L 10 Ar 844/94

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 7 Ar 674/92
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 10 Ar 844/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 7 RA 114/97
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. April 1994 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger verpflichtet ist, Unterhaltsgeld und Leistungen nach § 45 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) zu erstatten.

Der 1965 geborene Kläger beantragte am 9. August 1988 die Förderung seiner Teilnahme an einer Maßnahme der beruflichen Umschulung zum Werkzeugmechaniker, die am 1. September 1988 beginnen und bis zum 31. Dezember 1990 durchgeführt werden sollte. Durch Bescheide vom 4. November 1988 bewilligte die Beklagte für die Zeit ab 5. September 1988 Unterhaltsgeld sowie Leistungen nach § 45 AFG (Lehrgangsgebühren, Arbeitskleidung, Fahrkosten).

Seit November 1988 war der Kläger wiederholt erkrankt. Am 28. Dezember 1988 erhielt die Beklagte vom Maßnahmeträger, dem Berufsbildungszentrum des Jugendsozialwerkes e.V. in Frankfurt am Main, die Mitteilung, wegen der bereits eingetretenen Fehlzeiten bestehe die Gefahr, daß der Kläger das Lehrgangsziel nicht erreichen könne. Die Beklagte hörte daraufhin den Kläger mit Schreiben vom 2. Februar 1989 an, wobei sie ihn darauf aufmerksam machte, daß die Entscheidung über die Bewilligung des Unterhaltsgeldes gemäß § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) für die Tage aufzuheben sei, für die keine wichtigen Gründe im Sinne des § 10 Abs. 5 der Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit (BA) über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung (AFuU) anerkannt werden könnten. Der Erstattungsanspruch ergebe sich aus § 50 SGB X. Am 15. März 1989 hielt der für den Kläger zuständige Arbeitsberater mit an die Leistungsabteilung des Arbeitsamtes Frankfurt am Main gerichtetem Schreiben fest, die Umschulung zum Werkzeugmechaniker sei vom Kläger ab dem 28. Februar 1989 abgebrochen worden. Wichtige Gründe für den Abbruch würden nicht anerkannt. In einer beigefügten "Erklärung über den Abbruch einer Bildungsmaßnahme” führte der Kläger aus, er habe Anlaß zum Abbruch der Bildungsmaßnahme gegeben. Er habe Arbeit bei der Firma T. angeboten bekommen, deshalb wolle er den Bildungslehrgang abbrechen. Außerdem seien 1.500,– DM für ihn als Alleinernährer einer dreiköpfigen Familie nicht ausreichend. In einer Stellungnahme zu dieser Erklärung heißt es, der Kläger sei anläßlich einer Vorsprache am 17. Februar 1989 auf die Rechtsfolgen bei Abbruch der Maßnahme ohne wichtigen Grund persönlich hingewiesen worden. Ein solcher liege nicht vor, weil er keine konkrete Arbeitsstelle in Aussicht gehabt habe. Es sei auch nicht zu erwarten, daß sich seine finanzielle Situation durch erneute Arbeitslosigkeit verbessere.

Nachdem der Maßnahmeträger der Beklagten am 7. April 1989 mitgeteilt hatte, daß der Kläger letztmalig am 24. November 1988 am Unterricht teilgenommen hatte, hob die Beklagte durch Bescheid vom 19. April 1989 ihre Entscheidung über die Bewilligung von Unterhaltsgeld mit Wirkung vom 25. November 1988 sowie für die – unentschuldigt gebliebenen – Fehltage 14. und 15. November 1988 auf. Des weiteren hob sie die Bewilligung von Leistungen nach § 45 AFG ebenfalls mit Wirkung vom 25. November 1988 und für die Zeiträume vom 1. bis 15. November 1988 sowie vom 17. bis 18. November 1988 auf. Grund für die Aufhebung sei die fehlende Teilnahme an der Maßnahme. Wegen der überzahlten Leistungen erhalte der Kläger noch gesondert einen Bescheid. Einen Rechtsbehelf gegen den Bescheid vom 19. April 1989 legte der Kläger nicht ein.

Nachdem der Maßnahmeträger auf Anfrage der Beklagten vom 20. März 1990 und 13. August 1990 die bis zum letzten Tag der Teilnahme angefallenen Maßnahmekosten mit am 22. Januar 1991 eingegangenem Schreiben vom 17. Januar 1991 mitgeteilt hatte, stellte die Beklagte die Höhe des Erstattungsbetrages mit 6.932,88 DM fest. Dieser setzte sich zusammen aus für den Zeitraum vom 14. November 1988 bis zum 25. März 1989 tatsächlich gezahltem Unterhaltsgeld sowie um für die Zeit vom 1. Dezember 1988 bis zum 30. April 1989 angefallenen Maßnahmekosten in Höhe von 350,28 DM. Sodann teilte die Beklagte dem Kläger mit Erstattungsbescheid vom 6. September 1991 unter Bezugnahme auf ihren Aufhebungsbescheid vom 19. April 1989 mit, daß für die von der Aufhebung betroffenen Zeiten eine Überzahlung in Höhe von insgesamt 6.932,88 DM eingetreten sei. Dieser Betrag sei gemäß § 50 SGB X zu erstatten. Hiergegen erhob der Kläger am 30. September 1991 Widerspruch. Zur Begründung machte er geltend, die Umschulung sei vom Arbeitsamt am 15. März 1989 wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten zum 28. Februar 1989 eingestellt worden. Es habe ihm praktisch sofort eine Arbeit bei der Firma T. vermittelt. Man habe ihm dabei eindeutig erklärt, daß er die bis jetzt erhaltenen Leistungen nicht zurückerstatten müsse, wenn er eine Arbeit aufnehme. Nach nochmaliger Anhörung des Klägers mit Schreiben vom 5. Februar 1992 wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 1992 zurück.

Auf die am 18. März 1992 erhobene Klage hat das Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) den Bescheid vom 6. September 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 1992 aufgehoben. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, es stehe zwar fest, daß der Kläger ab dem 18. November 1988 nicht mehr an der Maßnahme teilgenommen habe, dennoch halte die angefochtene Entscheidung einer Überprüfung nicht stand. Der Bescheid vom 19. April 1989 habe gegen § 50 Abs. 3 SGB X verstoßen, weil für eine getrennte Beurteilung des Sachverhalts nach den §§ 48 und 50 SGB X kein Grund ersichtlich sei. Die Ermittlung hinsichtlich der Höhe der Erstattungssumme, die sich aus den Fehltagen ergeben habe, sei nicht sonderlich schwierig gewesen. Allerdings sei der Bescheid vom 19. April 1989 bindend geworden. Indes habe die Beklagte erst zweieinhalb Jahre später – durch den Bescheid vom 6. September 1991 – die Erstattung geltend gemacht. Der Sachverhalt, der den Rücknahmebescheid begründet habe, sei der Beklagten bereits im März 1989 bekannt gewesen. Die einjährige Frist des § 45 Abs. 4 SGB X, nach der die Behörde die Zurücknahme des Verwaltungsaktes innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen, aussprechen müsse, habe im März 1990 geendet. Die Überschreitung der Frist mache den Erstattungsbescheid fehlerhaft. Die Beklagte könne sich nicht darauf berufen, daß der Kläger den Aufhebungsbescheid erhalten, demnach Kenntnis von der Rückerstattung gehabt habe. Die Erstattungsentscheidung gehöre nämlich eng zu der Aufhebungsentscheidung und müsse gleichzeitig, mindestens aber innerhalb der Jahresfrist erfolgen. Dies folge aus Sinn und Zweck des § 45 Abs. 4 SGB X.

Gegen dieses ihr am 18. August 1994 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer am 13. September 1994 eingegangenen Berufung. Sie führt zur Begründung aus, daß die Voraussetzungen einer Erstattungspflicht nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X erfüllt seien. Durch den Bescheid vom 19. April 1989 seien die Bewilligungsentscheidungen aufgehoben worden. Den insoweit zu erstattenden Betrag habe die Beklagte durch schriftlichen Verwaltungsakt (§ 50 Abs. 3 SGB X), nämlich durch den Erstattungsbescheid vom 6. September 1991, festgesetzt. Der Umstand, daß die Aufhebung und die Erstattung entgegen der Soll-Vorschrift des § 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X in zwei Bescheiden und nicht in einem Bescheid erfolgt sei, stehe deren Rechtmäßigkeit nicht entgegen. Die genannte Vorschrift sei als reine Ordnungsvorschrift anzusehen, deren Verletzung keine Rechtsfolgen nach sich ziehe. Werde die Festsetzung der zu erstattenden Leistung abweichend vom Regelfall nicht zusammen mit der Aufhebung der Bewilligungsentscheidung vorgenommen, könne sie ohne Beachtung einer Frist erfolgen. Die Auffassung des SG, die Erstattungsentscheidung müsse innerhalb eines Jahres nach der Aufhebungsentscheidung getroffen werden, sei somit unzutreffend. Der ihr zustehende Erstattungsanspruch sei auch nicht verwirkt. Zwischen dem Bescheid über die Aufhebung der Bewilligung von Förderungsleistungen und dem Erstattungsbescheid liege zwar ein Zeitraum von knapp zweieinhalb Jahren; daraus könne der Kläger jedoch den Einwand der Verwirkung nicht herleiten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) werde regelmäßig eine Zeitspanne der Untätigkeit von vier Jahren als unterste Grenze angesehen, um Verwirkung annehmen zu können. Außer dem "Zeitmoment” müßten für die Annahme der Verwirkung noch weitere besondere Umstände hinzutreten, weil bloßes Nichtstun allein nicht ausreichend sei. Solche Umstände seien vorliegend nicht ersichtlich.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. April 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, die Rechtwidrigkeit des Bescheides vom 6. September 1991 ergebe sich im wesentlichen daraus, daß die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 SGB X nicht eingehalten worden sei. Zwar sei § 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X lediglich eine Soll-Vorschrift; dies habe die Beklagte jedoch nicht von der Verpflichtung entbunden, die allgemeinen Regeln des SGB X zu beachten. Wie dessen § 50 Abs. 2 zeige, seien auch bei einem Erstattungsbescheid die §§ 45 und 48 (und somit auch § 45 Abs. 4) SGB X zu beachten. Daß dies in § 50 Abs. 1 nicht ausdrücklich geregelt sei, ergebe sich daraus, daß bei Aufhebung eines Verwaltungsaktes die §§ 45 und 48 SGB X sowieso zu befolgen seien. Es sei nicht zu erkennen, daß der Gesetzgeber für den Erlaß eines Rückerstattungsbescheides keine zeitliche Beschränkung gewollt habe. Für eine solche zeitliche Beschränkung spreche im übrigen auch § 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X. Durch die Verknüpfung von Aufhebungs- und Erstattungsbescheid habe die Behörde den Erstattungsbescheid auch innerhalb der Jahresfrist zu erlassen. Es sei auch nicht zu erkennen, warum die Beklagte mehr als zwei Jahre benötigt habe, um zu ermitteln, in welcher Höhe Kosten vom Kläger zu erstatten gewesen seien. Für ihn habe überhaupt keine Veranlassung bestanden, gegen den Aufhebungsbescheid Widerspruch einzulegen, weil ihm seinerzeit gesagt worden sei, daß keine Rückerstattung erfolgen müsse, wenn er im Anschluß an die Umschulungsmaßnahme sofort eine Arbeit aufnähme. Wie sich aus seiner Erklärung über den Abbruch einer Bildungsmaßnahme entnehmen lasse, habe er die Maßnahme aber gerade abgebrochen, weil ihm die Beklagte die Arbeit bei der Firma T. angeboten habe. Insoweit sei es auch am 23. März 1989 zum Abschluß eines Arbeitsvertrages gekommen. Unter Berücksichtigung dieser Umstände sei auch eine Verwirkung zu bejahen.

Im übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten auf den Inhalt der Akten der Beklagten und der Gerichtsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet. Da der angefochtene Bescheid vom 6. September 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 1992 rechtmäßig ist, hat das SG der Klage zu Unrecht stattgegeben. Der Kläger ist zur Leistungserstattung verpflichtet.

Nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, da die Entscheidungen der Beklagten über die Bewilligung von Unterhaltsgeld sowie über die Bewilligung von Leistungen nach § 45 AFG durch den – bestandskräftigen – Bescheid vom 19. April 1989 aufgehoben worden sind. Aus der Aufhebung der Bewilligungsbescheide als rechtfertigendem Leistungsgrund folgt nach der Grundnorm des § 50 Abs. 1 SGB X zwingend die Pflicht zur Erstattung.

Eine Rechtswidrigkeit des Erstattungsbescheides folgt auch nicht aus der die Form der Rückforderung regelnden Vorschrift des § 50 Abs. 3 SGB X. Nach dessen Satz 1 ist die zu erstattende Leistung – wie vorliegend geschehen – durch schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen. § 50 Abs. 3 Satz 2 bestimmt, daß die Festsetzung, sofern die Leistung aufgrund eines Verwaltungsaktes erbracht worden ist, mit der Aufhebung des Verwaltungsaktes verbunden werben soll. Zu dieser Regelung hat der Senat bereits mit Urteil vom 11. November 1988 – L-10/Ar-310/85 – ausgeführt, § 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X stelle kein zwingendes Recht dar, sondern bedeute nur, daß der die Leistung aufhebende Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig sein müsse, bevor ein Rückforderungsbescheid ergehe. Sinn der Verbindung von Aufhebung und Rückforderung sei es, alle Rechtsfolgen möglichst schnell und einheitlich zu klären. Würden im Einzelfall der Aufhebungs- und der Rückforderungsbescheid getrennt erlassen, so führe dies nicht zur Rechtswidrigkeit der Bescheide. An dieser Rechtsauffassung ist festzuhalten.

§ 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X fordert die Verbindung von Erstattungs- mit dem Aufhebungsbescheid lediglich für den Regelfall ("Soll”). Es handelt sich um eine – nicht zwingende – Formvorschrift, für die § 42 SGB X Geltung beansprucht. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes grundsätzlich nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustandegekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Letzteres war nicht der Fall, weil – wie ausgeführt – die Pflicht zur Erstattung nach § 50 Abs. 1 SGB X zwingend vorgeschrieben ist.

Auch aus dem Sinn der Vorschrift ist nicht herzuleiten, daß dann, wenn die Verwaltung entgegen der Soll-Vorschrift Aufhebung und Erstattung mit getrennten Bescheiden geltend macht, dies mit Sanktionen verknüpft ist. Die Auffassung des Senats (a.a.O.), daß es Sinn der Verbindung von Aufhebung und Rückforderung sei, alle Rechtsfolgen möglichst schnell und einheitlich zu klären, hat keinen Widerspruch gefunden (vgl. Gesamtkommentar zum SGB-Sozialversicherung, § 50 Rdnr. 54; Wiesner in: Schroeder/Printzen, SGB X, 3. Auflage 1996, § 50 Anm. 21). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) ist der Sinn der Verbindungsvorschrift, die Rechtsfragen der Rückabwicklung des Sozialleistungsverhältnisses möglichst schnell und einheitlich zu klären (BVerwGE 90, 25, 34; ebenso Kasseler Kommentar-Steinwedel, Ergänzungslieferung 19, Oktober 1996, 10 SGB X § 50 Rdnr. 46). Dieser Individualinteressen jedenfalls nicht unmittelbar berücksichtigende Zweck erfordert nicht die Aufhebung des Erstattungsbescheides, wenn dieser nicht zugleich mit der Aufhebung ergangen ist.

Nicht zu folgen vermag der Senat auch der Auffassung des SG und des Klägers, die Entscheidung über die Erstattung von Leistungen hätte innerhalb eines Jahres nach der Aufhebungsentscheidung getroffen werden müssen. § 45 Abs. 4 SGB X, auf den in dem angefochtenen Urteil insoweit abgestellt wird, ist nämlich auf Verwaltungsakte, die auf § 50 Abs. 1 SGB X beruhen, nicht anwendbar. Die Jahresfrist der zuerst genannten Vorschrift ist – wie aus dem Zusammenhang zwischen § 45 Abs. 4 Satz 1 mit § 45 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 2 SGB X folgt – nur beachtlich bezüglich der Aufhebung des Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit. Kraft ausdrücklicher Anordnung gilt sie außerdem für Erstattungen, die abweichend vom Fall des Klägers auf der Grundlage des § 50 Abs. 2 SGB X angeordnet werden, soweit also Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind. Für Erstattungsbescheide, die – wie vorliegend – auf der Grundlage des § 50 Abs. 1 SGB X ergehen, gilt eine gesonderte Jahresfrist nicht. Diese Rechtslage ist so eindeutig, daß der in dem Urteil des BSG vom 27. Juli 1989 (11/7 RAr 111/87) formulierte – und vom SG herangezogene – Grundsatz, Rechtsvorschriften seien vor dem Hintergrund des Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG) im Zweifel so auszulegen, daß ein wegen Rechtswidrigkeit aufgehobener Verwaltungsakt für den Betroffenen auch mittelbar keine nachteiligen Folgen habe, im Streitfall ohne Bedeutung ist. Zudem behandelte die genannte revisionsgerichtliche Entscheidung eine Rechtsfrage, die vorliegend keine Rolle spielt. Es ging darum, ob die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X auch für einen Rücknahmebescheid uneingeschränkt gilt, der an die Stelle eines denselben Gegenstand regelnden, zwar fristgemäß erteilten, aber wegen Rechtswidrigkeit aufgehobenen bzw. aufzuhebenden früheren Aufhebungsbescheides oder Rücknahmebescheides tritt. Hierzu weist der Fall des Klägers keine Ähnlichkeiten auf. Insbesondere geht es auch nicht um die Verhinderung oder Beseitigung nachteiliger Folgen aus einem wegen Rechtswidrigkeit aufgehobenen Verwaltungsaktes. Vielmehr ist, da der Kläger den Aufhebungsbescheid vom 19. April 1989 nicht angegriffen hat, von dessen Rechtmäßigkeit auszugehen.

Der Erstattungsanspruch der Beklagten ist auch nicht verwirkt. Zwar ist das Rechtsinstitut der Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) auch im öffentlichen Recht, insbesondere im Recht der Sozialversicherung, anerkannt (vgl. BSGE 41, 275, 278). Es beinhaltet im wesentlichen, daß es als eine unzulässige Rechtsausübung anzusehen ist, wenn ein Recht im Widerspruch zu eigenem früheren Verhalten geltend gemacht wird. Zwar besteht hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale der Verwirkung im Einzelnen nicht durchweg Einigkeit, doch werden die wesentlichen Voraussetzungen, unter welchen der Verwirkungsgedanke durchgreift, in Rechtsprechung und Schrifttum übereinstimmend genannt. Die Verwirkung als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung setzt voraus, daß der Berechtigte die Ausübung seines Rechtes während eines längeren Zeitraumes unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen (ständige Rechtsprechung, vgl. BSGE 35, 91, 95 m.w.N. aus der umfangreichen Rechtsprechung). Diese Formel läßt sich dahingehend konkretisieren, daß die eine Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände” dann vorliegen, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, daß dieser das Recht nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, daß das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und sich infolge dessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), daß ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (BVerwGE 44, 339, 343 f. m.w.N.; BSG SozR 2200 § 1399 Nr. 11).

Vorliegend vermag sich der Kläger nicht mit Erfolg auf eine Vertrauensgrundlage zu berufen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob dem Kläger – wie von ihm vorgetragen – im März 1989 erklärt worden war, im Falle einer Arbeitsaufnahme brauche er die zuvor erhaltenen Leistungen nicht zurückzuerstatten. Ein darauf möglicherweise gestütztes Vertrauen war nämlich bereits wieder mit der Bekanntgabe des Aufhebungsbescheides vom 19. April 1989 zerstört. Mit diesem Bescheid, der sichtlich an das Anhörungsschreiben der Beklagten vom 2. Februar 1989 anknüpft, kündigte die Beklagte wegen der überzahlten Leistungen den Erlaß eines gesonderten Bescheides an. Mit der Beseitigung des Vertrauenstatbestandes vor Ablauf eines längeren Zeitraumes, der zur Erfüllung des Verwirkungstatbestandes ebenfalls erforderlich ist, kann die Beklagte ihr Erstattungsbegehren schlechterdings nicht verwirkt haben.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, diejenige über die Zulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved