L 10 Ar 894/94

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 15 Ar 743/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 10 Ar 894/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Juni 1994 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Verkürzung einer Sperrfrist gemäß § 18 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) im Streit.

Der Kläger ist Konkursverwalter der Bekleidungswerke W. GmbH in Am 14. September 1992 trat bei der seit 1954 bestehenden Firma Zahlungsunfähigkeit ein mit der Folge der Konkursantragstellung mit sofortiger Sequestrationsanordnung. Das Konkursverfahren wurde durch das Amtsgericht Langen am 30. September 1992 eröffnet, und der Kläger wurde zum Konkursverwalter bestellt.

Mit Datum vom 22. September 1992 ging bei der Beklagten am 23. September 1992 eine Anzeige von Entlassungen gemäß § 17 des KSchG für insgesamt 21 Arbeitnehmer ein. In dem Antrag wurde eine Abkürzung der Entlassungssperre gemäß § 18 Abs. 1 KSchG beantragt mit der Begründung, daß die Kündigungen zum frühest möglichen Zeitpunkt vorzunehmen seien, damit die Konkursabwicklung überhaupt ermöglicht werde. Eine Fortführung des Geschäftsbetriebes sei nicht möglich.

Die Beklagte bestätigte diesen Antrag und stellte in Aussicht, daß der Ausschluß für anzeigepflichtige Entlassungen beim Landesarbeitsamt Hessen in Frankfurt am Main demnächst über den Antrag auf Verkürzung der gesetzlichen Sperrfrist entscheiden und gleichzeitig prüfen werde, ob die Frist gegebenenfalls nach § 18 Abs. 2 KSchG bis auf längstens zwei Monate zu verlängern sei. Gemäß § 18 Abs. 1 KSchG würden die Entlassungen ohne Zustimmung des Ausschusses erst am 24. Oktober 1992 rechtswirksam.

Mit Bescheid des Ausschusses für anzeigepflichtige Entlassungen beim Landesarbeitsamt Hessen vom 9. November 1992 wurde der Antrag auf Verkürzung der gesetzlichen Sperrfrist (24. September 1992 bis 23. Oktober 1992) zurückgewiesen; die angezeigte Entlassung von 21 Arbeitnehmern zum 14. Oktober 1992 sei innerhalb dieser Frist nicht zulässig. Hierbei ging der Ausschuß davon aus, daß die Einhaltung der Sperrfrist den im KSchG vorgesehenen Normalfall darstelle, von dem nur in besonders begründeten Ausnahmefällen abgesehen werden könne. Dieser Ausnahmefall liege nicht vor. Die Zahlungsunfähigkeit eines Unternehmens allein stelle keinen Anspruch auf Verkürzung der Sperrfrist her. Zur Ablehnung des Antrages führe insbesondere die Feststellung, daß die angezeigten Entlassungen den regionalen Arbeitsmarkt belasten würden. Bei Gegenüberstellung der Zahl der Arbeitslosmeldungen mit der Zahl der im Sperrfristzeitraum durchgeführten Vermittlungen werde deutlich, daß das Arbeitsamt für seine Bemühungen bei einem Teil der betroffenen Arbeitnehmer zumindest die gesetzliche Sperrfrist von einem Monat benötige. Der Ausschuß erhebe jedoch keine Einwände dagegen, daß die angezeigten Entlassungen innerhalb eines Monats nach Ablauf der an die gesetzliche Sperrfrist anschließenden Freifrist, nämlich vom 24. Oktober 1992 bis 23. November 1992, durchgeführt würden. Hierbei habe der Ausschuß von der in die Freifrist fallenden Entlassung von sieben Arbeitnehmern zum Ablauf des 31. Oktober 1992 Kenntnis genommen. Die Entlassung von weiteren fünf Arbeitnehmern zum 30. November 1992 sei im Rahmen der Bestimmungsgrößen des § 17 Abs. 1 KSchG nicht anzeigepflichtig.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger als Konkursverwalter der Firma W. GmbH Widerspruch ein, den er wie folgt begründete: Er sah den von der Beklagten zitierten Ausnahmefall insbesondere darin begründet, daß längstens bis zum 30. September 1992 eine Entscheidung über den Konkursantrag hätte herbeigeführt werden müssen, da zu diesem Zeitpunkt die Dreimonatsfrist für das Konkursausfallgeld abgelaufen wäre. Etwa 75 Mitarbeiter im Zweigwerk hätten bereits seit Juli 1992 keinen Lohn mehr erhalten. Infolge der schlechten Ergebnisse auf den Modemessen habe die Gemeinschuldnerin Auftragseinbrüche bis zu 50 % hinnehmen müssen. Daraus ergebe sich zwangsläufig, daß eine Weiterführung des Geschäftsbetriebes nach Konkurseröffnung nicht mehr möglich gewesen sei. Im Rahmen der erstellten Masserechnung seien sämtliche Kündigungszeiten der teilweise Jahrzehnte im Betrieb tätigen Mitarbeiter in einer Größenordnung von DM 2,3 Mio eingestellt worden. Unter Berücksichtigung der sonstigen nach Konkurseröffnung noch weiterlaufenden Masseverbindlichkeiten hätten sich Masseschulden in Höhe von ca. DM 2,5 Mio ergeben. Dem ständen Aktiva in Höhe von DM 5,5 Mio gegenüber. Hieraus errechne sich ein vorläufiger Masseüberschuß von ca. DM 2 Mio. dem jedoch noch Ansprüche aus-/absonderungsberechtigter Gläubiger von ca. DM 2 Mio gegenüberständen. Bei Zugrundelegung dieser Situation würden sich die Masseverbindlichkeiten aus den Kündigungszeiten um mindestens DM 500.000,– erhöhen, was nach der derzeitigen Verwertungssituation zu einer vorzeitigen Einstellung des Konkursverfahrens wegen Masseunzulänglichkeit führen müsse. Dies könne nicht im Interesse der Arbeitnehmer der Gemeinschuldnerin sein, weil in diesem Falle eine geordnete Konkursabwicklung nicht mehr gewährleistet sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16. März 1993 hat der Ausschuß für anzeigepflichtige Entlassungen beim Landesarbeitsamt Hessen den Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Der Ausschuß hat seine Ablehnung damit begründet, daß die Regelungen des 3. Abschnitts des KSchG im wesentlichen darauf abzielten, der Arbeitsverwaltung einen zeitlichen Handlungsrahmen im Wege einer geregelten Arbeitsvermittlung einzuräumen. Den Arbeitsämtern werde auf diese Weise ermöglicht, vorausschauende Arbeitsvermittlungen und andere Maßnahmen einzuleiten, um die Folgen der Massenentlassungen von den betroffenen Arbeitnehmern möglichst abzuwenden. Für die Entlassungssperre gemäß § 18 KSchG seien daher in hohem Maße arbeitsmarktpolitische Gesichtspunkte entscheidend. Im vorliegenden Fall sei eine Mitteilung nach § 8 AFG (Anzeige der Entlassungen) erst am 25. September 1992 und damit nach Erstattung der Anzeige gemäß § 17 KSchG erfolgt. Im Hinblick darauf, daß die Zahlungsunfähigkeit der Firma bereits am 14. September 1992 eingetreten sei, habe es die Arbeitgeberin (Gemeinschuldnerin) versäumt, die Arbeitsverwaltung rechtzeitig über erkennbare betriebliche Veränderungen zu unterrichten. Sie hätte zumindest eine vorsorgliche Mitteilung an den Präsidenten des Landesarbeitsgerichts Hessen richten müssen, um es der Arbeitsverwaltung zu ermöglichen, frühzeitig die von dem Arbeitsförderungsgesetz vorgesehenen Maßnahmen zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit oder unterwertiger Beschäftigung einzuleiten. Die Ermittlungen im Rahmen des Vorverfahrens hätten ergeben, daß sich von den 21 Arbeitnehmern 14 arbeitslos bzw. arbeitssuchend gemeldet hätten. Bisher seien 8 Sperrfristarbeitnehmer wieder in Arbeit vermittelt worden bzw. hätten selbst eine neue Arbeitsstelle gefunden, jedoch erst nach Ablauf der Sperrfrist. Es zeige sich somit, daß für die Vermittlung dieser Arbeitnehmer zumindest der Sperrfristzeitraum benötigt worden sei. 6 Sperrfristarbeitnehmer seien noch immer arbeitslos bzw. arbeitssuchend gemeldet. Bei der gemäß § 20 Abs. 3 KSchG vorzunehmenden Interessenabwägung sei zu berücksichtigen, daß der Konkurs eines Unternehmens allein grundsätzlich keinen Anlaß gebe, die Sperrfrist zu verkürzen. Auch nach Eröffnung des Konkursverfahrens seien die gesetzlich vorgegebenen Fristen zu beachten. Das Interesse des Klägers, den Arbeitnehmern zum frühestmöglichen Zeitpunkt kündigen zu können, um insbesondere die Auszahlung der bevorrechtigten Masseschuldansprüche zu gewährleisten, müsse gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Verhütung von Arbeitslosigkeit und den Interessen der Arbeitnehmer zurücktreten. Durch die Eröffnung des Konkursverfahrens und die Entlassung sämtlicher Arbeitnehmer sei weder Arbeitslosigkeit verhindert bzw. verringert worden noch werde der Betrieb auf gesunder finanzieller Grundlage erhalten. Da der überwiegende Teil der Sperrfristarbeitnehmer erst nach Ablauf der Sperrfrist eine Arbeitsstelle gefunden habe bzw. immer noch arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldet sei, würden auch die Interessen der zu entlassenden Arbeitnehmer gegen eine Verkürzung der Sperrfrist sprechen. Insoweit sei insbesondere zu berücksichtigen, daß die Vorschriften der §§ 17 ff. KSchG unter anderem den Zweck hätten, Kündigungen zunächst erst einmal hinauszuschieben und den Arbeitnehmern die Möglichkeit zu geben, ihre Ansprüche auf Lohn geltend zu machen, wodurch sie eine Zeitlang nicht auf das niedrigere Arbeitslosengeld angewiesen seien.

Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 30. März 1993 vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Er weist darauf hin, daß mit der Stellung des Konkursantrags überhaupt noch nicht ersichtlich gewesen sei, in welchem Umfang es tatsächlich zu einer endgültigen Betriebseinstellung bzw. einer Konkurseröffnung kommen werde. Erst im Rahmen der Ermittlungen des Sequestrationsverfahrens habe festgestellt werden können, daß eine endgültige Betriebseinstellung und die damit verbundene Konkurseröffnung unumgänglich gewesen seien. Aus diesem Grunde sei die von der Beklagten geforderte Mitteilung nach § 8 AFG erst nach Erstattung der Anzeige von Entlassungen erfolgt. Tatsächlich hätte eine neun Tage vorher erstattete Anzeige nach § 8 AFG zu keinem anderen Ergebnis führen können. Im übrigen müsse berücksichtigt werden, daß im Konkursverfahren im wesentlichen das Interesse, allen Gläubigern eine möglichst große Verteilungsmasse zu gewähren, vorrangig sei.

Mit Urteil vom 13. Juni 1994 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) die Klage abgewiesen. Das SG hat sich im wesentlichen auf die Gründe des Widerspruchsbescheids der Beklagten vom 16. März 1993 bezogen. Ergänzend hat das SG ausgeführt, daß die Entscheidung der Beklagten eine Ermessensentscheidung darstelle und insofern das Gericht ohnehin nur befugt sei zu prüfen, ob von dem Ermessen ordnungsgemäß Gebrauch gemacht worden sei. Ein Ermessensfehlgebrauch des Ausschusses sei aber nicht ersichtlich. Zum Bereich des pflichtgemäßen Ermessens des Ausschusses gehöre es, wie er die Interessen gewichte, welchen Interessen er im Einzelfall den Vorrang einräume. Hierzu gehöre auch der Umstand, daß der Arbeitgeber die Anzeige nicht rechtzeitig erstattet habe. Wenn die Beklagte diesem Gesichtspunkt Bedeutung beimesse, so habe sie damit weder die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Tatsache sei jedoch, daß der Arbeitgeber die Massenentlassung nicht rechtzeitig nach § 8 AFG angezeigt habe. Eine Anzeigepflicht bestehe, wenn erkennbare Veränderungen des Betriebes innerhalb der nächsten 12 Monate voraussichtlich dazu führen würden, daß Arbeitnehmer in der in § 17 Abs. 1 KSchG bezeichneten Art entlassen oder auf eine andere Tätigkeit umgesetzt werden müßten, für die das Arbeitsentgelt geringer sei. Diese Anzeigepflicht habe bereits spätestens am 14. September 1992 bestanden, als die Zahlungsunfähigkeit des Betriebes eingetreten sei. Die Pflicht nach § 8 AFG diene dem arbeitsmarktpolitischen Interesse einer frühzeitigen Einleitung der erforderlichen Maßnahmen durch die Bundesanstalt für Arbeit bei Massenentlassungen. Dem Ausschuß sei auch bei der Prüfung des § 20 Abs. 3 KSchG kein Ermessensfehler vorzuwerfen. Nach dieser Vorschrift habe der Ausschuß nicht nur das Interesse des Arbeitgebers, sondern auch das der entlassenen Arbeitnehmer, das öffentliche Interesse und die Lage des gesamten Arbeitsmarktes unter besonderer Beachtung des Wirtschaftszweiges, dem der Betrieb angehöre, zu berücksichtigen. Diese Vorschriften würden in erster Linie arbeitsmarktpolitische Ziele verfolgen und dienten daher vor allem dem Interesse der Allgemeinheit an einer möglichsten Verhütung der Arbeitslosigkeit. Diese Interessenabwägung habe der Ausschuß vorgenommen. Er habe sich keineswegs von sach- und zweckfremden Erwägungen leiten lassen oder gar willkürlich die beantragte Zustimmung zur Abkürzung der Sperrfrist versagt. Hierbei sei auch zu berücksichtigen, daß bei Massenentlassungen die Sperrfrist von einem Monat die Regel bilde und die Abkürzung die Ausnahme.

Gegen das am 30. August 1994 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers vom 27. September 1994 beim Hessischen Landessozialgericht. In der Berufungsbegründung wird im wesentlichen auf den bisherigen Sachvortrag verwiesen. Die Entscheidung des Sozialgerichts wird insofern als nicht gerechtfertigt angesehen, weil das Gericht sich nicht mit der Argumentation des Klägers auseinandergesetzt habe, insbesondere mit der Frage, ob eine rechtzeitige Anzeige ein anderes Ergebnis herbeigeführt hätte.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Juni 1994 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. November 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. März 1993 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, daß das erstinstanzliche Gericht rechtsfehlerfrei entschieden habe.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig und statthaft, jedoch unbegründet.

Das erstinstanzliche Gericht hat rechtsfehlerfrei die Klage unter Aufrechterhaltung der angefochtenen Bescheide abgewiesen. Zu Recht hat das SG inhaltlich auf die ausführliche Begründung des Widerspruchsbescheides vom 16. März 1993 Bezug genommen, in dem abschließend und erschöpfend die Rechtslage fehlerfrei dargestellt wurde. Darüber hinaus hat das SG zu Recht darauf verwiesen, daß die Entscheidung des Ausschusses über den Antrag auf Verkürzung der Sperrfrist im Rahmen des KSchG eine Ermessensentscheidung des Ausschusses darstellt und insofern nur über die Frage, ob die Beklagte im Rahmen ihres Ermessens eine fehlerfreie Entscheidung getroffen habe, geurteilt werden konnte. Das SG hat hierzu Ausführungen zu der Frage der Interessenabwägung gemacht, der sich der erkennende Senat anschließt, so daß insofern im Rahmen des § 153 Abs. 2 SGG auf den Inhalt des angefochtenen Urteils verwiesen werden kann.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Revision hat der Senat nicht zugelassen, da keine der in § 160 Abs. 2 SGG genannten Gründe vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved