L 2 P 33/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 44 P 124/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 33/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. November 2003 insoweit abgeändert, als die Beklagte 2.828,20 Euro nebst Zinsen zu zahlen hat.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Zahlung von Pflegeleistungen nach Pflegestufe II vom 21.02.2002 bis zum 31.07.2002.

Die 1907 geborene und am 10.12.2003 verstorbene Klägerin hatte mit der Beklagten einen privaten Pflegepflichtversicherungsvertrag geschlossen. Auf ihren Antrag vom 27.10.1999 gewährte die Beklagte nach Einholung eines Gutachtens vom 07.12.1999 Leistungen der Pflegestufe I. Im Gutachten vom 30.04.2000 erklärte der Gutachter Dr. H. , unter Berücksichtigung aller pflegerelevanten Verrichtungen liege Pflegestufe I aufgrund noch ausreichend vorhandener Selbständigkeit und oftmals nur teilweise erforderlichen Hilfebedarfs vor. Während Dr. B. im Gutachten vom 07.12.1999 einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 52 Minuten angenommen hatte, hielt Dr. H. einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 70 Minuten für gegeben.

Mit Schreiben vom 13.09.2001 beantragte die Klägerin wegen zunehmender Schwäche Leistungen nach Pflegestufe II. Im Gutachten vom 04.10.2001 hielte Dr. T. im Bereich der Grundpflege einen Hilfebedarf von 89 Minuten für gegeben. Seit der letzten Begutachtung habe sich der Pflegebedarf nur wenig erhöht. Die Mobilität habe sich nicht verändert, sei altersbedingt sogar noch erstaunlich gut, die Merkfähigkeit habe etwas nachgelassen. Der Pflegebedarf entspreche weiterhin der Stufe I. Auf den Widerspruch der Klägerin wurde ein weiteres Gutachten von Dr. H. vom 21.02.2002 eingeholt. Dr. H. führte aus, die Klägerin sei vor allem aufgrund des dementiellen Syndroms mit ausgeprägten Gedächtnisstörungen und des sehr schlechten Sehvermögens bei vielen Verrichtungen des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen. Der Faustschluss könne an beiden Händen nicht vollständig erfolgen. Bücken könne sich die Klägerin im Stehen nicht, im Sitzen eingeschränkt. Sie liege tagsüber viel und verlasse die Wohnung allein nicht. In ihrer gewohnten Umgebung finde sie sich trotz des hochgradig verminderten Sehvermögens zurecht. Es bestehe teilweise Urininkontinenz, gelegentlich auch Stuhlinkontinenz sowie ein allgemeines Nachlassen der Körperkräfte. Sie könne sich nicht mehr alleine duschen oder waschen, brauche Hilfe bei der Zahnpflege, beim Kämmen und bei der Stuhl- und Blasenentleerung. Die Nahrung müsse man ihr mundgerecht zerkleinern, beim Essen brauche sie Aufforderung, Ermunterung und Beaufsichtigung. Besonders müsse man darauf achten, dass sie ausreichend trinke. Morgens bekomme sie Hilfe beim Aufstehen, abends werde sie ins Bett gebracht. Das An- und Ausziehen werde in Form einer aktivierenden Pflege durchgeführt. Pflegeerschwerende Faktoren seien nicht vorhanden, die Klägerin sei bei den pflegerischen Maßnahmen kooperativ. Insgesamt ergebe sich ein anrechenbarer Grundpflegebedarf von 96 Minuten im Tagesdurchschnitt.

Mit Schreiben vom 11.03.2002 lehnte die Beklagte die Bewilligung von Leistungen der Pflegestufe II ab.

Mit der Klage vom 24.06.2002 machte die Klägerin geltend, im Gutachten werde zwar die Sehminderung beschrieben, der Gutachter stelle aber fest, dass pflegeerschwerende Faktoren nicht vorhanden seien. Die fast vollständige Erblindung sei ein pflegeerschwerender Umstand. Ebenso sei die psychische Verfassung nicht ausreichend berücksichtigt worden. Das Duschen dauere nicht, wie vom Gutachter angenommen, 20 Minuten, sondern 25 Minuten. Weiter sei ein Hilfebedarf beim Kämmen von zweimal täglich je 3 Minuten zu berücksichtigen. Bei der Darm- und Blasenentleerung sei eine zweimal tägliche Versorgung erforderlich, die jeweils 5 Minuten dauere. Das Richten der Bekleidung nehme je 2 Minuten in Anspruch. Das Wechseln kleiner Vorlagen sei dreimal täglich mit je 2 Minuten zu berücksichtigen. Der Gesamtaufwand für die Körperpflege betrage daher mindestens 67 Minuten. Im Bereich der Ernährung ergebe sich ein Bedarf von ca. 43 Minuten, da die Klägerin blind sei und selbstständig weder esse noch trinke. Wegen der Bewegungseinschränkungen benötige die Klägerin Hilfe beim Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, beim An- und Ausziehen sowie beim Transfer zur Dusche oder zur Toilette. Der Zeitaufwand im Bereich Mobilität liege daher bei täglich mindestens 40 Minuten. Insgesamt betrage der grundpflegerische Zeitaufwand täglich mindestens 150 Minuten.

Zu diesem Schreiben erklärte der Gutachter Dr. H. im Schreiben vom 01.08.2002, er habe das hochgradig eingeschränkte Sehvermögen als pflegebegründende Diagnose aufgeführt. Zusätzliche pflegeerschwerende Faktoren lägen aber nicht vor. Zu berücksichtigen sei, dass die Klägerin sich ausgesprochen kooperativ verhalte, was sich pflegeerleichternd auswirke. Auch treffe es nicht zu, dass er die psychische Verfassung nicht ausreichend berücksichtigt habe. Bei voller Übernahme des Duschens wirke sich das schlechte Sehvermögen nicht wesentlich pflegeerschwerend aus. Zum Begutachtungszeitpunkt habe sich die Klägerin noch selbst gekämmt. Ein Nachbessern sei ausreichend berücksichtigt worden. Zum Zeitpunkt der Begutachtung habe die Klägerin noch selbst gegessen und getrunken. Auch sei die Klägerin zu diesem Zeitpunkt in ihrer Wohnung selbständig mobil gewesen, d.h. sie habe umhergehen können. Auch hinsichtlich der übrigen pflegerischen Maßnahmen habe er den Zeitbedarf ausreichend berücksichtigt.

Die Beklagte wies im Schreiben vom 20.08.2002 darauf hin, dass eine offenbare Unrichtigkeit des Gutachtens des Dr. H. nicht gegeben sei. Dagegen wandte die Klägerin ein, das Gutachten sei offensichtlich unrichtig. Dr. H. habe die pflegeerschwerenden Umstände nicht ausreichend berücksichtigt.

Der vom Sozialgericht zum ärztlichen Sachverständigen ernannte Internist Dr. G. führte im Gutachten vom 09.01.2003 (nach einem Hausbesuch vom 08.01.2003) aus, im Juni 2002 sei die Klägerin gestürzt. Nach einer stationären Behandlung im Bezirkskrankenhaus E. vom 19.09. bis 14.10.2002 sei sie ins Seniorenzentrum M. gekommen. Unter Berücksichtigung der Untersuchungsergebnisse und der Angaben der Stationsschwester bewertete Dr. G. den Hilfebedarf ab 14.10.2002 mit 279 Minuten. Zu berücksichtigen sei, dass sich der Hilfebedarf zwischen Dezember 1999 und April 2000 von 52 auf 70 Minuten erhöht habe. Am 04.10.2001 habe Dr. T. dann einen Grundpflegebedarf von 89 Minuten festgestellt. Dr. H. habe den Zeitbedarf für die Grundpflege mit 96 Minuten angegeben. Er sei nicht darauf eingegangen, dass gerade durch das dementielle Syndrom und das schlechte Sehvermögen (im rechtlichen Sinne liege eine Erblindung vor) eindeutige Erschwernisfaktoren bestünden, die sich auf alle Bereiche ungünstig auswirkten. Auch sei dem Gutachten zu entnehmen, dass beispielsweise Greifbewegungen nicht vollständig erfolgen konnten. Dies seien Hinweise darauf, dass der tatsächliche Pflegebedarf zu niedrig eingeschätzt worden sei. Der Zeitbedarf für die Zahnpflege und das Kämmen erschienen knapp bemessen. Nicht berücksichtigt sei der erhebliche Hilfebedarf beim Gehen, vor allem im Hinblick auf das dementielle Syndrom und die Blindheit. Schon zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. H. sei ein Hilfebedarf von 74 Minuten für den Bereich der Körperpflege, von 21 Minuten für den Bereich der Ernährung und von 34 Minuten für den Bereich der Mobilität zu berücksichtigen, insgesamt also 129 Minuten für die Grundpflege. Da von einer kontinuierlichen Verschlechterung auszugehen sei, sei es wahrscheinlich, dass die Voraussetzungen für die Pflegestufe II zumindest ab 21.02.2002 vorgelegen hätten.

Die Beklagte erkannte im Schreiben vom 25.02.2003 an, dass ab 01.08.2002 die Voraussetzungen der Pflegestufe III vorlägen. Der Antrag vom 13.09.2001 sei aber zu Recht abgelehnt worden.

Die Klägerin wandte mit Schreiben vom 20.03.2003 ein, Leistungen der Pflegestufe II seien ab 21.02.2002 zu gewähren. Im Schreiben vom 28.10.2003 machte sie einen Betrag von 5.674,30 Euro geltend.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 07.11.2003 beantragte der Bevollmächtigte der Klägerin, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.838,42 Euro nebst 5% Zinsen über dem Basissatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen. Dieser Betrag ergab sich aus der Differenz zwischen Pflegestufe II und Stufe I für den Zeitraum ab 21.02.2002 bis 30.07.2002

Mit Urteil vom 07.11.2003 wurde die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 2.838,42 Euro nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit Rechtshängigkeit zu zahlen. Die Klägerin habe im Zeitraum vom 21.02.2002 bis 31.07.2002 Anspruch auf Leistungen nach Pflegestufe II gehabt. Der Antrag der Klägerin vom 13.09.2001 sei von der Beklagten mit Schreiben vom 11.03.2002 abgelehnt worden. Die Voraussetzungen für die Gewährung der Pflegestufe II seien zumindest ab 21.02.2002 anzunehmen. Dr. H. habe den Pflegebedarf nicht ausreichend gewürdigt. Der Gesundheitszustand der Klägerin habe sich kontinuierlich verschlechtert, so dass im streitgegenständlichen Zeitraum die Bedarfsgrenze von Pflegestufe I zu Pflegestufe II überschritten worden sei. Es liege eine offenbare Unrichtigkeit des Gutachtens des Dr. H. vor, da er die Blindheit sowie weitere gesundheitliche Einschränkungen offenbar nicht in ausreichendem Umfang gewürdigt habe. Der Klägerin sei daher der Differenzbetrag zwischen Pflegestufe I und Pflegestufe II zuzusprechen.

Mit der Berufung vom 02.06.2004 wandte die Beklagte ein, das Gericht habe nicht begründet, worin die fehlende Würdigung der gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin gelegen habe und welche Auswirkungen mit welchem Zeitaufwand bei welchen Pflegeverrichtungen dies gehabt haben solle. Im Übrigen sei der Urteilsbetrag unzutreffend; wenn man vom Unterschiedsbetrag der Leistungen bei Pflegestufe I von 384,00 Euro und bei Stufe II von 921,00 Euro, also 537,00 Euro, ausgehe, ergebe sich für den Zeitraum vom 21.02.2002 bis 31.07.2002 ein Betrag von 2.828,20 Euro.

Mit Schreiben vom 19.07.2004 teilte der Bevollmächtigte der Klägerin mit, dass diese zwischenzeitlich verstorben sei. Testamentsvollstrecker sei der Sohn der Klägerin F. S ... Sonderrechtsnachfolger seien nicht vorhanden.

Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

Die Beklagte beantragte,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 07.11.2003 aufzuheben und die Klage kostenpflichtig abzuweisen.

Der Rechtsnachfolger der Klägerin beantragte,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Unterlagen der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, sachlich aber nur teilweise begründet. Im Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat im schriftlichen Verfahren gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden.

Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird abgesehen, da der Senat die Berufung im Übrigen aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 153 Abs. 2 SGG).

Zu Recht hat das Sozialgericht München die Beklagte zur Gewährung von Leistungen der Pflegestufe II ab 21.02.2002 verurteilt. Gemäß § 64 Abs. 1 S. 1 VVG (Versicherungsvertragsgesetz) sind Versicherer und Versicherungsnehmer an die Feststellungen des ärztlichen Sachverständigen zu den Voraussetzungen des Anspruchs aus der Versicherung grundsätzlich gebunden, wenn dies - wie hier - vertraglich vereinbart worden ist. Die Feststellungen des Arztes sind nur dann nicht verbindlich, wenn sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen, wobei auf den Sachstand und die Erkenntnismittel zum Zeitpunkt der Begutachtung abzustellen ist. Dabei ist das Gesamtergebnis des Sachverständigengutachtens maßgeblich; wenn abgrenzbare Teilbereiche der gutachterlichen Feststellungen fehlerhaft sind, so sind sie selbständig angreifbar, nur der Rest bleibt verbindlich (vgl. BSG vom 22.07.2004, B 3 P 6/03 R). Die Klägerin bzw. ihr Bevollmächtigter haben die offenbare Unrichtigkeit des Gutachtens des Dr. H. vorgetragen. Ihre Einwendungen wurden schließlich im Gutachten des Dr. G. vom 09.01.2003 bestätigt. Dr. H. hat die von ihm bei der Untersuchung vom 21.02.2002 festgestellten Gesundheitsstörungen der Klägerin bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit nicht ausreichend berücksichtigt. So hat er bezüglich der Ernährung nicht berücksichtigt, dass die Klägerin wegen Beugedefiziten an den Fingern zwei bis fünf zu keinem vollständigen Faustschluss fähig ist, also nicht selbständig essen und trinken kann, da sie Löffel oder Trinkgefäß nicht sicher halten kann. Nicht hinreichend berücksichtigt sind auch die Auswirkungen des hochgradig verminderten Sehvermögens, das Dr. H. zwar festgestellt hat, dessen pflegebedarfsrelevante Auswirkungen er aber nicht ausreichend bewertet hat.

Bezüglich des streitigen Betrags ist von 2.828,20 Euro auszugehen, der Differenz zwischen den gewährten Leistungen nach der Pflegestufe I und den zu gewährenden Leistungen nach der Pflegestufe II für den Zeitraum vom 21.02.2002 bis 31.07.2002.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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