L 4 RJ 180/99

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 11 (14,15) RJ 13/96
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 4 RJ 180/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 RJ 187/00 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17. August 1999 wird als unzulässig verworfen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die am ...1925 in Kosice (Kaschau) in der Tschechoslowakei geborene Klägerin ist Jüdin und lebte - unterbrochen durch die Verfolgungszeit - nach ihren eigenen Angaben bis 1949 in ihrem Geburtsort; dort besuchte sie von 1931 bis 1937 die jüdische Volksschule und bis 1939 die Mittelschule. Wegen des in der Zeit vom 15.04.1944 bis 30.04.1945 erlittenen Schadens an Freiheit ist sie nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) entschädigt worden. Der Inhaftierungs- und Aufenthaltsbescheinigung vom 29.04.1955 ist zu entnehmen, daß die Klägerin bei ihrem Aufenthalt im Konzentrationslager Dachau, in das sie von Auschwitz kommend am 27.07.1944 eingeliefert worden ist, als Beruf "Schneiderin" angegeben hat. 1947 hat die Klägerin geheiratet; seit 1977 ist sie verwitwet. Im September 1949 ist sie in Israel eingewandert, dessen Staatsangehörigkeit sie erworben hat.

Am 07.01.1991 machte die Klägerin erstmals Ansprüche nach dem Fremdrentengesetz (FRG) geltend und gab unter dem 16.07.1991 an, von 1939 bis 1944 und von 1945 bis 1949 versicherungspflichtig als Schneiderin in Kosice gearbeitet zu haben. Dabei bejahte sie auch die Frage nach der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK). Als Muttersprache gab sie Deutsch an, als Umgangssprachen im Herkunftsgebiet Deutsch und Tschechisch. Die Frage, ob sie Jiddisch gesprochen habe, verneinte sie.

Auf Anfrage der Beklagten wurde unter dem 06.05.1993 aus P. mitgeteilt, daß in der dortigen zentralen Evidenz keinerlei Unterlagen über die Beschäftigung der Klägerin vorlägen. Bei einer am 29.04.1993 durchgeführten Sprachprüfung, bei der die Klägerin auch angab, sich von 1937 bis 1938 in einer Schneiderlehre befunden zu haben, wurde festgehalten, daß sie fließend deutsch mit regionalem Einschlag und beschränktem Wortschatz spreche, leichte Texte mit Verständnis lese, aber nicht deutsch schreibe.

Mit bindend gewordenem Bescheid vom 09.05.1994 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente aus der Arbeiterrentenversicherung mit der Begründung ab, daß diese nicht dem dSK angehört habe und deshalb die Voraussetzungen von § 17 a FRG und § 20 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) nicht vorlägen; die Klägerin habe nach ihren Angaben im Sprachprüfungsprotokoll im persönlichen Lebensbereich neben der deutschen auch die ungarische Sprache benutzt; die Eltern hätten Jiddisch, Ungarisch und Slowakisch gesprochen; die Umgangssprachen in der im Jahre 1947 geschlossenen Ehe seien Deutsch und Ungarisch gewesen; es könne auch nicht davon ausgegangen werden, daß die Klägerin die deutsche Sprache überwiegend verwandt habe, denn sie sei nicht in der Lage gewesen, eine deutsche Schriftprobe abzulegen.

Am 22.05.1995 übersandte die Klägerin eine Versicherung an Eides Statt der Eva G. vom 13.10.1993 "zur Überprüfung der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis" und legte weiter eine eidesstattliche Versicherung der Schoschana Schiff vom 31.07.1995 vor. Mit Bescheid vom 12.09.1995 lehnte die Beklagte den Überprüfungsantrag auf der Grundlage von § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) mit der Begründung ab, daß bei erneuter Prüfung festgestellt worden sei, daß keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen worden seien; die Angaben der Zeuginnen G. und Sch. widersprächen den eigenen Angaben der Klägerin, wonach im Elternhaus neben der deutschen auch die ungarische Sprache gesprochen worden sei; es verbleibe bei dem Ablehnungsbescheid vom 09.05.1994. Den nicht mit einer Begründung versehenen Widerspruch vom 26.09.1995 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.12.1995 nach Lage der Akten zurück.

Die Klägerin hat am 15.01.1996 Klage erhoben und vorgetragen, daß Deutsch die in ihrem Elternhaus überwiegend benutzte Sprache gewesen sei.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12.09.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.1995 zu verurteilen, den Bescheid vom 09.05.1994 aufzuheben und unter Zugrundelegung von Pflichtbeitragszeiten in den Jahren 1939 bis 1949 Altersruhegeld zu bewilligen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht (SG) hat u.a. nach Einholung einer Auskunft der Heimatauskunftstelle für die Sowjetunion, Bulgarien, Bessarabien und Dobrudscha beim Landesausgleichsamt Baden-Württemberg vom 26.08.1998 die Klage mit Urteil vom 17.08.1999 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Anspruch auf Bewilligung von Altersruhegeld scheitere daran, daß Fremdrentenzeiten nicht angerechnet werden könnten, weil die Klägerin nicht dem dSK angehört habe. Zwar verfüge sie über Kenntnisse der deutschen Sprache, habe sich dieser jedoch zum Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftsgebietes bzw. des Verfolgungsbeginns nicht überwiegend bedient.

Gegen das ihren Bevollmächtigten laut Empfangsbekenntnis am 24.08.1999 zugestellte Urteil ist am 01.09.1999 per Fax - ohne Nachreichung des Orginalschriftsatzes - unter dem Briefkopf der Rechtsanwälte Dr. F ... R ... und S ... R ... Berufung eingelegt worden. Unterschrieben worden ist das Fax von einem Rechtsanwalt Sch ... - Unterschrift fast unleserlich - mit dem Zusatz "i.V. RA Sch ...". Rechtsanwalt Dr. R ... hat sich erstmals mit unterschriebenem Schreiben am 29.11.1999 gemeldet und Rechtsanwältin S ... R ..., die nach Rückgabe der Anwaltszulassung durch Dr. R ... die Praxis nunmehr allein führt, am 13.12.1999 mit der Berufungsbegründung. In der Sache wird weiter vorgetragen, daß die Klägerin dem dSK angehört habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17. August 1999 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12. September 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 zu verurteilen, den Bescheid vom 09. Mai 1994 zurückzunehmen und ihr unter Anerkennung von Fremdrentenzeiten Altersruhegeld zu gewähren,

hilfsweise,

ihr wegen Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Mit Verfügung vom 29.03.2000 ist die Klägerin darauf hingewiesen worden, daß Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung bestehen. Dazu erklärt die Klägerin durch ihre Anwältin, daß die Berufungseinlegung durch Rechtsanwalt Sch ... ausdrücklich genehmigt, vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und gleichzeitig Berufung eingelegt werde. Eine Rechtsgrundlage dafür, daß es für die Wirksamkeit der Berufungseinlegung der Nachreichung des Originals bedürfe, sei nicht ersichtlich. Außerdem habe davon ausgegangen werden dürfen, daß die Berufungsschrift im Original beim Landessozialgericht eingegangen sei.

Die Verwaltungsakten der Beklagten und die über die Klägerin geführten Entschädigungsakten des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Auf den Inhalt dieser Akten und den der Streitakten wird wegen aller weiteren Einzelheiten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist unzulässig, weil sie - bzw. die von ihr bevollmächtigten Rechtsanwälte - nicht binnen der Berufungsfrist, deren Lauf angesichts der Zustellung des angefochtenen Urteils am 24.08.1999 bis zum 24.09.1999 andauerte, eine eigenhändig unterschriebene Berufungsschrift eingereicht hat (vgl. dazu Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl. 1998, § 151 Rn. 5c). Wie von der Klägerin nicht in Abrede gestellt wird, ist - s. § 126 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) - eine persönliche und handschriftliche Unterschriftsleistung des Berufungsführers bzw. seiner Bevollmächtigten (so ausdrücklich Behn in Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbakreit, Bd. 3, 4. Aufl. Stand 3/96, § 151 SGG Rn. 85) unabdingbar erforderlich (vgl. dazu Gemeinsamer Senat der Obersten Bundesgerichte, Beschluss vom 30.04.1979, SozR 1500 § 164 Nr. 14; Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 20.12.1979, SozR 1500 § 151 Nr. 8; Meyer-Ladewig aaO Rn. 4; Behn aaO Rn. 83 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; s.a. Senatsurteil vom 20.09.1999, L 4 RJ 133/99). Nur bei Behörden gelten gewisse Erleichterungen dergestalt, daß eine maschinenschriftlich wiedergegebene Unterschrift des vertretungsberechtigten Beamten mit unterzeichnetem Beglaubigungsvermerk ausreicht (Meyer-Ladewig aaO Rn. 4a). Das bedeutet zugleich, daß auch bei Behörden ein nicht mit einer Unterschrift versehenes Berufungsschreiben keine zulässige Berufungseinlegung bewirkt. Diese somit erforderliche handschriftliche Unterschrift der Klägerin bzw. der von ihr bevollmächtigten Rechtsanwälte fehlt unter dem Schreiben vom 30.08.1999, das allein innerhalb der Berufungsfrist, nämlich am 01.09.1999 eingegangen ist. Der Rechtsanwalt Sch ..., der von der Klägerin nicht bevollmächtigt ist, hat sich im übrigen auch nicht als Bevollmächtigter geriert, sondern ausdrücklich nur als Vertreter der tatsächlich bevollmächtigten Rechtsanwälte bezeichnet. Die Unterschrift einer in dieser Weise beauftragten Person reicht nicht aus.

Auf die weitere Frage, ob dieses lediglich per Fax eingereichte Schreiben ausreichen kann, obwohl nicht das Original des Schriftsatzes nachgereicht worden ist, braucht unter diesen Umständen nicht mehr eingegangen zu werden. Die weiteren von dem damals bevollmächtigten Dr. R ... bzw. der heute allein noch bevollmächtigten S ... R ... unterzeichneten Schriftsätze sind nicht mehr innerhalb der Berufungsfrist eingegangen.

Auch die von der Klägerbevollmächtigten nunmehr erklärte "Genehmigung" der Berufungseinlegung durch Rechtsanwalt Sch ... reicht nicht aus. Eine Genehmigung, also eine nachträgliche Zustimmung im Sinne von § 184 BGB, vermag nicht die Vollmacht zu ersetzen, die vor der in Rede stehenden Prozeßhandlung - lediglich die Vollmachtsurkunde kann nachgereicht werden, s. Meyer-Ladewig aaO § 73 Rn. 18 - vorgelegen haben muß. Das ist hier nicht der Fall und wird auch seitens der Klägerbevollmächtigten nicht vorgetragen.

Gegen die Versäumung der Berufungsfrist konnte der Klägerin keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, weil die Voraussetzungen des § 67 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht vorliegen. Abgesehen davon, daß die Einhaltung der Frist des § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht feststellbar ist, sind die Voraussetzungen des § 67 Abs. 1 SGG nicht erfüllt, denn in der fehlenden Unterschriftsleistung der bevollmächtigten Rechtsanwälte liegt ein typisches Anwaltsverschulden (vgl. dazu auch Meyer-Ladewig aaO Rn. 5c). Ein Rechtsanwalt muß wissen, daß eine Berufung nur zulässig ist, wenn ihre schriftliche Einlegung ordnungsgemäß unterschrieben ist. Es sind keinerlei Gründe ersichtlich, daß die damaligen beiden Rechtsanwälte verschuldensunabhängig von dieser Erfüllung der ihnen obliegenden Pflicht abgehalten worden wären.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt der überholenden Kausalität in Betracht. Eine solche überholende Kausalität, die dann das Anwaltsverschulden als nicht mehr oder zumindest nicht mehr allein als für die Fristversäumung ursächlich erscheinen lassen könnte, wird in Rechtsprechung (Beschluss des Großen Senats des BSG vom 10.12.1974, GS 2/73, SozR 1500 § 67 Nr. 1 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Finanzgericht - FG - Düsseldorf, Urteil vom 14.08.1998, 16 K 559/94) und Schrifttum (vgl. Meyer-Ladewig aaO § 67 Rn.: "in Ausnahmefällen") unter dem Gesichtspunkt erörtert, dass das Parteilverschulden bei normalem Lauf der Dinge durch von anderer Seite zu erwartendes pflichtgemäßes Handeln ausgeschaltet worden wäre. Behandelt worden ist der Fall, dass eine Rechtsmittelschrift trotz ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung nicht an das zuständige Gericht, sondern an eine unzuständige Stelle (z.B. Gericht, Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts) übersandt und von dieser unzuständigen Stelle infolge pflichtwidrigen Verhaltens erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist an das zuständige Gericht weitergeleitet worden ist. So hat der Große Senat des BSG (aaO) dann, wenn der Kläger eine natürliche unvertretene Person ist, eine überholende Kausalität bejaht. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 93, 99, Beschluss vom 20.06.1995, 1 BvR 166/93) hat ebenfalls die Pflicht des unzuständigen Gerichts zur Weiterleitung von fristgebundenen Schriftsätzen für das Rechtsmittelverfahren bejaht, allerdings nur mit der Maßgabe, dass das nunmehr unzuständige Gericht vorher selbst mit dem Verfahren befaßt war, und nur für die Zivilgerichtsbarkeit, deren Urteile - im Gegensatz zu denen der Sozialgerichtsbarkeit - nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen werden müssen. Das FG Düsseldorf wiederum hat eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in dem Falle verneint, dass ein Steuerberater einen Anspruch auf Investionszulage beim örtlich unzuständigen Finanzamt einreicht: Das unzuständige Finanzamt habe keinen Vertrauenstatbestand dergestalt gesetzt, dass der Antragsteller nach Treu und Glauben darauf habe vertrauen dürfen, dass der Antrag nicht wegen des Formmangels abgelehnt werde. Auch in Rechtsprechung und Schrifttum zum SGG wird einhellig die Auffassung vertreten, das weder eine Behörde noch ein Gericht verpflichtet ist, jedes eingehende Schriftstück darauf zu untersuchen, ob es weitergeleitet werden muss (Behn, RV 86, 2; Meyer-Ladewig aaO § 67 Rn. 4a, beide mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BSG).

Jedenfalls im vorliegenden Falle vermag der Gesichtspunkt der überholenden Kausalität nicht durchzugreifen. Seit dem Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 07.06.1988 (IX ZR 144/87, BGHZ 104, 355 ff) besteht im Schadensersatzrecht Einigkeit darüber, daß es sich bei der sogenannten überholenden oder hypothetischen Kausalität tatsächlich nicht um ein Problem der Kausalität, sondern um eine Frage der Schadenszurechnung handelt (s.a. Grunsky in Münchener Kommentar zum BGB, 3. Aufl. 1994, Vor § 249 Rn. 78 ff; Staudinger-Medicus, Kommentar zum BGB mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 12. Aufl. 1983, § 249 Rn. 98 ff; Palandt-Heinrichs, Kommentar zum BGB, 59. Aufl. 2000, Vorbem v § 249 Rn. 96). Denn daß der durch das haftungsbegründende Ereignis real bewirkte Schaden später durch einen anderen Umstand (die Reserveursache) ebenfalls herbeigeführt worden wäre, kann an der Kausalität der realen Ursache nichts ändern. Ob die Reserveursache beachtlich ist und zu einer Entlastung des Schädigers führen kann, ist eine Wertungsfrage, die für verschiedene Fallgruppen unterschiedlich zu beantworten sein kann. Gemeint sind Fälle, in denen das Vermögen des Geschädigten durch eine zweite Schadensursache so geschädigt wird, daß im Ergebnis der Schaden auch ohne die schädigende Handlung des ersten Schädigers eingetreten ist. Gewendet auf den vorliegenden Fall bedeutet das, daß erste und zweite Schädigung wertend gegeneinander abzuwägen sind. Im Rahmen einer solchen Wertung kann aber die -unterstellte- Schadensverursachung durch das Gericht nicht mit dem Anwaltsverschulden auf eine Stufe gestellt werden. Denn während der Rechtsanwalt den Schaden durch Unachtsamkeit, Nachlässigkeit o.ä. verursacht hat, kann bei dem Gericht allenfalls von einer Unterlassung der Schadensabwendung die Rede sein (vgl. dazu Medicus aaO Rn. 114), wobei es noch der weiteren Wertung bedürfte, ob das Gericht hier in einer die Beteiligten in den Schutzbereich einzubeziehenden echten Verpflichtung steht oder ob es sich um eine reine Obliegenheit handelt oder sogar nur um ein nobile officium - für welch letztere Möglichkeit mindestens zwei Gesichtspunkte sprechen, nämlich der Ausschluß des Anreizes, frühestmöglich "irgendwie" die Einlegung der Berufung zu signalisieren und alle Formalitäten den Hinweisen des Gerichts zu überlassen, sowie weiter die Schwierigkeit der Abgrenzung, bis zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Anstrengungen das Gericht zu Hinweisen verpflichtet ist. Gegen die Annahme von hypothetischer oder überholender Kausalität spricht schließlich noch ein faktischer Gesichtspunkt. Selbst wenn das Gericht rechtzeitig vor dem Ende der Berufungsfrist eindeutige Hinweise gibt, ist damit noch nicht sichergestellt, dass die rechtsmittelführende Partei diesen Hinweisen tatsächlich auch folgt und nicht z.B. wieder nachlässig handelt. Die ordnungsgemäße Nachholung der Formalitäten kann deshalb in der bei Entscheidung des Rechtsstreits nur noch möglichen nachträglichen Betrachtung (ex post) nur als zukünftiges ungewisses - wenn auch durchaus wahrscheinliches, aber eben nicht sicheres - Ereignis in die Betrachtung einbezogen werden.

Ungeachtet der dogmatischen Bedenken gegen die Annahme von überholender Kausalität ist es immerhin vorstellbar, jedenfalls für die Sozialgerichtsbarkeit in geeigneten Fällen eine weitergehende Prüfungspflicht anzunehmen und das Gericht hinsichtlich bei ihm selbst anhängiger Verfahren als verpflichtet anzusehen, innerhalb der noch laufenden Rechtsmittelfrist auf eine Beseitigung von Formmängeln hinzuwirken. Die dogmatische Begründung einer solchen Obliegenheit des Gerichts könnte sich dabei aus der Formliberalität des SGG (so Behn aaO) zugunsten der oftmals rechtsungewandten Klientel (so schon Bundestags-Drucksache I/4357 S. 27) ergeben, die in der Sozialgerichtsbarkeit Rechtsschutz suchen. Tatsächlich praktiziert auch der erkennende Senat wo irgendmöglich diesen Gedanken in Form eines nobile officium und weist etwa unvertretene natürliche Personen auf eine fehlende Unterschriftleistung unter der Berufungsschrift hin, sofern die Nachholung des Formmangels innerhalb der Restlaufzeit der Berufungsfrist noch faktisch möglich ist.

Eine solche Verpflichtung oder Obliegenheit des Gerichts, sofern sie tatsächlich rechtlich begründbar ist, was hier ausdrücklich offenbleibt - zu den Bedenken s.o. - würde aber jedenfalls entfallen, wenn die klagende natürliche Person rechtskundig, insbesondere anwaltlich vertreten ist, was umso mehr im Falle der Bevollmächtigten der Klägerin gilt, die seit Jahrzehnten in ungezählten Fällen (insbesondere Verfolgte betreffende Wiedergutmachungsstreitigkeiten) in der gesamten Sozialgerichtsbarkeit auftreten. Mangels Prüfungsverpflichtung gegenüber prozessualen Handlungen dieser professionellen Rechtsvertreter scheidet schon deshalb die Annahme von überholender Kausalität aus.

Schließlich ist - entgegen dem Vortrag der Bevollmächtigten der Klägerin - die Berufung auf den Formmangel mit der Folge der Unzulässigkeit des Rechtsmittels auch nicht etwa treuwidrig. Ein solcher Verstoß gegen Treu und Glauben mag diskutabel sein, wenn seitens des Gerichts gegenüber dem Rechtsmittelführer ein Vertrauenstatbestand geschaffen wird, der bewirkt, dass dieser von der Zulässigkeit des Rechtsmittels und dem Eintritt in die Sachpüfung ausgehen darf. Ein derartiges einen solchen Vertrauenstatbestand begründendes nachhaltiges Verhalten (so ausdrücklich FG Düsseldorf aaO) hat der Senat aber zu keinem Zeitpunkt gezeigt. Neben prozessualen Hinweisen (Anmahnung der Berufungsbegründung, Anfrage nach § 124 Abs. 2 SGG) ist lediglich die Beklagte um Überprüfung ihres Vortrages hinsichtlich der Schwester der Klägerin und um Korrektur gebeten worden. Eine vertiefte Beschäftigung mit der Sache selbst, deren Voraussetzung regelmäßig die Vorlage der Berufungsbegründung ist, konnte dem nicht entnommen werden und war auch noch nicht erfolgt. Deshalb kann in diesen wenigen prozeßleitenden Verfügungen, die im wesentlichen durch die Zögerlichkeit der Rechtsanwälte bei der Abfassung der Berufungsbegründung veranlaßt waren, kein einen Vertrauenstatbestand mit den weitreichenden Auswirkungen auf die Zulässigkeit der Berufung begründendes gerichtliches Verhalten gesehen werden.

Aber unabhängig von diesen tatsächlichen Handlungen des Senats - genauer: nur des Berichterstatters - kann es schon rechtlich auf sie nicht mehr ankommen, weil die Berufungsfrist bereits lange vorher abgelaufen war. Innerhalb der Berufungsfrist ist außer der formularmäßigen Eingangsbestätigung überhaupt keine Äußerung gegenüber der Klägerin erfolgt. Und nur positive Handlungen bis zum Ende der Berufungsfrist könnten unter Beachtung des Kausalitätsgedankens geeignet sein, ein rechtlich schützenswertes Vertrauen in die Zulässigkeit des Rechtsmittels zu begründen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Anlaß, die Revision zuzulassen, bestand nicht.
Rechtskraft
Aus
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