L 1 KR 9/07

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 32 KR 739/06
Datum
-
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 9/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist der Anspruch des Klägers, ihm entstandene und künftig entstehende Kosten für nicht verschreibungspflichtige Medikamente von der Beklagten erstattet zu erhalten.

Der 1937 geborene Kläger bezieht Altersrente und Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch. Für ihn sind ein Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen G, aG und RF anerkannt; auch bedarf er ständiger Begleitung. Er ist bei der Beklagten krankenversichert.

Der Kläger ist multimorbide und leidet unter anderem an Polyneuropathie. Er beantragte am 12. Januar 2006 bei der Beklagten die Kostenübernahme für die Medikamente "Thioctacid 600 HR" und "Milgamma mono 150". Diese seien ärztlicherseits sehr zur Therapie neurologischer Ausfälle bei Polyneuropathie empfohlen. Eine ärztliche Bescheinigung des Praktischen Arztes Dr. S. fügte er bei.

Die Beklagte lehnte die vom Kläger begehrte Kostenübernahme durch Bescheid vom 24. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Juli 2006 unter Hinweis auf den in den einschlägigen Rechtsvorschriften geregelten Leistungsausschluss für nicht verschreibungspflichtige Medikamente in der gesetzlichen Krankenversicherung ab.

Der Kläger hat am 19. Juli 2006 Klage erhoben. Durch Gerichtsbescheid vom 14. Februar 2007 hat das Sozialgericht die Klage unter Hinweis auf den Leistungsausschluss nicht verschreibungspflichtiger Medikamente in der gesetzlichen Krankenversicherung abgewiesen. Insbesondere habe der Gemeinsame Bundesausschuss Ausnahmen zur Verordnungsfähigkeit für die vom Kläger bezeichneten Medikamente zur Anwendung bei Polyneuropathie nicht bestimmt. Dies begegne auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Gegen den am 26. Februar 2007 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger noch am selben Tag Berufung eingelegt. Er rügt Grundrechtsverletzungen und begehrt auch zu wissen, welche zur Linderung seiner Beschwerden geeigneten Medikamente zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig seien.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 14. Februar 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Juli 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die Kosten der selbst beschafften Arzneimittel "Thioctacid 600 HR" und "Milgamma mono 150" zu erstatten und künftig für deren Beschaffung entstehende Kosten zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf ihr Vorbringen in der ersten Instanz und im Eilverfahren.

Den parallel mit der Klage erhobenen Eilantrag des Klägers hat das Sozialgericht durch Beschluss vom 30. August 2006 abgelehnt (Az.: S 32 KR 623/06 ER). Die hiergegen – und gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Eilverfahren – erhobene Beschwerde hat der Senat durch Beschluss vom 2. November 2006 zurückgewiesen (Az.: L 1 B 461/06 ER und L 1 B 462/06 PKH).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der ausweislich der Sitzungsniederschrift zum Gegenstand der Beratung und Entscheidung des Senats gemachten Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung den Rechtsstreit verhandeln und entscheiden, weil er ordnungsgemäß vom Termin benachrichtigt und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

Die Berufung ist statthaft (§ 105 Abs. 2, §§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben. Sie ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Juli 2006 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung und künftige Übernahme der durch ihn geltend gemachten Kosten für nicht verschreibungspflichtige Medikamente.

Als Anspruchsgrundlage für die Kostenerstattung kommt allein § 13 Abs. 3 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Betracht. Diese knüpft daran an, dass die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind.

Der Erstattungsanspruch setzt einen Anspruch auf die Sachleistung voraus. An diesem fehlt es hier, denn es liegt ein zulässiger Leistungsausschluss vor. Dieser ergibt sich aus § 31 Abs. 1 Satz 1, § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind. Ausgeschlossen von der Versorgung sind nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel. Diese haben die Versicherten im Umkehrschluss also selbst zu zahlen (sog. OTC-Präparate – Abkürzung für "over the counter" –, die zwar apothekenpflichtig sind, jedoch ohne Rezept erworben werden können; diese Arzneimittel unterliegen nicht der im Arzneimittelgesetz geregelten Verschreibungspflicht und werden vom Sachverständigenausschuss für Apothekenpflicht des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte bestimmt). Zu diesen Arzneimitteln gehören auch "Thioctacid 600 HR" und "Milgamma mono 150".

Nach § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V legt der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V erstmals bis zum 31. März 2004 fest, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten, zur Anwendung bei diesen Erkrankungen mit Begründung von Vertragsärzten ausnahmsweise verordnet werden können. Nach der insoweit einschlägigen Nr. 16 der Arzneimittel-Richtlinien gehören "Thioctacid 600 HR" und "Milgamma mono 150" zu diesen Arzneimitteln nicht. Für die in ihnen enthaltenen Wirkstoffe ist eine Verordnungsfähigkeit zur Behandlung von Polyneuropathie nicht vorgesehen. Der in "Milgamma mono 150" enthaltene Wirkstoff Benfotiamin findet lediglich in Nr. 16.4.39 der Richtlinien Erwähnung als Monopräparat bei nachgewiesenem, schwerwiegendem Vitaminmangel, der durch eine entsprechende Ernährung nicht behoben werden kann; eine entsprechende Anwendung aber ist vorliegend nicht im Streit. Beide Medikamente sind mithin zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnungsfähig. Die Leistungsablehnung durch die Beklagte stimmt mit dem geltenden Gesetzes- und Richtlinienrecht überein.

Eine Rechtswidrigkeit vermag ebenfalls nicht aus einer Verfassungswidrigkeit des Leistungsausschlusses zu folgen (siehe bereits LSG Hamburg 24.1.2007 – L 1 KR 36/06).

Dem Gesetzgeber geht es mit dem Leistungsausschluss um das Ziel der Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, an dessen Erreichung die Versicherten beteiligt werden. Diese Beteiligung ist mit Blick auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die medizinische Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung gesichert bleibt (vgl. BVerfG 14.3.2006 – 1 BvR 452/06, n. v.).

Zur Therapie der Polyneuropathie aber gibt es andere als die vom Kläger begehrten, anerkannte Behandlungsalternativen im Rahmen des Leistungsumfangs der gesetzlichen Krankenversicherung; die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 16. Mai 2007 eine Liste verschreibungspflichtiger und zur Behandlung von Polyneuropathie zugelassener Arzneimittel vorgelegt. Neben den dort genannten Medikamenten kommt auch das Medikament Carbamazepin in Betracht (siehe dazu BVerfG 14.3.2006 – 1 BvR 452/06, n. v.). Ein grundrechtlicher Anspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auf Finanzierung der von ihm begehrten Medikamente durch die Beklagte steht dem Kläger daher nicht zur Seite.

Auch der in der Auferlegung einer finanziellen Belastung liegende Eingriff in das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) ist hier verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Legitimes Ziel des Leistungsausschlusses ist es, die Eigenverantwortung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung zu stärken und Kosteneinsparungen zur Konsolidierung der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung zu erzielen. Die Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein Ziel, das der Gesetzgeber verfolgen darf und sogar verfolgen muss. Die Heranziehung auch der Versicherten zur Zielerreichung über den Leistungsausschluss ist auch nicht unverhältnismäßig; der Annahme einer Unverhältnismäßigkeit steht schon entgegen, "einzelne Maßnahmen der Kostendämpfung im Gesundheitswesen isoliert verfassungsrechtlich zu bewerten, , sofern der Gesetzgeber zu Lasten aller Beteiligten, die Versicherten eingeschlossen, gebündelt und konzentriert Maßnahmen zur Ausschöpfung von Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsreserven trifft oder Leistungen beschränkt" (Steiner, MedR 2003, 1, 6). So aber liegt es hier. Mit dem Leistungsausschluss – wie mit der Praxisgebühr, der Zuzahlungspflicht und anderen Maßnahmen – hat der Gesetzgeber auch die Versicherten in einem Gesamtkonzept an der Sicherung der gesetzlichen Krankenversicherung beteiligt.

Auch eine Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) liegt nicht vor. Eine verfassungsrechtlich unzulässige Gleichbehandlung von einkommensschwachen und einkommensstarken gesetzlich Krankenversicherten beinhaltet der beide Gruppen treffende Leistungsausschluss für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel nicht. Denn der Gesetzgeber darf daran anknüpfen, dass die Versicherten dem Leistungsausschluss dadurch begegnen können, dass sie auf verordnungsfähige Medikamente zurückgreifen. Der Kläger ist nicht gezwungen, Medikamente, die er sich im Gegensatz zu anderen Versicherten ggf. nicht leisten kann, zu erwerben, weil nur so eine Behandlungsmöglichkeit bestünde.

Aus den genannten Gründen steht dem Kläger auch ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für die künftige Beschaffung der Medikamente bzw. auf deren Übernahme als Sachleistung nicht zur Seite.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved