L 9 U 3678/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 1 U 5354/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 3678/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 9. Juni 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Anerkennung eines Karpaltunnelsyndroms als Berufskrankheit (BK).

Der am 7.11.1958 geborene Kläger erlernte von September 1973 bis März 1977 den Beruf des Gas- und Wasserinstallateurs. Seitdem war er - unterbrochen durch einen viermonatigen Wehrdienst im Jahr 1978 - im erlernten Beruf bis zu seiner Arbeitsunfähigkeit am 6.11.2004 beschäftigt.

Im Rahmen eines Verfahrens auf Anerkennung von Kniebeschwerden als BK Nr. 2102 der Berufskrankheitenverordnung (BKV) erfuhr die Beklagte vom Vorliegen eines Karpaltunnelsyndroms beim Kläger und prüfte, ob es sich hierbei um eine BK handele. Ausweislich des Leistungsauszugs der Krankenkasse war der Kläger vom 4.5. bis 12.5.1995 wegen eines beidseitigen Karpaltunnelsyndroms arbeitsunfähig. Weitere Arbeitsunfähigkeiten bestanden beim Kläger vom 21.1. bis 27.1.2002 wegen einer Läsion des Nervus ulnaris, vom 12.5. bis 16.5.2003 und 29.6. bis 9.7.2004 wegen einer Polyarthrose sowie vom 8.11.2004 bis 25.1.2005 wegen des Karpaltunnelsyndroms rechts. Am 8.11.2004 wurde beim Kläger eine Operation des Karpaltunnelsyndroms rechts vorgenommen, wobei intraoperativ eine deutliche Enge im Bereich des Nervus medianus mit Sanduhrphänomen festgestellt wurde. Außerdem zeigten die Sehnenscheiden der Beuger im Handgelenksbereich eine mäßige Sinovitis, wobei die Synovia sparsam reseziert wurde.

Die Beklagte zog Arztbriefe des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. K.bei und holte eine Auskunft bei dem Arzt für Orthopädie Dr. H. vom 3.5.2005 ein. Dr. F., Arzt für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin, führte unter dem 17.5.2005 aus, das Karpaltunnelsyndrom sei nicht Gegenstand der Berufskrankheiten-Liste. Aktuell ergäben sich auch keine ausreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse für eine berufliche Verursachung. Die Staatliche Gewerbeärztin stimmte dem zu und erklärte, es gebe keine neueren gesicherten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse, wonach dieses Krankheitsbild durch exogene Faktoren, insbesondere durch die seit 1973 ausgeübte Tätigkeit als Gas- und Wasserinstallateur, verursacht werde. Eine BK oder eine beruflich verursachte Erkrankung nach § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII werde nicht zur Anerkennung vorgeschlagen. Mit Bescheid vom 11.10.2005 teilte die Beklagte dem Kläger mit, das Karpaltunnelsyndrom sei keine BK und sei auch nicht wie eine BK anzuerkennen. Zwar prüfe die Bundesregierung derzeit, ob neue Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft darüber vorlägen, dass bestimmte Personengruppen in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung an einem Karpaltunnelsyndrom erkrankten und ob deswegen die Liste der BK zu ergänzen sei. Bei dieser Sachlage bestehe nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine Sperrwirkung und die Unfallversicherungsträger dürften der Entscheidung der Bundesregierung nicht durch Anerkennungen vorgreifen.

Hiergegen erhob der Kläger am 17.10.2005 Widerspruch und machte geltend, die Ursache, die zur Erkrankung und Operation seiner Hände geführt habe, sei nicht erforscht. Er leide weiterhin unter Schmerzen mit Bewegungseinschränkungen. Auf Grund seiner beruflichen Tätigkeit sei er in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen (Arbeiten mit kaltem und warmem Wasser im Sommer und Winter, belastende Bewegungen beim Verschrauben und Lösen vom Leitungen) ausgesetzt. Die Tätigkeit habe mit Wahrscheinlichkeit die Erkrankung seiner Hände ausgelöst. Der Kläger legte einen Arztbrief des Neurologen Dr. K. vom 2.8.2005, einen Kernspintomografiebefund des rechten Handgelenks vom 22.8.2005 sowie eine 3-Phasen-Szintigraphie der Handgelenke vom 29.8.2005 (floride entzündliche Veränderungen im rechten Handgelenk) vor. Nach Einholung weiterer Stellungnahmen bei Dr. Frank wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.12.2005 zurück.

Hiergegen erhob der Kläger am 30.12.2005 Klage zum Sozialgericht (SG) Karlsruhe, mit der er die Anerkennung eines Karpaltunnelsyndroms als BK weiter verfolgte. Zur Begründung trug er vor, nicht er, sondern die Beklagte habe das Verfahren auf Anerkennung des Karpaltunnelsyndroms als BK eingeleitet. Schon 2001 habe zur Debatte gestanden, das Karpaltunnelsyndrom als eigene BK in die Anlage zu BKV aufzunehmen. Außerdem habe die EU-Kommission bereits im Jahr 2003 eine Empfehlung über Berufskrankheiten erstellt und darin das Karpaltunnelsyndrom als eigenständige Krankheit unter einer eigenen Nummer aufgeführt. Es könne nicht zu seinen Lasten gehen, wenn die Regierung der BRD es wieder verschlafen haben sollte, EU-Vorgänge in nationales Recht umzuwandeln.

Mit Gerichtsbescheid vom 9.6.2006 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, das Karpaltunnelsyndrom sei keine Erkrankung, die in der Anlage zur BKV als BK anerkannt sei. Insbesondere handele es sich nicht um eine Druckschädigung der Nerven im Sinne der Nr. 2106 der Anlage zu BKV. In der Begründung zur Neufassung dieser BK zum 1.10.2002 werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Karpaltunnelsyndrom nicht Gegenstand der BK Nr. 2106 sei. Zu Recht habe die Beklagte auch eine Entschädigung des Karpaltunnelsyndroms wie eine BK gem. § 9 Abs. 2 SGB VII abgelehnt. Das Merkmal der gruppentypischen Risikoerhöhung sei vorliegend nicht erfüllt. Aber selbst wenn es vorliegen würde, würde eine Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII ausscheiden, weil der Verordnungsgeber derzeit mit der Frage befasst sei, ob ein Karpaltunnelsyndrom auf Grund vorliegender Erkenntnisse in die Berufskrankheiten-Liste aufgenommen werden solle. Ohne Erfolg berufe sich der Kläger auch auf eine Empfehlung der EU-Kommission über Berufskrankheiten aus dem Jahr 2003. Die Empfehlungen seien gem. Art. 259 Abs. 5 EG-Vertrag für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich.

Gegen den am 14.6.2006 zur Post gegebenen Gerichtsbescheid hat der Kläger am 13.7.2006 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt, sein bisheriges Vorbringen wiederholt und ein Antwortschreiben der Europäischen Kommission vom 30.3.2003 vorgelegt, in dem ausgeführt ist: "Das Karpaltunnelsyndrom ist im Anhang der Empfehlung der Kommission vom 19.9.2003 über die Europäische Liste der Berufskrankheiten unter Nr. 506.45 aufgeführt. Art. 2 der genannten Empfehlung lautet: Die Mitgliedstaaten legen selbst die Kriterien für die Anerkennung jeder einzelnen Berufskrankheit gemäß ihren Rechtsvorschriften oder den nationalen Gepflogenheiten fest". Der Kläger hat dazu erklärt, er erwarte ein Urteil, welches die Umsetzung der EU-Vorgaben bereits als Basis der Entscheidung habe. Er hat Unterlagen aus den Verfahren wegen Anerkennung seiner Knieschäden als BK, unter anderem ein Gesprächsprotokoll über seine berufliche Vergangenheit vom 19.9.2005, vorgelegt.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 9. Juni 2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei ihm ein Karpaltunnelsyndrom als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erwidert unter Vorlage einer Stellungnahme von Dr. Frank vom 7.9.2006, da der Kläger wiederholt auf druckbedingte Nervenschäden hinweise, hätten sie Dr. Frank nochmals befragt, ob sich über das Karpaltunnelsyndrom hinaus Anhaltspunkte für das Vorliegen einer BK nach Nr. 2106 der Anlage zur BKV ergäben. Dieses verneine Dr. F. Nach ihrer Kenntnis dauerten die Beratungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirates Sektion "Berufskrankheiten" des BMGS noch an, weshalb eine Sperrwirkung für die positive Anwendung von § 9 Abs. 2 SGB VII bestehe.

Der Senat hat eine Auskunft beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingeholt. Dieses hat unter dem 24.10.2006 mitgeteilt, dass der Ärztliche Sachverständigenbeirat "Berufskrankheiten" seit längerem mit der Fragestellung befasst sei, ob das Karpaltunnelsyndrom in die Anlage zur BKV aufgenommen werden solle. Die Beratungen seien zur Zeit noch nicht abgeschlossen. Es könne auch kein Termin genannt werden, wann ein Ergebnis vorliegen werde. Ergänzend werde darauf hingewiesen, dass sich aus der Begründung der Neufassung der BK Nr. 2106 vom 1.10.2002 ergebe, dass damit zwar eine gewisse Ausweitung der bisherigen BK verbunden sei, das Karpaltunnelsyndrom aber ausdrücklich nicht einbezogen worden sei.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung des Klägers ist jedoch nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, da der Kläger keinen Anspruch auf Anerkennung eines Karpaltunnelsyndroms als BK hat. Das SG hat den rechtserheblichen Sachverhalt umfassend dargestellt und die für die Feststellung einer BK sowie einer Quasi-BK notwendigen Voraussetzungen zutreffend benannt. Hierbei hat es die Rechtsprechung des BSG berücksichtigt. Der Senat schließt sich der Beurteilung des SG uneingeschränkt an und sieht deshalb von einer Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 SGG weitgehend ab. Ergänzend ist auszuführen, dass auch nach Überzeugung des Senats das Merkmal der gruppentypischen Risikoerhöhung vorliegend nicht erfüllt ist. Denn bisher liegen keine gesicherten Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vor, dass Gas- und Wasserinstallateure in höherem Maße als die übrige Bevölkerung an einem Karpaltunnelsyndrom leiden. Unerheblich ist dabei, wodurch die Krankheit im Einzelfall verursacht wurde. Aber selbst wenn das Tatbestandsmerkmal der gruppentypischen Risikoerhöhung erfüllt wäre, würde einer Anerkennung des Karpaltunnelsyndroms als Quasi-Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII ausscheiden, weil der Verordnungsgeber mit der Frage befasst ist, ob das Karpaltunnelsyndrom auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse in die Berufskrankheiten-Liste aufgenommen werden soll. Für die Dauer dieses Entscheidungsprozesses dürfen weder der Unfallversicherungsträger noch das Gericht die dem Beratungsgremium vorliegenden Erkenntnisse beurteilen und daraus eine Pflicht zur Anerkennung als Quasi-Berufskrankheit ableiten (sogenannte Sperrwirkung: vgl. BSG, Urt. vom 4.6.2002 - B 2 U 20/01 - in JURIS und ZfS 2002, 334 - Kurzwiedergabe -; Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 8.10.2004 - L 1 U 2104/03 in JURIS). Wie aus der Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 24.10.2006 zu entnehmen ist, prüft der Ärztliche Sachverständigenbeirat seit längerem, ob ein Karpaltunnelsyndrom in die BKV aufzunehmen ist, wobei die Beratungen noch nicht abgeschlossen sind. Bei der Neufassung der BK Nr. 2106 wurde die Einbeziehung des Karpaltunnelsyndroms ausdrücklich abgelehnt, wie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mitgeteilt hat und sich aus der Begründung zur Neufassung ergibt. Zutreffend hat das SG auch ausgeführt, dass die Empfehlung der Europäischen Kommission vom 19.9.2003 über die Europäische Liste der Berufskrankheiten gem. Art. 259 Abs. 5 EG-Vertrag für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich ist. Dementsprechend hat die Kommission in Art. 2 der Empfehlung auch ausgeführt: "Die Mitgliedstaaten legen selbst die Kriterien für die Anerkennung jeder einzelnen Berufskrankheit gemäß ihren Rechtsvorschriften oder den nationalen Gepflogenheiten fest", was die Europäische Kommission dem Kläger auch am 30.3.2006 mitgeteilt hat. Der Senat hat es auch nicht als zweckmäßig angesehen, das Verfahren bis zur Entscheidung des Verordnungsgebers ruhen zu lassen, zumal der Rechtsstreit derzeit entscheidungsreif ist und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales keinen Termin zu nennen vermochte, wann der Sachverständigenbeirat seine Beratung abgeschlossen haben wird. Darüber hinaus ist es auch nicht zweckmäßig, wenn bei unterstellter Aufnahme des Karpaltunnelsyndroms als BK das Berufungsgericht - ohne vorherige Prüfung durch die Beklagte im Rahmen eines Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens und durch das SG - entscheiden würde. Soweit der Kläger die Anerkennung seiner Erkrankung der Hände als BK Nr. 2106 (Druckschädigung der Nerven) begehrt, fehlt es schon an einem diesbezüglichen Verwaltungsakt der Beklagten, sodass eine Klage hierauf unzulässig wäre. Zur Vermeidung eines unnötigen Rechtsstreits wird darauf hingewiesen, dass sich aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen keine Hinweise auf eine Druckschädigung der Nerven (von außen) ergeben, was die BK Nr. 2106 voraussetzt, wie Dr. F. nachvollziehbar in seiner Stellungnahme vom 7.9.2006 dargelegt hat. Nach alledem war der angefochtene Gerichtsbescheid des SG nicht zu beanstanden. Die Berufung des Klägers musste deswegen zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved