S 3 U 827/03

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 827/03
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 68/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Kriterien der MdE-Bildung bei BK 4301
1. Der Bescheid der Beklagten vom 09.12.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2003 wird abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Folgen der anerkannten Berufskrankheit nach Ziffer 4301 der Anlage 1 zur BKV über den 08.08.2002 hinaus Verletztenrente aufgrund einer MdE von 20 v.H. in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in gesetzlichem Umfang zu erstatten

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Weitergewährung von Verletztenrente aufgrund einer als Berufskrankheit anerkannten Atemwegserkrankung.

Der 1944 geborene Kläger ist inzwischen berentet, von Juli 1993 bis 1998 war er als Leiter im Projektmanagement der Firma UT. Städtereinigung D. tätig. Hierbei war er gegenüber Luftschadstoffen aus Kompostieranlagen exponiert. Eine solche Exposition hatte vermutlich auch in der früheren Tätigkeit von 1973 bis 1987 als Verkaufsleiter bei Gebrüder W. KG D. bestanden. Seit November 1996 war es zu arbeitsplatzbezogenen Atembeschwerden mit Atemnot, Brustschmerzen, Schnupfen, Abgeschlagenheit und belegter Stimme gekommen. Anlässlich eines stationären Aufenthaltes Anfang 1998 wurde ein Asthma bronchiale bei Schimmelpilzsensibilisierung festgestellt. Daraufhin erfolgte die Anzeige einer Berufskrankheit durch die Krankenkasse.

Die Beklagte stellte über den Technischen Aufsichtsdienst (TAD) fest, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 4301 zu bejahen sind und holte sodann ein arbeitsmedizinisch-lungenfachärztliches Gutachten bei Dr. D., D-Stadt, vom 30.05. 2000 ein. Der Sachverständige bejahte hinsichtlich der Diagnose einer obstruktiven Atemwegserkrankung aus allergischer Ursache gegenüber Schimmelpilzen mit unspezifischer bronchialer Hyperreaktivität die medizinischen Voraussetzungen für die BK 4301, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bewertete er mit 15 v.H. ab Aufgabe der Tätigkeit, da keine dauerhafte Bronchialobstruktion feststellbar sei.

Zur Akte gelangten weiter diverse Arztberichte, Gutachten des MDK und des Rentenversicherungsträgers. Danach besteht bei dem Kläger zusätzlich ein degeneratives Wirbelsäulenleiden, eine koronare Herzkrankheit mit Zustand nach Bypass-OP, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung sowie eine Schlafapnoe mit dem Erfordernis einer Maskenbeatmung, außerdem eine rezidivierende depressive Störung. In einer Stellungnahme hierzu bestätigte der Sachverständige Dr. D. das Ergebnis seines Gutachtens und datierte den Leistungsfall auf den 10.02.1998.

Der Kläger legte eine internistisch-allergologische Stellungnahme des Dr. R., Fachkrankenhaus MJ. Grafschaft in Sch. vom 27.09.2000 vor, der allein aufgrund der objektivierbaren Funktionseinschränkungen eine MdE von 20 v.H. für angemessen hielt, im Hinblick auf individuelle besondere Verhältnisse sei die MdE insgesamt mit 30 v.H. zu bewerten. Mit Datum vom 12.12.2000 widersprach Dr. D. dieser Bewertung. Im Hinblick auf die besondere Problematik holte die Beklagte ein weiteres arbeitsmedizinisch-sozialmedizinisches Gutachten bei Frau Prof. Dr. B.-G., Institut für Arbeitsmedizin der Uni D., vom 05.11.2001 ein. Diese bewertete die MdE ab Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit durchgehend mit 20 v.H. Im Hinblick darauf, dass die Untersuchungen unter atemwegsspezifischer Medikation stattgefunden hatten, wurde eine erneute Untersuchung unter stationären Bedingungen ohne Medikation vorgeschlagen.

Die Beklagte veranlasste daraufhin eine dreiwöchige stationäre Reha-Maßnahme des Klägers im Institut für Arbeits-und Sozialmedizinische Allergiediagnostik Bad S., im Rahmen dessen am 08.08.2002 ein internistisch-allergologisches Gutachten durch Prof. Dr. WV. erstattet wurde, wobei wiederum keine medikationsfreie Untersuchung möglich war. Danach betrage bis 10.07.2002 die MdE 20 v.H., im Hinblick auf die wiederholt gemessenen unauffälligen Lungenfunktionsparameter sei die MdE jedoch ab 11.07.2002 (Beginn der Reha) nur noch mit 10 v.H. zu bewerten.

Durch Bescheid vom 09.12.2002 erkannte die Beklagte bei dem Kläger eine BK 4301 an und gewährte Verletztenrente aufgrund einer MdE von 20 v.H. für die Zeit vom 11.02.1998 bis 08.08.2002 (Ende der Reha-Maßnahme), danach liege keine rentenrelevante MdE mehr vor. Der hiergegen fristgerecht eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 27.03.2003 als unbegründet zurückgewiesen.

Der Kläger hat hiergegen am 28.04.2003 vor dem Sozialgericht Gießen Klage erhoben.

Er hat einen Arztbrief des Fachkrankenhauses MJ. Grafschaft vom 25.06.2003 vorgelegt, sodann hat nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) PD Dr. C., Zentralinstitut für medizinische Begutachtung und Arbeitsmedizin C-Stadt, am 08.06.2004 ein arbeitsmedizinisch-internistisches Gutachten erstattet. Dieser Sachverständige hat die MdE weiterhin mit 20 v.H. bewertet, da die Auswirkungen der obstruktiven Atemwegserkrankung durch die entsprechende Therapie maskiert seien, somit keine Besserung eingetreten sei. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 15.09.2004 hat Dr. C. dieses Ergebnis nochmals bestätigt.

Die Beklagte hat einen Befundbericht des Lungenfacharztes Dr. B. vom 12.05.2005 vorgelegt, sodann hat nach § 106 SGG Dr. E., H., ein internistisch-pneumologisches Gutachten vom 13.06.2006 erstattet, wonach die MdE durchgehend mit 20 v. H zu bewerten sei, da keine signifikante Besserung der Lungenfunktion im Verlauf festzustellen sei. Auf eine hierzu von der Beklagten vorgelegte kritische Stellungnahme des Internisten Dr. Sch. , E., vom 05.09.2006, hat Dr. E. mit Datum vom 29.10.2006 weiterhin sein Ergebnis vertreten. Die Beklagte hat eine weitere Äußerung des Dr. Sch. vorgelegt, der eine MdE von 20 v. H. für überhöht gehalten hat.

Der Kläger trägt vor, er leide nach wie vor an erheblichen Einschränkungen, insbesondere Luftnot, ferner unter den Nebenwirkungen der erforderlichen medikamentösen Therapie. Es gebe keinen Grund, an dem Ergebnis des ausführlichen und nachvollziehbaren Gutachtens des Dr. E. zu zweifeln.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 09.12.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2003 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Folgen der anerkannten Berufskrankheit nach Ziffer 4301 der Anlage 1 zur BKV über den 08.08.2002 hinaus Verletztenrente aufgrund einer MdE von 20 v. H. in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält die getroffenen Feststellungen für zutreffend. Die Gutachten des Dr. C. und des Dr. E. seien hinsichtlich der MdE-Bewertung nicht schlüssig.

Zum Sach- und Streitstand im Einzelnen wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten des Klägers bei der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhobene Klage ist zulässig und auch begründet.

Der angegriffene Bescheid der Beklagten ist abzuändern, denn der Kläger hat auch über den 08.08.2002 hinaus Anspruch auf Zahlung von Verletztenrente, da die anerkannte Berufskrankheit weiterhin eine MdE von 20 v. H. bedingt.

Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 SGB VII). Von dieser Ermächtigung hat die Bundesregierung mit dem Erlass der Berufskrankheitenverordnung (BKV) Gebrauch gemacht und in Ziffer 4301 der Anlage 1 als Berufskrankheit anerkannt:

"Durch allergisierende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen (einschließlich Rhinopathie), die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können".

Vorliegend steht nach dem Ergebnis der Ermittlungen der Beklagten fest, dass bei dem Kläger eine Berufskrankheit gemäß Ziffer 4301 anzuerkennen ist.

Diese ist zur Überzeugung des Gerichts auch durchgehend mit einer MdE von 20 v. H. zu bewerten, denn es liegt eine relevante Sensibilisierung gegenüber einem ubiquitär vorkommenden LT. vor, wodurch ein Asthma bronchiale hervorgerufen und unterhalten wird, dessen Auswirkungen auf die Atemfunktion lediglich unter Dauertherapie mit atemwegsspezifischen Medikamenten annähernd im Normbereich gehalten werden kann, darüber hinaus ist eine hierdurch bedingte erhöhte Exacerbationsrate bei der MdE-Bildung zu berücksichtigen.

Abweichend sind die Gutachten lediglich hinsichtlich der Bewertung der MdE für den Zeitraum ab 08.08.2002, dem Zeitpunkt der Beendigung der Rehamaßnahme in Bad S ... Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) richtet sich grundsätzlich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (vergleiche § 56 Abs. 1 S. 1 sowie Abs. 2 S. 1 SGB VII). Für die Bemessung der MdE sind dabei im Interesse der Gleichbehandlung aller Versicherten die Erfahrungswerte heranzuziehen, die sich in der Rechtsprechung und Praxis der Unfallversicherungsträger herausgebildet haben.

Die Bewertung der MdE ist insofern jedoch eine rechtliche Wertung in Form einer Schätzung und obliegt der Verwaltung bzw. dem erkennenden Gericht auf der Grundlage der medizinisch erhobenen Befunde (vgl. BSG vom 22.08.1989, HV-Info 28/1989, 2268; BSG E 4, 147, 149 vom 29.11.1956; BSG E 6, 267,268 vom 17.01.1958; BSG E 41, 99, 101 vom 15.12.1975).

Im Hinblick auf eine Gleichbehandlung aller Versicherter sind dabei insbesondere auch von Medizinern und Juristen entwickelte Begutachtungsempfehlungen und Konsenspapiere heranzuziehen, für die hier relevante Erkrankung ist dies das sog. "Bad Reichenhaller Merkblatt", Begutachtungsempfehlungen für die Berufskrankheiten der Nrn. 1315 (ohne Alveolitis), 4301 und 4302 der Anlage zur BKV, herausgegeben vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und mittlerweile in der Auflage April 2006 erschienen. Darin wurden aktuellste medizinische Erkenntnisse verarbeitet, insbesondere vollzog sich gegenüber der Vorauflage insofern ein Paradigmenwechsel, als nunmehr hinsichtlich der MdE-Bewertung nicht ausschließlich auf aktuell feststellbare Funktionseinschränkungen abgestellt wird. Eine tabellarische Übersicht zur MdE-Bewertung findet sich im Reichenhaller Merkblatt auf Seite 44 unter 6.2.2., diese beschreibt nach Auffassung der Kammer plausible Kriterien zur Bewertung der medizinisch-funktionellen Beeinträchtigung.

Danach rechtfertigen die Befunde weiterhin, insbesondere über den 08.08.2002 hinaus die Feststellung einer MdE von 20 v. H.

Das Gericht stützt sich insoweit auf die im Rahmen der Gutachten nach § 106 bzw. § 109 SGG von Dr. E. und Dr. C. erhobenen Befunde, welche im Wesentlichen vergleichbar waren mit den Ergebnissen der Untersuchungen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, außerdem auf den Befundbericht des Dr. B. vom 12.05.2005.

Danach fand sich unter Medikation keine eindeutige Obstruktion bei grenzwertiger Restriktion und Normoxämie, bei Nachweis einer leichtgradigen unspezifischen bronchialen Hyperreagibilität im Provokationstest. Festgestellt wurde außerdem eine Sensibilisierung der tieferen Atemwege gegenüber Schimmelpilzen sowie eine erhöhte Exacerbationsrate, nachdem Dr. B. im Mai 2005 bereits 4 Exacerbationen berichtet hat, welche jeweils mit Antibiotika behandelt werden mussten.

Übertragen auf die Tabelle 6.2.2 des Bad Reichenhaller Merkblattes Auflage April 2006 bedeutet dies, dass zumindest eine MdE von 20 v. H. vertretbar ist, denn es liegt auch unter Dauermedikation keine völlige Beschwerdefreiheit vor.

Im Hinblick auf die Neufassung des Reichenhaller Merkblattes ist somit bereits danach der Klageanspruch begründet.

Darüber hinaus ist die Kammer der Auffassung, dass auch bei obstruktiven Atemwegserkrankungen der Verbreitungsgrad des Allergens zu berücksichtigen ist, wie dies bei der Begutachtung allergischer Hauterkrankungen bereits Konsens ist (vgl. Bamberger Merkblatt, Begutachtungsempfehlungen für die BK Nr. 5101 der Anlage zur BKV, Auflage Mai 2004, S 20 ff.), da für eine Andersbehandlung keine Gründe ersichtlich sind. Im Hinblick auf den Verbreitungsgrad von Schimmelpilzen sowohl im öffentlichen wie im privaten Bereich muss daher die nachgewiesene Sensibilisierung des Klägers hiergegen in die MdE-Bewertung mit einfließen, wodurch die Bewertung der MdE mit 20 v. H. zusätzlich gestützt wird.

Der Klage war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143 SGG.
Rechtskraft
Aus
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