S 31 AS 1552/07 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Potsdam (BRB)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
31
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 31 AS 1552/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, an die Antragstellerin einen Betrag von 160,00 EUR für die Teilnahme an einer Klassenfahrt im Juni 2007 zu zahlen. 2. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

I. Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 2 des Zweiten Buches – Sozialgesetzbuch (SGB II) für eine mehrtägige Klassenfahrt im Juni 2007.

Die Antragstellerin wurde 1994 geboren und besucht die 6. Klasse der Oberschule "T F" in P. Sie lebt in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihrer Mutter S und bezieht für die Zeit vom 01. April 2007 bis zum 30. September 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

In der Zeit vom 04. Juni bis zum 08. Juni 2007 ist die Durchführung einer Klassenfahrt mit voraussichtlichen Kosten für Unterkunft, Verpflegung, Fahrtkosten und Reiserücktrittsversi-cherung in Höhe von 160,00EUR geplant. Die Fahrt wird mit dem Programm Paddel und Pedale auf der Ferieninsel T durchgeführt. Nach einer Bescheinigung der Oberschule "T F" findet die Klassenfahrt als Teil der Schulausbildung zur Erfüllung der gesetzlichen Schulpflicht statt und eine Genehmigung der Klassenfahrt wurde erteilt.

Die Mutter der Antragstellerin beantragte die Übernahme der Kosten bei der Antragsgegnerin.

Diesen Antrag wies die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 20. April 2007 mit der Begründung zurück, dass die Klassenfahrt nicht den Verwaltungsvorschriften Schulfahrten im Land Bran-denburg entspreche und dementsprechend nicht im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmun-gen liege.

Hiergegen legte die Mutter der Antragstellerin mit Schreiben vom 24. April 2007 Widerspruch ein.

Mit Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 25. April 2007 beantragt die Mutter der An-tragstellerin sinngemäß,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, an die Antragstellerin die vollen Kosten für die Teilnahme an einer Klassenfahrt im Ju-ni 2007 zu zahlen. Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass die Klassenfahrt als Paddel- und Fahrradtour nicht den Verwaltungs-vorschriften Schulfahrt entspreche. Weiterhin widerspreche eine solche Fahrt den eigenen Ar-beitsanweisungen und den Arbeitsanweisungen des Fachbereiches Soziales, Wohnen und Seni-oren. Die Fahrt diene nicht der Vermittlung von Unterrichtsinhalten und auch nicht einem inte-grativen Zweck, da der Klassenverband nach der 6. Klassenstufe aufgrund des Wechsels eini-ger Schüler auf das Gymnasium aufgelöst werde. Darüber hinaus bestehe kein Anordnungsgrund, da vorrangig eine Selbsthilfemöglichkeit durch Heranziehung des unterhaltspflichtigen Vaters der Antragstellerin erfolgen könne.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Betei-ligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.

II. Der Antrag war dahingehend auszulegen, dass ein Anspruch der Antragstellerin durch ihre Mutter im Rahmen der gesetzlichen Vertretungsmacht geltend gemacht wird (vgl. BSG, Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 8/06R), da ein eigener Anspruch der Antragstellerin gel-tend gemacht wird. Ein Anspruch der Bedarfsgemeinschaft an sich besteht nicht, vielmehr be-steht auch nach den Regelungen im SGB II für jedes Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft ein individueller Anspruch.

Der zulässige Antrag ist begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag zur Re-gelung eines vorläufigen Zustandes im Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstwei-lige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint.

Die nach § 86 b Abs. 2 SGG zu treffende Eilentscheidung beruht hier auf einer Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch), ergänzt um das Merkmal der Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund). Das Gericht geht davon aus, dass das Verfahren in der Hauptsache erfolgreich sein wird. Daher kann hier auf eine Abwägung im Rahmen der Folgen-abwägung verzichtet werden. I. Es liegt nach diesen Grundsätzen ein Anordnungsanspruch vor, da die Antragstellerin einen Anspruch auf Leistungen für die Klassenfahrt nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II in Verbin-dung mit Satz 2 hat. Ein solcher Anspruch setzt nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II voraus, dass es sich um einen Hilfebedürftigen handelt und eine mehrtägige Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen durchgeführt wird.

Die Antragstellerin ist nach dem bestandskräftigen Bescheid vom 20. März 2007 in der Zeit vom 01. April 2007 bis zum 30. September 2007 hilfebedürftig.

Die Klassenfahrt im Juni 2007 stellt eine mehrtägige Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtli-chen Bestimmungen dar.

1. Die Klassenfahrt findet vom 04. Juni bis zum 08. Juni statt und ist mehrtägig.

2. Es handelt sich auch um eine Klassenfahrt im Sinne von § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II. Bei der Auslegung des Begriffs Klassenfahrt sind nach der üblichen Dogmatik Wortlaut, Sys-tematik, Historie und Sinn und Zweck der Regelung heranzuziehen. Der Wortlaut bietet kei-ne Anhaltspunkte für eine Einschränkung. Hiernach umfassen Klassenfahrten alle Fahrten im Klassenverband und darüber hinaus werden auch Fahrten im Jahrgangsverband erfasst. Es handelt sich um eine Bezeichnung für schulische Veranstaltungen, die mit einer Übernach-tung einhergehen und eine Beziehung zur Klasse herstellen.

Für diese weite am Wortlaut orientierte Auslegung des Begriffs Klassenfahrt spricht auch der Sinn und Zweck der Regelung. Durch diese Regelung soll unterstützungsbedürftigen Kindern finanziell ermöglicht werden, an mehrtägigen Klassenfahrten teilzunehmen, die üblicherwei-se mit höheren Kosten einhergehen (vgl. SG Dortmund, Urteil vom 04. Dezember 2006 – S 33 AS 152/05). Es soll eine Stigmatisierung der Kinder verhindert werden. Diese steht zu Be-fürchten, wenn eine Teilnahme aufgrund finanzieller Probleme ausgeschlossen ist. Ihnen wird ermöglicht am sozialen Leben innerhalb der Schule teilzunehmen. Die schulische Bil-dung und Erziehung soll keine Frage des Geldbeutels sein.

Weiterhin sind Klassenfahrten wichtiger Bestandteil der Erziehung durch Schulen. Die Rege-lung verhindert insoweit Defizite im Rahmen der pädagogischen Ausbildung und sichert da-mit Zugleich ein gewisses Maß an grundrechtlich verbürgter Chancengleichheit.

Für eine enge Auslegung spricht der Charakter der Norm als Ausnahmevorschrift. Die Rege-lung stellt eine Ausnahme für bestimmte Leistungen dar, welche gerade nicht von der Regel-leistung nach § 20 Abs. 1 SGB II erfasst werden. Insoweit liegt eine Ausnahmevorschrift vor, die nach üblicher Dogmatik eng auszulegen sind. Hierbei handelt es sich aber gerade nicht um eine streng einzuhaltende Auslegungsregelung sondern um ein Argument unter mehreren, wobei der oben dargelegte Sinn und Zweck für eine weite Auslegung orientiert am weiten Wortlaut des Begriffs Klassenfahrt spricht.

Für eine weite Auslegung spricht auch die Systematik. Der Begriff wird nach den Vorstel-lungen des Gesetzgebers eingeschränkt durch den Rahmen der schulrechtlichen Bestimmun-gen. Damit dieses Tatbestandsmerkmal einen Regelungszweck behält ist eine weitere Ein-schränkung des Begriffs der Klassenfahrt nicht möglich.

3. Diese Klassenfahrt liegt auch innerhalb der schulrechtlichen Bestimmungen. Bei der Ausle-gung des Begriffs der schulrechtlichen Bestimmungen ist nur das entsprechende Schulgesetz des Landes Brandenburg heranzuziehen. Die Beachtung der Verwaltungsvorschriften und sonstiger Anweisung ist bei einer Konkretisierung der Schulpflicht durch die Schule nicht möglich.

a) Die Bestimmung des Merkmals im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Das Gericht hat erhebliche Bedenken an diesem Tatbestands-merkmal, da es vollkommen unbestimmt ist. Zum einen ist offen, ob es sich um eine statische oder dynamische Verweisung auf die entsprechenden schulrechtlichen Bestimmungen han-delt. Wenn von einer dynamischen Verweisung ausgegangen werden sollte, würde dem Lan-desgesetzgeber die Ausgestaltung eines Anspruchs nach der bundesrechtlichen Vorschrift in § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB II obliegen. An einer solchen Möglichkeit bestehen unter Beachtung der Vorschrift in Art. 31 und Art. 3 Abs. 1 GG zumindest Bedenken. Für eine solche Mög-lichkeit spricht dagegen, dass Schulrecht weitgehend Landesrecht darstellt und eine entspre-chende Kompetenz des Bundesgesetzgebers zur Regelung nicht gegeben ist.

Die Probleme an der Bestimmtheit der Norm bleiben aber auch bei einer dynamischen Ver-weisung auf die entsprechenden Landesregelungen bestehen. Dem Bürger bleibt es voll-kommen unklar, welche Regelung für seinen Anspruch maßgeblich sind, wenn er sich nur auf die Lektüre der Regelung in § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB II verlässt. Er muss weiterhin die entsprechenden schulrechtlichen Regelungen heranziehen. Dieser Umstand spricht für eine enge Auslegung des Begriffs im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen. Unter den Begriff sind nach dieser engen Auslegung nur die entsprechenden Schulgesetze der Länder zu verstehen oder die Konkretisierung der Schulpflicht durch die Schule, wobei hier offen bleiben kann, ob eine entsprechende Schulpflicht notwendige Voraussetzung ist. Zumindest wenn die Schulpflicht durch die besuchte Schule konkretisiert wurde und die Konkretisierung nicht dem Schulgesetz widerspricht handelt es sich um eine Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen.

Mit dieser Auslegung wird die Unbestimmtheit für die Betroffenen stark reduziert und sie entspricht dem Wortlaut des Merkmals.

b) Diese Voraussetzungen liegen hier vor, da im Gesetz über die Schulen im Land Branden-burg (Brandenburgisches Schulgesetz- BbgSchulG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 02. August 2002 (GVBl.I/02, [Nr. 08], S.78), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Ge-setzes vom 08. Januar 2007 (GVBl.I/07, [Nr. 01] , S.2) eine Regelung über Klassenfahrten sich nicht befindet, ist allein auf die Konkretisierung der Schulpflicht durch die Schule abzu-stellen (ähnlich OVG Münster, Beschluss vom 07. Juli 2003 – 16 B 1361/03).

Die Schule hat im Rahmen ihrer Aufgaben die Schulpflicht auf die Schulfahrt im Juni 2007 konkretisiert. Es ist nicht die Aufgabe des Gerichts diese Entscheidung der Schule zu über-prüfen. Eine solche Überprüfung findet im Rahmen des Genehmigungsverfahrens statt nach Nr. 10 der Verwaltungsvorschriften über schulische Veranstaltung außerhalb von Schulen vom 31. Juli 1999 (VV-Schulfahrten). Wenn eine nachträgliche Überprüfung durch die An-tragsgegnerin oder das Gericht möglich wäre, könnte auch eine von der Schule abweichende Entscheidung getroffen werden. Gerade eine solche Entscheidung würde aber zu einer Stig-matisierung führen.

Für diese Auslegung spricht auch, dass entsprechende Verwaltungsvorschriften im Regelfall keine Außenwirkung entfalten.

Es ist davon auszugehen, dass es sich bei der Zulässigkeit der Klassenfahrt insoweit um eine Entscheidung mit Beurteilungsspielraum der Schule handelt. Für einen solchen Beurteilungs-spielraum spricht die erforderliche Prognoseentscheidung nach Nr. 5 VV-Schulfahrten. Hier heißt es wortwörtlich: "Neben der Vertiefung, Veranschaulichung, Erweiterung und Ergän-zung von Unterrichtsinhalten dienen sie [Klassenfahrten] partnerschaftlichem Zusammen-wirken der beteiligten Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte." Die Beurteilung die-ser Prognose liegt außerhalb der Möglichkeiten des Gerichts und muss der entsprechenden Schule überlassen bleiben. Darüber hinaus ist die Antragsgegnerin der Auffassung, dass die Zwecke Vermittlung von Unterrichtsinhalten und partnerschaftlichen Zusammenwirken kumulativ vorliegen müssen. Eine solche Voraussetzung ist dem Wortlaut der VV-Schulfahrten nach Auffassung des Ge-richts nicht zu entnehmen. Der Wortlaut lässt auch eine Schulfahrt zu, wenn nur das partner-schaftliche Zusammenwirken gestärkt werden soll.

Die Auslegung von Arbeitsanweisungen der Antragsgegnerin oder des Fachbereichs Sozia-les, Wohnen und Senioren sind nach der obigen Auslegung des Begriffs schulrechtlicher Rahmen nicht mehr maßgeblich. Darüber hinaus kann hierdurch ein gesetzlicher Anspruch der Antragstellerin nicht beschränkt werden.

Für die Auslegung des Gerichts spricht auch die Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. August 1992 nach Artikel 29 hat jeder ein Recht auf Bildung, wobei dieses unabhängig ist von der wirtschaftlichen und sozialen Lage. Weiterhin muss nach Artikel 30 das Schulwe-sen Offenheit, Durchlässigkeit der Bildungsgänge gewährleisten. Beiden verfassungsrechtli-chen Grundrechten ist das Gebot an die Antragsgegnerin zu entnehme soziale Unterschiede im Rahmen ihrer Möglichkeiten bei der Schulbildung der Antragsstellerin auszugleichen.

4. Die Kosten sind in tatsächlicher Höhe zu übernehmen, wie sich aus der Gesetzessystematik in § 23 Abs. 3 SGB II ergibt. Nach § 23 Abs. 3 Satz 5 SGB II können die Leistungen nach Absatz 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 auch in Form von Pauschbeträgen erbracht werden. Hieraus folgt der Umkehrschluss, dass eine Erbringung von Pauschbeträgen für eine Klassenfahrt nicht möglich ist, da eine entsprechende Ermächtigung fehlt (vgl. SG Lüneburg, Beschluss vom 30. Januar 2007 – S 30 AS 119/07 ER).

II. Die Antragsstellerin hat einen Antragsgrund glaubhaft gemacht. Ein Zuwarten hätte schwere und unzumutbare Nachteile zur Folge, die durch eine spätere Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten, weil die Klassenfahrt bereits am 04. Juni 2007 beginnt, einmalig und nicht zu verschieben ist.

Der Anordnungsgrund scheitert nicht an einem möglicherweise bestehenden Unterhaltsan-spruch der Antragstellerin gegen ihren Vater, da aus der Regelung in § 33 SGB II ersichtlich ist, dass die Nachrangigkeit durch entsprechenden Übergang der Ansprüche wieder hergestellt wird (vgl. Münder, in: LPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 33 Rn. 1). Eine solche Wiederherstel-lung geht davon aus, dass ein Anspruch gegen die Antragsgegnerin unabhängig von entspre-chenden Unterhaltsansprüchen der Antragstellerin gegen ihren Vater ist. III. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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