L 4 P 5238/03

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 4 P 270/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 5238/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. November 2003 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Klägerin ab 01. Juni 2002 Pflegegeld nach Pflegestufe III im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Elften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) beanspruchen kann.

Die am 1985 geborene Klägerin, die am 15. Mai 2002 in die Bundesrepublik eingereist ist, ist über ihren Vater bei der Beklagten familienpflegeversichert. Bei ihr besteht aufgrund eines bei der Geburt aufgetretenen hypotoxischen Hirnschadens eine infantile Cerebralparese mit inkompletter spastischer Tetraparese sowie Stuhl- und Harnkontinenz. Sie kann auch nicht sprechen. Sie wird von ihrer Mutter und ihrer Schwester gepflegt. Im Antrag auf Geldleistungen der Pflegeversicherung vom 06. Juni 2002 wurde bei der Klägerin Hilfe bei der Ernährung und bei der Körperpflege geltend gemacht. Die Beklagte veranlasste die Untersuchung der Klägerin in ihrer häuslichen Umgebung durch Dr. A. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Baden-Württemberg in E., die am 27. Juni 2002 durchgeführt wurde. Im daraufhin erstatteten Gutachten vom 15. Juli 2002 stellte die Ärztin einen täglichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 135 Minuten fest, nämlich 74 Minuten bei der Körperpflege, 46 Minuten bei der Ernährung und 15 Minuten bei der Mobilität. Der Klägerin sei das Gehen möglich. Sie sei in der Lage, sich Hände und Gesicht zu waschen, wenn man ihr einen Waschlappen in die Hand gebe und ihr sage, was sie machen müsse. Nach Stuhlgang/Wasserlassen müsse Intimhygiene durchgeführt werden. Die Klägerin wehre sich meist gegen das Waschen, schreie und schlage zum Teil; aufgrund der motorischen Fähigkeiten wäre sie in der Lage, bei der Körperpflege mehr mitzuhelfen, könne dies jedoch cerebral nicht umsetzen. Oft spiele sie mit dem Essen, müsse zum Teil gefüttert werden, wehre sich gegen das Essen und spucke dies wieder aus. Die Speisen müssten klein geschnitten werden. Die Klägerin melde sich nicht, wenn sie Durst habe; sie müsse zum Trinken animiert und zum Teil müsse ihr das Getränk gereicht werden. Manchmal nehme sie auch den Trinkbecher mit beiden Händen und führe ihn selbst zum Mund. Morgens bleibe sie im Bett liegen, bis sie aufgefordert werde aufzustehen; es werde ihr abends gesagt, wenn sie ins Bett gehen müsse. Sie wehre sich oft gegen das An- und Ausziehen. Einmal pro Nacht erfolge ein Windelwechsel. Es lägen die Voraussetzungen der Pflegestufe II vor. Daraufhin bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 30. Juli 2002 ab 01. Juni 2002 Pflegegeld nach Pflegestufe II in Höhe von monatlich 410,- EUR. Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, das Pflegegeld müsse erhöht werden. Ihr müsse mindestens die Pflegestufe III zuerkannt werden; sie könne über Nacht nicht mehr schlafen. Die Klägerin legte eine Bestimmung des Hilfebedarfs vom 13. September 2002 vor. Im dazu von Dr. L. vom MDK Baden-Württemberg in E. abgegebenen Kurzgutachten nach Aktenlage vom 01. Oktober 2002 wurde ausgeführt, dass die Angaben in der Aufstellung vom 13. September 2002 nicht im Widerspruch zu dem erstatteten Gutachten vom 15. Juli 2002 stünden; nach nochmaliger Wertung aller vorliegenden Unterlagen bestehe weiterhin Schwerpflegebedürftigkeit; die notwendigen Hilfeleistungen im Bereich der Grundpflege erreichten nicht den zeitlichen Umfang für die Pflegestufe III. Danach blieb der Widerspruch der Klägerin erfolglos (Widerspruchsbescheid des bei der Beklagten gebildeten Widerspruchsausschusses vom 13. Januar 2003).

Bereits am 28. November 2002, bei der Beklagten am 02. Dezember 2002 eingegangen, hatte die Klägerin einen weiteren Höherstufungsantrag gestellt. Die Beklagte veranlasste daraufhin die erneute Untersuchung der Klägerin in ihrer häuslichen Umgebung durch die Pflegefachkraft Lü. vom MDK Baden-Württemberg in E., die am 17. März 2003 durchgeführt wurde. Im daraufhin am 25. März 2003 erstatteten Gutachten wurde im Bereich der Grundpflege ein täglicher Hilfebedarf von insgesamt 192 Minuten festgestellt, nämlich 88 Minuten bei der Körperpflege, 70 Minuten bei der Ernährung und 34 Minuten bei der Mobilität. Dazu wurde ausgeführt, die Klägerin brauche im Bereich der Körperpflege Unterstützung in Form von Aufforderung, Beaufsichtigung und zur Sicherstellung gründlicher Durchführung Nacharbeit durch die Pflegeperson. So könne sie manchmal Gesicht und Hände waschen, ansonsten sei die Komplettübernahme beim Waschen, abends nochmals aufgrund Inkontinenz, bei der Zahnpflege und beim Kämmen erforderlich. Die Klägerin müsse regelmäßig zu Toilettengängen aufgefordert werden; insoweit seien kleine Einlagen ausreichend. Vor und nach den Toilettengängen sei Unterstützung beim Richten der Kleidung erforderlich. Durchschnittlich bestehe einmal täglich Stuhlgang, wobei die Klägerin mit Stuhl schmiere; Umfeldreinigung sei daher zusätzlich zum Nachreinigen und zum Einlagenwechsel erforderlich. Es sei die mundgerechte Zubereitung sämtlicher Speisen und Getränke erforderlich. Die eigentliche Nahrungsaufnahme könne zwar motorisch selbstständig erfolgen; da die Klägerin jedoch häufig vom Esstisch aufstehe und weglaufe, sei immer wieder Motivation, teilweise auch Verabreichen der Mahlzeiten notwendig. Morgens sei eine Aufforderung zum Aufstehen erforderlich, abends ein beruhigendes Einwirken vor dem Zubettgehen. An- und Auskleiden sowie zwischendurch Kleiderwechsel bei Stuhlschmierereien sei mit Einleitung durch die Pflegeperson möglich, meist jedoch sei auch hier auch Vollübernahme erforderlich. Die Kleider müssten außerdem witterungsgerecht zusammengestellt und gewechselt werden. Beim zielgerichteten Gehen zu bestimmten Verrichtungen benötige die Klägerin Richtungsweisung, beim Transfer in die Badewanne Unterstützung. Mit weiterem Bescheid vom 23. April 2003 lehnte danach die Beklagte die Gewährung von Pflegegeld nach Pflegestufe III erneut ab.

Bereits am 16. Januar 2003 hat die Klägerin wegen der Ablehnung der Gewährung von Leistungen nach Pflegestufe III zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle Klage beim Sozialgericht (SG) Stuttgart erhoben. Sie machte geltend, die sie behandelnden Ärzte seien als sachverständige Zeugen zu hören; außerdem müsse das Gericht ein Sachverständigengutachten erheben. Der tägliche Hilfebedarf bei ihr im Bereich der Grundpflege gehe über 192 Minuten hinaus. Ihre Eltern hätten über einen Zeitraum von 14 Tagen durchgehend und lückenlos die Zeiten aufgeschrieben, die beim Pflege- und Betreuungsaufwand angefallen seien. Sie sei nicht nur geistig behindert, sondern auch körperlich krank; sie melde nicht, wenn sie zur Toilette müsse. Aus diesem Grund trage sie trotz ihrer 18 Jahre noch Windeln. Nach Verrichtung der Notdurft müsse sie unverzüglich gereinigt werden, da sie ihre Ausscheidung in die Hand nehme und in der Wohnung bzw. am eigenen Körper verschmiere. Sie sei täglich 18 Stunden auf. Alle zwei Stunden gehe ihre Mutter mit ihr auf die Toilette. Trotz langer Wartezeiten verrichte sie ihr Geschäft nicht oder nur unvollständig. Durchschnittlich sechs mal am Tag müsse sie geduscht und neu eingekleidet werden, ohne das zusätzliche Zähneputzen sowie das Waschen der Haare und der Hände. Ihre Kleider müssten täglich gewaschen werden. Auch nachts könne sie nicht unbeaufsichtigt oder alleine gelassen werden. Sie müsse ständig 24 Stunden am Tag betreut bzw. beaufsichtigt werden.

Die Beklagte trat der Klage unter Vorlage ihrer Verwaltungsakten sowie des genannten Gutachtens der Pflegefachkraft Lü. vom 25. März 2003 entgegen. Die Voraussetzungen der Pflegestufe III hätten nicht festgestellt werden können.

Das SG erhob das am 19. August 2003 aufgrund einer Untersuchung der Klägerin in ihrer häuslichen Umgebung, die am 13. August 2003 durchgeführt wurde, erstattete Sachverständigengutachten des Facharztes für Innere Medizin Dr. S ... Der Sachverständige stellte einen täglichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 224 Minuten fest, nämlich 61 Minuten bei der Körperpflege, 43 Minuten bei der Darm- und Blasenentleerung, 98 Minuten bei der Ernährung, zehn Minuten bei der Mobilität, wobei er für "Gehen (Arztbesuche)", die zweimal monatlich durchgeführt würden, täglich fünf Minuten in Ansatz brachte, und beim An- und Auskleiden zwölf Minuten.

Mit Urteil vom 26. November 2003 wies das SG die Klage ab. Es führte aus, der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von mindestens vier Stunden pro Tag, der für die Pflegestufe III erfordert werde, liege nicht vor; das Gericht stütze sich auf die MDK-Gutachten vom 15. Juli 2002 und 25. März 2003, die im Wesentlichen durch das Sachverständigengutachten vom 19. August 2003 bestätigt würden. Im Bereich der Körperpflege ergebe sich insgesamt ein Hilfebedarf von 104 Minuten täglich. Der Vortrag der Klägerin, sie müsse durchschnittlich sechsmal am Tag geduscht und neu eingekleidet werden, überzeuge nicht. Der Hilfebedarf im Bereich der Ernährung betrage 90 Minuten pro Tag und derjenige im Bereich der Mobilität 17 Minuten. Die von Dr. S. errechneten fünf Minuten Pflegeaufwand im Bereich des Gehens wegen der zweimal monatlich erfolgenden Arztbesuche könne keine Berücksichtigung finden, da diese Arztbesuche nicht jede Woche anfielen.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin am 22. Dezember 2003 zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Sie hat Beschreibungen ihres "Tagesablaufs" für die Zeit vom 14. bis 27. Mai 2004 vorgelegt. Sie macht geltend, sie erfülle die Voraussetzungen der Pflegestufe III. Denn aus den vorgelegten Beschreibung des Tagesablaufs ergebe sich, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe III erfüllt seien. Es falle danach ein täglicher Pflegeaufwand von nicht weniger als 240 Minuten, nämlich bis 385 Minuten pro Tag an, was einen durchschnittlichen Hilfebedarf von mindestens 300 Minuten ergebe. Dies könne durch eine Augenscheinseinnahme sowie durch die Vernehmung ihrer Mutter und ihrer Schwester als Zeugen bestätigt werden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. November 2003 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 30. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Januar 2003 sowie des weiteren Bescheids vom 23. April 2003 zu verurteilen, ihr Pflegegeld nach Pflegestufe III ab 01. Juni 2002 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angegriffene Urteil und die streitbefangenen Bescheide für zutreffend.

Der Berichterstatter des Senats hat eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S. vom 13. Juni 2004 eingeholt, auf die Bezug genommen wird. Ferner hat der Berichterstatter des Senats die Beteiligten mit Schreiben vom 21. Juni 2004 und 22. Januar 2007 auf die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hingewiesen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

II.

Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat nach Anhörung der Beteiligten nach dem ihm zustehenden Ermessen durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG entschieden hat, ist statthaft und zulässig, jedoch nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 30. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Januar 2003 und der weitere Bescheid vom 23. April 2003, mit dem die Beklagte die Gewährung von Pflegegeld nach Pflegestufe III erneut abgelehnt hat, sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Ihr steht weder ab 01. Juni 2002 noch ab einem späteren Zeitpunkt Pflegegeld nach Pflegestufe III statt des gewährten Pflegegelds nach Pflegestufe II zu, denn, wie das SG zutreffend entschieden hat, bei der Klägerin liegen die Voraussetzungen der Pflegestufe III, bei der im Bereich der Grundpflege bei den Katalogverrichtungen des § 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI ein tägliches Hilfebedarf von mindestens 240 Minuten nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 3 SGB XI verlangt wird, nicht vor.

Der Senat verweist zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils.

Ergänzend ist noch auszuführen: Auch der Senat vermag bei der Klägerin einen täglichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 240 Minuten nicht festzustellen. Ein derartiger Hilfebedarf ist in keinem Gutachten ermittelt worden, auch wenn die eingeholten Gutachten eine Zunahme des Hilfebedarfs von 135 Minuten (Gutachten der Dr. A.) auf 192 Minuten (Gutachten der Pflegefachkraft Lü.) bzw. auf 224 Minuten (Sachverständigengutachten des Dr. S.) ergeben sollten. Hinsichtlich der Schätzung des Dr. S. ist im Übrigen die Berücksichtigung einer Wegezeit für Arztbesuche von täglich fünf Minuten deswegen in Abzug zu bringen, weil ein derartiger Arztbesuch unstreitig nicht wöchentlich stattfindet, weshalb nur ein Hilfebedarf von 219 Minuten pro Tag berücksichtigt werden könnte.

Die in den von den Eltern der Klägerin vorgelegten Beschreibungen des "Tagesablaufs" der Klägerin vom 14. bis 27. Mai 2004 aufgeführten schwankenden Zeitwerte für Hilfeleistungen pro Tag zwischen 240 Minuten am 14. Mai 2004 (ohne den Aufwand für einen einstündigen Spaziergang) und 385 Minuten am 21. Mai 2004 vermag der Senat der Entscheidung nicht zugrunde zu legen. Dazu hat der Sachverständige Dr. S. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13. Juni 2004 darauf hingewiesen, dass die aufgeführten Zeitwerte und die Angaben zur Häufigkeit der Verrichtung nicht nachvollziehbar seien. Dies gilt beispielsweise für die Zeitwerte für das Waschen der Hände und des Gesichts sowie auch für das Windelwechseln. Es überzeugt, dass Dr. S. beispielsweise für das Windelwechseln mit Teilwäsche fünf Minuten pro Verrichtung in Ansatz gebracht hat sowie für das Windelwechseln insoweit nach Stuhlgang mit Teilwäsche zehn Minuten pro Verrichtung. Zeiten der allgemeinen Beaufsichtigung der Klägerin, um Gefahren von ihr oder anderen abzuwenden, sind bei dem Grundpflegebedarf nicht zu berücksichtigen, gleichfalls auch Zeiten, die für die Begleitung der Klägerin beim Spazierengehen aufgewendet werden.

Die Erhebung eines weiteren Gutachtens von Amts wegen war nicht geboten, zumal der Sachverständige Dr. S. darauf hingewiesen hatte, dass sich der Pflegebedarf bei der Klägerin in den nächsten drei Jahren nicht verändern werde. Eine derartige nach dem 13. August 2003 eingetretene Veränderung des Grundpflegebedarfs hat die Klägerin auch nicht geltend gemacht. Einen Antrag nach § 109 SGG hat die Klägerin trotz eines entsprechenden Hinweises nicht gestellt.

Danach war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.

Gründe für eine Revisionszulassung liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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