L 6 RJ 132/04

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 6 RJ 132/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Übersendet ein Gericht einem Beteiligten ohne Fristsetzung ein medizinisches Gutachten zur Stellungnahme, ist die nachträgliche Ablehnung des Sachverständigen nach mehr als einem Monat nicht mehr unverzüglich (vgl. Thüringer LSG, Beschluss vom 15. April 2002 - Az.: L 6 RJ 473/99, OLG Koblenz, Beschluss vom 29. Juni 1998 - Az.: 3 U 1078/95; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12. September 1997 - Az.: 22 W 48/97) und daher unzulässig.
Der Antrag des Antragstellers vom 2. März 2006, den Sachverständige Dr. med. H. E. O. wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt in der Hauptsache die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Diesen Anspruch lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. September 2002 ab und wies den hiergegen gerichteten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21. November 2002 zurück. Die Klage hat das Sozialgericht Nordhausen mit Urteil vom 6. Januar 2004 abgewiesen.

Im Berufungsverfahren hat der zuständige Berichterstatter des 6. Senats u.a. den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. H. E. O. mit Verfügung vom 1. März 2005 mit der Erstellung eines Gutachtens nach § 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beauftragt. Unter dem 6. April 2005 hat dieser sein Gutachten erstellt und für sein Fachgebiet diagnostiziert, der Antragsteller leide an einer distalen, funktionell unbedeutenden Parese des Nervus Peroneus rechts mit Schwäche des Zehenhebers ohne Einschränkungen für die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Im Übrigen hat er auf das orthopädische Vorgutachten des Dr. W. vom 11. Februar 2005 verwiesen.

Mit Schriftsatz vom 14. April 2005 hat der Antragsteller über seine Bevollmächtigten im Wesentlichen vortragen lassen, er sei vom Sachverständigen nur kurz untersucht worden, außerdem sei dieser erkennbar voreingenommen gewesen. Dem ist der Sachverständige mit Schreiben vom 2. Mai 2005 entgegengetreten.

Mit weiterem anwaltlichem Schreiben vom 19. Oktober 2005 hat der Antragsteller ausgeführt, dass der Sachverständige seine Angaben, die er im Rahmen der Untersuchung gemacht habe, im Gutachten in Teilen falsch dargestellt habe. Des Weiteren hat der Antragsteller die im Gutachten wiedergegebenen Beobachtungen, Schlussfolgerungen und Wertungen angegriffen. Die im Gutachten enthaltenen "weit reichenden" Diagnosen hätten nicht nach einer lediglich 20 Minuten dauernden, mehrfach unterbrochenen und äußerst oberflächlichen Untersuchung gestellt werden dürfen.

Auch diesem Schriftsatz ist der Gutachter mit Schreiben vom 31. Oktober 2005 entgegen getreten. Demgegenüber hat der Antragsteller mit Schriftsatz vom 28. November 2005 seine Ausführungen bekräftigt und das Gutachten für nicht verwertbar gehalten.

Auf Nachfrage des Gerichts vom 1. Februar 2006 hat der Antragsteller den Gutachter mit anwaltlichem Schriftsatz vom 28. Februar 2006 für befangen erklärt.

Dr. O. ist in seiner Stellungnahme vom 17. März 2006 dem Vorwurf der Befangenheit entgegen getreten.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Die Ablehnung des Sachverständigen Dr. O. ist statthaft; sie ist jedoch verspätet geltend gemacht worden und daher bereits unzulässig.

Nach § 118 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. §§ 406 Abs. 1 Satz 1, 42 Abs. 1 und 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann ein gerichtlich bestellter Sachverständiger aus denselben Gründen, die zur Ablehnung eines Richters berechtigen, wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Der Ablehnungsantrag ist nach § 406 Abs. 2 Satz 1 ZPO bei dem Gericht oder Richter, von dem der Sachverständige ernannt ist, vor seiner Vernehmung zu stellen, spätestens jedoch zwei Wochen nach Verkündung oder Zustellung des Beschlusses über die Ernennung.

Zu einem späteren Zeitpunkt ist die Ablehnung nur zulässig, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass er ohne sein Verschulden verhindert war, den Ablehnungsgrund früher geltend zu machen (§ 406 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Dies trifft grundsätzlich zu, wenn der Antragsteller – wie hier – den Ablehnungsgrund aus dem Inhalt des Gutachtens herleitet (vgl. Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage 2005, § 118 Rn. 12m; Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Auflage 2005, § 406 Rn. 11).

In diesem Fall ist der Ablehnungsantrag ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)), d.h. innerhalb einer den Umständen des Einzelfalls ange¬passten Prüfungs- bzw. Überlegungsfrist, und zwar unabhängig von der Prozesslage, zu stellen (vgl. OLG Koblenz in NJW-RR 1999, S. 72, 73; OLG Düsseldorf in NJW-RR 1998, S. 933, 934; Leipold in Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 21. Auflage 1999, § 406 Rdnr. 19; Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O.; Greger in Zöller, a.a.O.). Der Bundesgerichtshof (BGH) hält einen Befangenheitsantrag zumindest dann nicht verspätet, wenn er innerhalb der zur Stellungnahme zum Gutachten gesetzten Frist eingereicht werde und sich die Besorgnis der Befangenheit erst aus einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem schriftlichen Gutachten ergebe (vgl. Beschluss vom 15. März 2005 – Az.: VI ZB 74/04, NJW 2005, S. 1869, 1870). Da dem Antragsteller im vorliegenden Fall keine Frist zur Stellungnahme zu dem Gutachten des Dr. O. gesetzt wurde, geht der Se¬nat mit der überwiegenden Rechtsprechung und Literatur davon aus, dass eine nachträg¬liche Ablehnung nach § 406 Abs. 2 Satz 2 ZPO jedenfalls nach mehr als einem Monat nicht mehr unverzüglich ist (vgl. OLG Koblenz, a.a.O.; OLG Düsseldorf, a.a.O.; Leipold in Stein-Jonas, a.a.O. sowie Senatsbeschluss vom 15. April 2002 – Az.: L 6 RJ 473/99, nach juris). Der Monatszeitraum entspricht dem Ziel des Rechtspflege-Vereinfachungs¬gesetzes, das Ablehnungsverfahren zu straffen und berücksichtigt die zeitlichen Anforderungen an Einwände gegen die Behandlung der Sachfrage im Gutachten nach § 411 Abs. 4 ZPO (vgl. BT-Drucksache 11/3621, S. 74).

Das schriftliche Gutachten des Dr. O. ist den Bevollmächtigten des Antragstellers mit gerichtlichem Schreiben vom 26. April 2005 zur Stellungnahme übersandt worden. Den Befangenheitsantrag hat der Antragsteller erst auf entsprechende gerichtliche Nachfrage mit anwaltlichem Schreiben vom 28. Februar 2006, bei Gericht am 2. März 2006 eingegangen, gestellt. Das Ablehnungsgesuch ist mithin 10 Monate nach der Übersendung des Gutachtens gestellt worden und daher eindeutig verspätet. Den anwaltlichen Schriftsätzen vom 14. April, 19. Oktober und 28. November 2005 kann demgegenüber kein Ablehnungsgesuch entnommen werden. Abgesehen davon, dass auch die beiden letztgenannten Schriftsätze als Ablehnungsgesuche verspätet wären, setzt sich der Antragsteller in diesen Schreiben allein mit der Art und Weise der Begutachtung sowie den inhaltlichen Ausführungen im schriftlichen Gutachten auseinander. Ungeachtet dessen, dass er damit keine erheblichen Gründe dargelegt bzw. glaubhaft gemacht hat, die ernsthafte Zweifel an der Unabhängigkeit des Sachverständigen begründen könnten, da selbst eine – unterstellte – Unrichtigkeit des Gutachtens nicht zur Befangenheit führt (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Februar 2002 – Az.: L 6 RA 511/99), ist für die Stellung eines Ablehnungsgesuchs von dem anwaltlich vertretenen Antragsteller zu fordern, dass er den Sachverständigen ausdrücklich wegen der Besorgnis der Befangenheit ablehnt. Dies kann den genannten Schreiben aber gerade nicht zweifelsfrei entnommen werden.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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