L 20 R 350/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 R 39/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 R 350/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 R 21/07 BH
Datum
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 17.03.2005 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der 1956 geborene Kläger hat nach seinen Angaben keinen Beruf erlernt und war zuletzt von 1974 an bis April 2000 als Metallschleifer und Maschinenarbeiter bei der Firma F. versicherungspflichtig beschäftigt. Nach einer Arbeitgeberauskunft vom 10.12.2003 hat der Kläger keine Facharbeitertätigkeiten ausgeübt; er wurde nach Lohngruppe 8 der innerbetrieblichen Tarifvereinbarung, entsprechend der Lohngruppe 6 des Metalltarifvertrags Bayern entlohnt. Der Kläger hat seine Beschäftigung im April 2000 aufgegeben. Nach einer von der Arbeitsverwaltung verhängten Sperrzeit hat er bis 22.06.2001 Leistungen nach dem AFG bezogen.

Am 29.06.2001 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte ließ ihn untersuchen durch den Chirurgen Dr.G. und die Nervenärztin Dr.S. , die in den Gutachten vom 07.09.2001 zusammenfassend davon ausgingen, dass der Kläger die zuletzt verrichtete Berufstätigkeit nur mehr unter sechs Stunden täglich ausüben könne; auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sollte er dagegen in der Lage sein, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in Vollschicht zu leisten. Mit Bescheid vom 18.09.2001 lehnte die Beklagte die beantragte Rente ab, da der Kläger nicht erwerbsgemindert sei. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 18.12.2001 zurück. Der Kläger sei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 15.01.2002 Klage beim Sozialgericht Würzburg erhoben. Das SG hat einen Befundbericht des Allgemeinarztes Dr.A. vom 11.12.2003 zum Verfahren beigenommen. Der Kläger war dort bis zum September 2001 in Behandlung gewesen wegen Depression, Oberbauchschmerzen bei äthyltoxischem Leberschaden und erosiver Duodenitis und Oesophagitis; ferner waren diagnostisch bekannt eine Ablatio retinae und eine HWS-Distorsion. Auf Veranlassung des SG hat der Internist Dr.R. das Gutachten vom 06.04.2004 erstattet. Er hat eine Verschlechterung des Gesamtbefindens insofern angenommen, als nunmehr ein hochgradiger Verdacht auf Vorliegen einer aktiven Alkoholerkrankung anzunehmen war. Der Kläger wurde nur noch für fähig erachtet, Berufstätigkeiten im Umfang von weniger als drei Stunden täglich zu leisten, wobei es sich um leichte Arbeiten in wechselnder Stellung in geschlossenen Räumen handeln sollte. Die bereits vorliegende Minderung der Erwerbsfähigkeit könnte mit Wahrscheinlichkeit durch eine erfolgreiche Entzugsbehandlung behoben werden. Das SG hat ein weiteres Gutachten von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.H. vom Krankenhaus S. eingeholt. Dieser beschrieb im Gutachten vom 21.07.2004 beim Kläger ein Abhängigkeitssyndrom von Alkohol mit einer leichten Polyneuropathie sowie fortdauernde orthopädische Beschwerden. Der Kläger sei so lange als arbeitsunfähig einzustufen, als eine Alkoholentgiftung und abstinenzorientierte Rehabilitationsmaßnahme nicht durchgeführt sei. In der mündlichen Verhandlung vor dem SG hat der Kläger erklärt, dass er die vom Sachverständigen empfohlene Therapie nicht für erforderlich halte und er auch einen entsprechenden Antrag nicht stellen werde. Im gehe es vorrangig um die Rente wegen voller Erwerbsminderung. Mit Urteil vom 17.03.2005 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 18.09.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.12.2001 verurteilt, den Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung auf Zeit ab 06.04.2004 (Datum der Untersuchung bei Dr.R.) anzuerkennen und vom 01.11.2004 bis 31.03.2006 die entsprechenden gesetzlichen Leistungen zu gewähren. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Das SG ist davon ausgegangen, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung beim Kläger zumindest über § 241 Abs 2 SGB VI erfüllt seien. Bei ihm sei nämlich jeder Kalendermonat vom Januar 1984 an bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung auch bei aktuellen Leistungsfällen mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt. Der Kläger sei auch voll erwerbsgemindert. Sein Leistungsvermögen sei nach den Feststellungen der ärztlichen Sachverständigen Dr.R. und Dr.H. aufgrund Verschlechterung seines Befindens im Bereich der Abhängigkeitserkrankung derzeit zeitlich so eingeschränkt, dass er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht auch nur drei Stunden täglich einsatzfähig sei. Diese Einschränkung werde zwar als reversibel angesehen. Nachdem der Zustand jedoch bereits über eine längere Zeitdauer fortbestanden habe, könne nicht mehr von einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden. Vielmehr liege eine zeitlich befristete Einschränkung der Erwerbsfähigkeit vor. Es sei nun der Beklagten überlassen, ob sie die Mitwirkung des Klägers nach § 63 SGB I einfordere, was bis dahin nicht geschehen sei. Die Verschlechterung im Gesamtbefinden des Klägers hat das SG seit dem Untersuchungszeitpunkt durch Dr.R. als belegt angesehen. Das SG habe eine zeitliche Befristung der Leistungsgewährung auf zwei Jahre nach dem festgestellten Verschlechterungszeitpunkt als geboten angesehen, da der Beklagten eine gewisse Zeit verbleiben müsse zur Prüfung, welche Reha-Maßnahmen gegebenenfalls geeignet erschienen, eine derartige Maßnahme eine gewisse Zeitdauer erfordere und anschließend auch noch eine Alltagsbewährungsphase sich anschließen sollte. Im Übrigen (und nach erfolgreicher Therapie) sei der Kläger auf alle ungelernten und angelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte am 13.05.2005 Berufung beim Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Sie hat den Kläger zunächst auf die Notwendigkeit einer eventuell stationären Entwöhnungsbehandlung hingewiesen und ihm empfohlen, bei einer Beratungsstelle seiner Wahl vorzusprechen; es sollte abgeklärt werden, ob eine Abhängigkeit bestehe, gegebenenfalls eine stationäre Entwöhnungsbehandlung erforderlich sei oder eine ambulante Betreuung ausreiche. Für den Fall, dass eine ambulante Betreuung nicht ausreiche, werde dem Kläger vorsorglich eine stationäre Entwöhnungsbehandlung angeboten. Im Übrigen hat die Beklagte bestritten, dass der Kläger, bezogen auf den angenommenen Leistungsfall, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung erfülle. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten schriftlich erklärt, dass er mit der angebotenen Entwöhnungsbehandlung nicht einverstanden sei; es bestehe bei ihm keine Abhängigkeit vom Alkohol.

Der Senat hat einen Befundbericht des Allgemeinarztes Dr.A. angefordert; dieser hat mitgeteilt, dass sich der Kläger zuletzt am 17.09.2001 in Behandlung befunden habe (wie bereits aus dem SG-Verfahren bekannt). Auf Veranlassung des Senats hat der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.K. das Gutachten vom 14.09.2006 nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstattet. Der Kläger leide auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet unter einem Abhängigkeitssyndrom von Alkohol. Der Schweregrad der Abhängigkeit sei als mittelgradig einzustufen. Die Prognose sei bei noch nicht eingetretenen Alkoholfolgeerkrankungen durchaus noch günstig, unter der Voraussetzung, dass eine adäquate ambulante bzw stationäre Behandlung in Anspruch genommen werde. Derzeit bestehe nach Auffassung des Sachverständigen Arbeitsunfähigkeit, das Krankheitsbild sei noch nicht ausbehandelt. Dies gelte weiterhin bis zur Durchführung bzw nach Durchführung der genannten Maßnahmen. Die Alkoholabhängigkeit sei spätestens seit dem 06.04.2004 belegt, dem Zeitpunkt der Untersuchung bei dem Internisten Dr.R ... Die Beteiligten haben sich zur Begutachtung nicht geäußert.

In der mündlichen Verhandlung am 06.12.2006 hat die Bevollmächtigte der Beklagten einen Versicherungsverlauf vom 05.12.2006 mit Wartezeitaufstellung zu den Akten gegeben, der mit einer Pflichtbeitragszeit zum 22.06.2001 endet.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 17.03.2005 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 18.09.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.12.2001 abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakte des SG Würzburg sowie die Leistungsakte der Bundesanstalt für Arbeit (Arbeitsamt H.) vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig.

Das Rechtsmittel der Beklagten erweist sich auch als begründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI (in der seit 2001 geltenden Fassung). Mit dem SG geht auch der Senat davon aus, dass beim Kläger eine Erwerbsminderung von rentenerheblicher Bedeutung seit dem 06.04.2004, dem Tag der Begutachtung durch Dr.R. , vorliegt. Der im Berufungsverfahren angehörte ärztliche Sachverständige Dr.K. hat im Gutachten vom 14.09.2006 festgestellt, dass der Kläger an einem Abhängigkeitssyndrom von Alkohol leidet und dass er bis zur bzw nach Durchführung der für erforderlich gehaltenen Therapiemaßnahmen nicht in der Lage ist, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Auch wenn Dr.K. lediglich von einer Arbeitsunfähigkeit (nach SGB V) spricht, hat er doch herausgestellt, dass eine Erwerbsminderung auf absehbare Zeit vorliegt, nämlich bis nach Durchführung therapeutischer Maßnahmen und unter der Maßgabe einer mehrmonatigen Abstinenz von Alkohol. Auch Dr.K. geht - mit Dr.R. und Dr.H. - davon aus, dass die Alkoholabhängigkeit seit dem 06.04.2004 vorliegt, weil zu diesem Zeitpunkt die Merkmale des Abhängigkeitssydroms beschrieben wurden. Der Senat schließt sich dieser Leistungsbeurteilung des Klägers durch Dr.K. an, da dieser seine Auffassung überzeugend begründet hat und im Ergebnis auch mit den vorher angehörten Sachverständigen Dr.R. und Dr.H. übereinstimmt.

Der Kläger erfüllt jedoch nicht die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung nach § 43 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI oder nach § 241 Abs 2 SGB VI. Ausgehend von dem anzunehmenden Leistungsfall 06.04.2004 hat der Kläger im Fünfjahreszeitraum davor nicht die erforderlichen drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung nachgewiesen. Die Beklagte hat in der Berufungsbegründung vorgetragen, dass der Kläger statt der erforderlichen 36 Monate nur 34 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt hat, wobei sie den maßgeblichen Zeitraum vom 01.06.1998 bis 05.04.2004 errechnet hat, unter der Annahme, dass bis zum 10.04.2004 Anrechnungszeiten (§ 58 SGB VI) vorgelegen hätten. In der mündlichen Verhandlung am 06.12.2006 hat die Beklagte erklärt und durch Vorlage des aktuellen Versicherungsverlaufs vom 05.12.2006 belegt, dass nach dem 22.06.2001 (letzter Pflichtbeitrag nach AFG) keine Anrechnungszeiten mehr vermerkt und vorhanden sind. Der Kläger hat dem ausdrücklich nicht widersprochen. Er hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, aus welchen Gründen eine Meldung beim Arbeitsamt nach dem genannten Zeitpunkt unterblieben ist. Dies bedeutet, dass der maßgebliche Zeitraum (für die Berechnung der erforderlichen Pflichtbeitragsmonate) nicht wie von der Beklagten zunächst angenommen bis zum 01.06.1998 zurückreicht, sondern nur bis zum April 1999. Dies hat dann zur Folge, dass sich die Zahl der vorhandenen Pflichtbeiträge noch weiter verringert und die erforderliche Anzahl von 36 Beitragsmonaten keinesfalls erreicht wird.

Der Kläger erfüllt die Erfordernisse für eine Rentengewährung auch nicht nach der Vorschrift des § 241 Abs 2 SGB VI. Danach sind die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung gegeben, wenn der Versicherte die allgemeine Wartezeit bis zum 31.12.1983 erfüllt hat und ab 01.01.1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung jeder Monat mit Anwartschafterhaltungszeiten belegt ist. Das SG ist davon ausgegangen, dass dieses Erfordernis erfüllt ist, da es die von der Arbeitsverwaltung verhängte Sperrzeit (vom 20.04.2000 bis 12.07.2000) ebenfalls als Anwartschafterhaltungszeit angesehen hat. Dem schließt sich der Senat nicht an. Er vertritt vielmehr im Hinblick auf seine bisherige Rechtsprechung weiterhin die Auffassung, dass Sperrzeiten nicht als Anrechnungszeiten nach § 58 Abs 1 Nr 3 SGB VI anzusehen sind, sondern lediglich als Überbrückungstatbestände. Ausdrücklich Bezug genommen wird auf das Urteil des Senats vom 13.11.2002, Az: L 20 RJ 52/98 (mwH auf Kommentierung und Rechtsprechung). Das Urteil entspricht nach hier weiterhin vertretener Auffassung dem klaren Wortlaut der Vorschrift des § 58 Abs 1 Nr 3 SGB VI, wonach für eine Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit u.a. eine öffentlich-rechtliche Leistung bezogen oder nur wegen des zu berücksichtigenden Einkommens oder Vermögens nicht bezogen worden ist. Die Verhängung von Sperrzeiten beruht demgegenüber auf einem vorwerfbaren Verhalten des Versicherten und kann damit keine Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit begründen.

Der Kläger hat demnach nicht jeden Kalendermonat seit 01.01.1984 bis zum Eintritt des Leistungsfalles mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt und kann einen Rentenanspruch auch nicht aus der Vorschrift des § 241 Abs 2 SGB VI herleiten.

Der Senat vermag sich schließlich auch nicht der Auffassung des Sozialgerichts anzuschließen, dass dem Kläger ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zuzubilligen wäre, da er bei Verhängung der Sperrzeit nicht oder nicht hinreichend über die Folgen aufgeklärt worden wäre. Hierzu fehlt nicht nur jeglicher Sachvortrag des Klägers. Aus dem Bescheid vom 15.09.2000 über die Verhängung einer Sperrzeit (enthalten in der Leistungsakte der Arbeitsverwaltung) ergibt sich vielmehr, dass der Kläger unter der Überschrift "wichtige Hinweise" über die rentenrechtlichen Folgen der Sperrzeit mit hinreichender Deutlichkeit aufgeklärt worden ist.

Der Kläger erfüllt damit die Vorsetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt. Auf die Berufung der Beklagten war das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten, § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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