei der Kläger auch nicht gutgläubig gewesen. Weiterhin setze § 213 RVO eine unbeanstandete Beitragsannahme für die Dauer von 3 Monaten vor Eintritt des Versicherungsfalles voraus. Im vorliegenden Falle jedoch sei der Versicherungsfall, die Nierenerkrankung, vor Ablauf dieser Dreimonatsfrist eingetreten, so daß schon aus diesen Gründen § 213 RVO nicht anwendbar sei. Der Versicherungsfall sei bereits vor Eintritt in die Beschäftigung eingetreten.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Januar 1973 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise
ein Sachverständigengutachten einzuholen, rein vorsorglich, die Revision zuzulassen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und vertritt den Standpunkt, eine vorsätzlich unrichtige Anmeldung zur Versicherung sei nicht erfolgt, so daß jedenfalls ein Leistungsanspruch nach § 213 RVO bestehe. Nach Ablauf der Dreimonatsfrist sei eine neue Nierenerkrankung eingetreten, wie sich aus der ärztlichen Bescheinigung vom 5.8.1974 ergebe.

Die Beigeladene schließt sich dem Vorbringen des Klägers an.

Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichts- und Kassenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 29.8.1974 war die Beigeladene trotz ordnungsmäßiger Ladung weder erschienen noch vertreten.

Entscheidungsgründe:

Trotz Ausbleibens der Beigeladenen im Termin konnte der Senat entscheiden, da die Ladung einen entsprechenden Hinweis enthielt (§ 124 I SGG).

Die Berufung ist zulässig; sie ist an sich statthaft und in rechter Form und Frist eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz –SGG–). Es handelt sich im vorliegenden Fall um laufende Leistungen, die über einen längeren Zeitraum als 13 Wochen zu gewähren sind (§ 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

In der Sache selbst erweist sich die Berufung insofern als begründet, als der Kläger keinen Leistungsanspruch aus § 213 RVO hat.

Nach dem insoweit nicht angegriffenen Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Januar 1973 steht fest, daß der Kläger kein Mitglied der Beklagten geworden ist, weder auf Grund seiner Beschäftigung bei der Firma B. noch auf Grund seiner Anmeldung zur freiwilligen Weiterversicherung. Aus einer Mitgliedschaft können daher Leistungsansprüche nicht abgeleitet werden. Hingegen hält dieses Urteil zu Unrecht den Leistungsanspruch des Klägers nach § 213 RVO für begründet. Dieser Rechtsauffassung des Sozialgerichts vermag der Senat nicht zu folgen.

Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung wird von dem Grundsatz beherrscht, daß der den Leistungsanspruch auslösende Versicherungsfall der Krankheit während eines bestehenden Versicherungsverhältnisses eingetreten sein muß (vgl. BSG 16 S. 177; S. 115; 25 S. 37). Von diesem Grundsatz gibt es nur die Ausnahme des § 214 RVO (vgl. BSG a.a.O.), während aus § 213 RVO eine Durchbrechung dieses Grundsatzes nicht zu entnehmen ist. Auch § 213 RVO setzt ein Versicherungsverhältnis voraus, das entgegen den materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen durch Beitragszahlung begründet wird. Das Gesetz schützt damit eine auf gutgläubiger Beitragszahlung beruhende Rechtsposition (vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 213 Anm. 2 a).

Dieser Schutz löst jedoch nur dann Leistungspflichten einer Kasse aus, wenn der Eintritt des Versicherungsfalles frühestens nach 3-monatiger ununterbrochener und unbeanstandeter Beitragszahlung erkennbar geworden ist. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts tritt im Rahmen des § 213 RVO der Versicherungsfall nicht mit der Anmeldung bei der Kasse ein; denn der Versicherungsfall als Ereignis im Leben des Versicherten, gegen dessen Nachteile er geschützt werden soll (BSG 22 S. 278), ist im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung die Krankheit selbst und nicht eine Anmeldung bei der Kasse. Letztere kann allenfalls bewirken, daß wegen eines Versicherungsfalles Leistungen zu erbringen sind.

Dieser Versicherungsfall darf nach § 213 RVO erst nach Ablauf der Dreimonatsfrist erkennbar geworden sein, weil andernfalls jede nichtversicherungsfähige Person auch ohne vorsätzlich unrichtige Anmeldung bei bestehender Erkrankung durch bloße Beitragszahlung in den Genuß der gesetzlichen Krankenversicherungsleistungen kommen könnte. Dieses Ergebnis liegt nicht im Sinne des Gesetzes. Vielmehr soll durch § 213 RVO nur derjenige geschützt werden, welcher als nicht erkennbar Kranker Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung leistet und nach Ablauf einer Frist (3 Monate) Leistungen in Anspruch nehmen muß. Nur dieser Personenkreis ist hinsichtlich des Erwerbs des Versicherungsschutzes als gutgläubig und daher als schutzbedürftig zu bezeichnen.

Die Berechnung zur Frist der Anwendung des § 213 RVO setzt voraus, daß der zeitliche Zwischenraum zwischen der ersten Beitragsleistung und dem Erkennbarwerden der Krankheit genau festzustellen ist. Der Schutz des guten Glaubens eines vermeintlich Versicherten liegt darin, daß er bei plötzlich eintretender Krankheit den von ihm erwarteten Versicherungsschutz genießt. Erst nach Ablauf der Dreimonatsfrist soll die Kasse ein versicherungsmäßiges Risiko tragen, was nicht mehr der Fall ist, wenn der Versicherungsfall bereits vor Ablauf dieser Frist eingetreten ist. In diesem Fall ist keine schutzbedürftige Rechtsposition entstanden. Andernfalls könnte jedermann durch bloße Beitragsleistung den Versicherungsschutz erwerben, wenn er erst nach 3 Monaten einen Leistungsantrag stellt. Von einem versicherungsmäßigen Risiko, das die Kasse im Wege der Beitragsannahme zu übernehmen hätte, könnte dann keine Rede mehr sein.

Im vorliegenden Fall ist der Versicherungsfall der Nierenerkrankung vor dem Eintritt des Klägers in die Versicherung eingetreten. Dies ergibt sich schon daraus, daß ihm seit 1968 Erwerbsunfähigkeitsrente u.a. wegen einer Nierenerkrankung gewährt wird. Weiterhin wandte sich der Kläger im April 1971 an die BfA mit dem Problem der Notwendigkeit der Dialysebehandlung. Hieraus geht eindeutig hervor, daß der Versicherungsfall der Nierenerkrankung bereits vor Ablauf der Dreimonatsfrist des § 213 RVO eingetreten ist. Dem steht nicht entgegen, daß sich die Notwendigkeit einer Dialysebehandlung erst später ergeben hat; denn der Begriff des Versicherungsfalles wird nicht durch den Eintritt der Notwendigkeit einzelner Heilmaßnahmen, sondern durch den Eintritt der ersten, die Folgeerkrankungen auslösende Krankheit zeitlich bestimmt (Grundsatz der Einheit des Versicherungfalles – vgl. BSG 25 S. 37). Die Bescheinigung vom 5.8.1974 läßt erkennen, daß sich die Nierenerkrankung in einer bestimmten Richtung verschlechtert hat; eine neue Nierenerkrankung ist danach nicht als neuer Versicherungsfall eingetreten. Deswegen bestand auch keine Veranlassung zur Einholung von Sachverständigengutachten wegen des Eintritts des Versicherungsfalles.

Nach alldem erweist sich die Berufung der Beklagten insoweit als begründet, als sie nicht nach § 213 RVO leistungspflichtig ist.

Das angefochtene Urteil war daher abzuändern und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil die Auslegung des § 213 RVO von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Rechtskraft
Aus
Saved