L 7 SO 258/07 NZB

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 4 SO 937/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 258/07 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Verfahrensfehler; rechtliches Gehör; Teilnahme an der mündlichen Verhandlung; faires Verfahren; Fahrtkosten
Der Anspruch auf Gewährleistung rechtlichen Gehörs - auch in der mündlichen Verhandlung - ist Teil des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren.
Das SG ist zur Vermeidung eines der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Verfahrensmangels grundsätzlich gehalten, einem mittellosen Kläger die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung durch Bewilligung von Fahrtkosten zu ermöglichen. Dies ist außerhalb der Bewilligung von Prozesskostenhilfe möglich und geboten. Im Rahmen der richterlichen Prüfung dieses Anspruchs sind Verwaltungsvorschriften, die die Bewilligung von Reiseentschädigungen an mittellose Personen vorsehen (hier: Verwaltungsvorschrift des bw Justizministeriums vom 27. April 2006, Die Justiz 2006, 245) heranzuziehen.
Auf die Beschwerde des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Dezember 2006 gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes zugelassen.

Gründe:

Die gemäß § 145 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte sowie gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGG statthafte Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist auch begründet, weil die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG gegeben sind.

Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 500,00 Euro nicht übersteigt. Dies gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (Satz 2 a.a.O.). Beide Voraussetzungen sind in Anbetracht des Beschwerdewerts - der Kläger schätzt den Wert der beanspruchten Gleitsichtbrille selbst auf unter 500,00 Euro - nicht gegeben. Das Sozialgericht Karlsruhe (SG) hat im angefochtenen Urteil die Berufung auch nicht zugelassen.

Nach § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG ist u.a. die Berufung zuzulassen, wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Vorliegend rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG)) sowie einen Verstoß gegen das aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren, weil er - mangels ausreichender finanzieller Mittel - am Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG vom 19. Dezember 2006 nicht habe teilnehmen können, nachdem ihm auf sein rechtzeitig mit Schreiben vom 9. November 2006 gestelltes Begehren auf Reisekostenbeihilfe im gerichtlichen Schreiben vom 10. November 2006 lediglich mitgeteilt worden sei, dass sein persönliches Erscheinen nicht angeordnet werde.

Der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs als Ausfluss des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren liegt hier vor. Das angefochtene Urteil kann auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen. Denn der Kläger war aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen gehindert, an dem auf den 19. Dezember 2006 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Zwar greift die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs als Zulassungsgrund im Rahmen des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG grundsätz1ich nur durch, wenn durch den Beschwerdeführer aufgezeigt wird oder sonst wie ersichtlich ist, dass entscheidungserhebliches Vorbringen wegen dieses Verfahrensfehlers verhindert worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Februar 2007 - L 7 SO 2173/06 NZB - m.w.N. (juris)). Indessen sind im Allgemeinen dann keine weiteren Darlegungen zur Entscheidungsrelevanz erforderlich, wenn der Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 21. August 2002 - B 9 VJ 1/02 R - (juris); BSG, Urteil vom 12. Februar 2003 - B 9 SB 5/02 R - (juris)). Denn die mündliche Verhandlung ist "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens, sie hat zentrale Gewährleistungsfunktion für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör und dient der erschöpfenden Erörterung des Streitstoffs mit ihnen (vgl. BSGE 44, 292 f. = SozR 1500 § 124 Nr. 2; BSGE 53, 83, 85 f. = SozR a.a.O. Nr. 7; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr. 33), sodass bei einer aufgrund des Gehörsverstoßes verhinderten Terminswahrnehmung die Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensfehlers in der Regel zu vermuten ist.

So liegt der Fall auch hier. Denn der nicht am Sitz des SG, sondern rund 45 km entfernt im E. wohnhafte Kläger war, was keiner weiteren Ermittlungen bedarf, aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse als Sozialhilfeempfänger nicht ausreichend in der Lage, die Reisekosten zum Termin zur mündlichen Verhandlung vom 19. Dezember 2006 zu bestreiten, und konnte deswegen erst recht nicht einen Bevollmächtigten mit seiner Vertretung beauftragen. Zwar hatte das SG dem Kläger auf dessen Schreiben vom 9. November 2006 unter dem 10. November 2006 mitgeteilt, dass sein persönliches Erscheinen nicht angeordnet werde. Damit hat das SG indessen dem Begehren des Klägers nicht hinreichend entsprochen. Denn es hat nicht beachtet, dass eine Reiseentschädigung an mittellose Personen in Form eines Vorschusses auch ohne Anordnung des persönlichen Erscheinens (zu letzterem vgl. § 191 SGG i.V.m. § 3 des Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetzes (JVEG)) sowie auch dann in Betracht kommen kann, wenn - etwa mangels Erfolgsaussicht, des Bestehens einer Rechtsschutzversicherung oder der Vertretung durch einen Bevollmächtigten im Sinne des § 73 Abs. 6 Satz 3 SGG - die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) ausgeschlossen ist.

Auch außerhalb der Bewilligung von PKH ist die Gewährung eines Reisekostenvorschusses möglich, wenn anders der Grundsatz der Wahrung des rechtlichen Gehörs nicht sichergestellt werden kann (vgl. Bundesfinanzhof (BFH), Beschluss vom 8. Juni 2006 - VII B 323/05 - (juris); Bayer. Verwaltungsgerichtshof (VGH), Beschluss vom 7. März 2006 - 25 ZB 05.31119 - (juris); ferner Sächs. Oberverwaltungsgericht (OVG), Beschluss vom 27. September 2000 - 1 E 104/00 - (juris)). Auch dann hat eine richterliche Entscheidung über die Bewilligung der Reisekosten zu ergehen, und zwar als Akt der Rechtsprechung in entsprechender Anwendung der Vorschriften über die Prozesskostenhilfe (vgl. Bundesgerichtshof (BGH) BGHZ 64, 139, 143; BFH, Beschluss vom 8. Juni 2006 a.a.O.; Bayer. VGH, Beschluss vom 7. März 2006 a.a.O.; a.A. OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13. September 2006 - 1 O 169/06 - (juris); Neumann in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 2. Auflage, § 166 Rdnr. 164). Diese Vorschriften sind allerdings nur eingeschränkt heranziehbar, wenn das prozessuale Grundrecht des rechtlichen Gehörs tangiert ist; dann bedarf es einer Prüfung der Erfolgaussichten der Rechtsverfolgung nicht (so auch Bayer. VGH, Beschluss vom 7. März 2006 a.a.O.; anders Bundesverwaltungsgericht Buchholz 310 § 166 VwGO Nr. 37; BFH, Beschluss vom 1. September 1997 - V B 57/97 - (juris); Kalthoener/Büttner/Wrobel/Sachs, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, 4. Auflage, Rdnr. 623.). Stellt der mittellose Beteiligte einen Antrag auf Reisekostenvorschuss, so ist mithin das Gericht im Rahmen einer Gesamtabwägung aller Umstände verpflichtet zu prüfen, ob die Anreise zum Termin auch bei einem bemittelten Beteiligten zur verständigen Wahrnehmung seiner Rechte notwendig ist (vgl. BGHZ 64, 139, 145 f.; Bayer. VGH, Beschluss vom 7. März 2006 a.a.O.; BFH, Beschluss vom 13. Oktober 1989 - V S 3/89 - (juris); ferner Neumann in Sodan/Ziekow, a.a.O.). Nach Auffassung des Senats ist im Rahmen dieser Prüfung auch die Verwaltungsvorschrift des Justizministeriums über die "Gewährung von Reiseentschädigungen an mittellose Personen und Vorschusszahlungen für Reiseentschädigungen an Zeuginnen, Zeugen, Sachverständige, Dolmetscherinnen, Dolmetscher, Übersetzerinnen, Übersetzer, ehrenamtliche Richterinnen, ehrenamtliche Richter und Dritte" vom 27. April 2006 - VwV Reiseentschädigung - (Die Justiz S. 245) heranzuziehen, welcher allerdings kein Rechtsnormcharakter zukommt und die deswegen für das Gericht nicht bindend ist (vgl. auch Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf, Beschluss vom 13. Juni 2005 - 16 Ta 181/05 - (juris); LAG Baden-Württemberg, Beschluss vom 4. November 2005 - 3 Ta 201/05 - (juris); Hartmann, Kostengesetze, 36. Auflage, Vorbem. zu Anhang I nach § 25 JVEG), die jedoch unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) auch bei der richterlichen Entscheidung beachtlich sein kann.

Eine derartige Prüfung hat hier indessen nicht stattgefunden; denn das SG hat offensichtlich gemeint, allein die fehlende Anordnung des persönlichen Erscheinens hindere die Gewährung eines Reisekostenvorschusses. Es ist noch nicht einmal eine Weiterleitung des Antrags des Klägers an die Gerichtsverwaltung veranlasst worden, damit ggf. von dort - zusätzlich zur richterlichen Entscheidungskompetenz - eine Prüfung unter Anwendung der oben genannten VwV Reiseentschädigung hätte erfolgen können. Dadurch ist der mittellose Kläger von vornherein an der Teilnahme am Termin zur mündlichen Verhandlung vom 19. Dezember 2006 gehindert worden. Da vorliegend keine Gesichtspunkte ersichtlich sind, die gegen die zu vermutende Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensmangels sprächen, ist der Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG hier gegeben.

Das Beschwerdeverfahren wird nunmehr als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung durch den Kläger bedarf es nicht (§ 145 Abs. 5 Satz 1 SGG). Dabei wird der erhobene Anspruch im Berufungsverfahren ggf. auch unter dem Gesichtspunkt der Darlehensgewährung nach § 37 Abs. 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch zu prüfen sein.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgen der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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