L 8 R 54/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 39 RJ 170/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 54/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 02.02.2005 wird geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 07.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.05.2004 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Berücksichtigung von glaubhaft gemachten Beitragszeiten von Juli 1942 bis Mai 1943 mit Wirkung ab 01.07.1997 - gegebenenfalls nach erfolgter freiwilliger Beitragsentrichtung - Regelaltersrente nach Maßgabe des ZRBG zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers aus dem gesamten Verfahren. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten Regelaltersrente nach Maßgabe des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG), das der Deutsche Bundestag im Jahr 2002 erlassen hat (Bundesgesetzblatt - BGBl - Teil I 2074).

Der Kläger wurde am 00.00 1926 in Ostecko, einem Ort am Ufer des Dnjestr im Kreis Tluste des damaligen Polens geboren. Er hatte eine 1 1/2 Jahre ältere Schwester und zwei jüngere Geschwister. Sein Vater war Spenglermeister und reparierte Blechdächer sowie Dachrinnen. Seine Mutter war Hausfrau.

In seinem Geburtsort Ostecko, der bis 1918 als Teil Galiziens zum Kaiser- und Königreich Österreich gehört hatte, lebten ungefähr 100 jüdische Familien. Nach dem Angriff Deutschlands auf Polen im September 1939 und dem Hitler-Stalin-Pakt fiel der Ort zunächst an Russland bzw. die damalige UdSSR. Nach dem Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten, darunter Ungarn, auf die UdSSR am 22. Juni 1941 wurde die Stadt Tluste am 08. Juli 1941 von ungarischen Truppen besetzt. Diesen folgte bald deutsches Militär. Die Ungarn blieben Besatzungsmacht in der Gegend. Wie die anderen Teile des östlichen Galiziens wurde auch der Bezirk Tluste am 01. August 1941 als fünfter Distrikt (Distrikt Galizien) dem sog. Generalgouvernement (GG) mit der Hauptstadt Krakau angegliedert. Für die Ghettos des Distrikts Tluste galten anfangs die gleichen Prinzipien wie für das übrige Generalgouvernement. Nach den ersten Progromen und Massenerschießungen im Sommer 1941, die die deutsche Eroberung begleiteten, wurden zunächst meist offene Judenwohnbezirke eingerichtet. Sie blieben in der Regel bis Mitte/Ende 1942 bestehen. Danach setzten die Massendeportationen in das Vernichtungslager Belzec ein. Im Zuge dieser Vernichtungsaktionen wurden die Judenwohnbezirke in den kleineren Orten vernichtet und es wurden geschlossene Ghettos in den größeren Städten gebildet. Zwischen Ende 1942 und Anfang 1943 wurden diese im Zuge weiterer Vernichtungsdeportationen in Zwangsarbeiterlager umgewandelt. Auch in Tluste kam es wie in vielen anderen Orten des Distrikts nach dem Abzug der Sowjets durch die ukrainische Bevölkerung zu einem Pogrom an den Juden, deren Zahl in der sowjetischen Besatzungszeit auf ca. 1.300 gesunken war. Durch den Zuzug von Juden aus dem Umland stieg der jüdische Bevölkerungsanteil in Tluste bis 1942 auf wieder rund 5.000 an, von denen etwa 1.800 registriert waren. Noch im Juli 1941 wurde eine nächtliche Ausgangssperre verfügt und die Bewegungsfreiheit der Juden zeitlich und räumlich eingeschränkt. Im August 1941 wurde ein Judenrat unter Dr. Abermann eingesetzt und ein jüdischer Ordnungsdienst aufgestellt. Die Kennzeichnung durch eine Armbinde mit dem Davidstern folgte dem allgemeinen Gebrauch im Generalgouvernement. Aus der Kreishauptmannstadt in Cortkiv/Czortków, etwa 18 km nördlich von Tluste, kamen in unregelmäßigen Abständen Angehörige der dortigen deutschen Polizeidienststelle nach Tluste. Im März 1942 wurde in Tluste ein formal abgestecktes Ghetto mit Ghettotor eingerichtet, das östlich der nach Cortkiv/Czortków führenden Straße zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Ruinen der Synagoge lag. Die Häuser waren mit Davidsternen als jüdisch bewohnt gekennzeichnet. Bis Oktober 1942 gab es daneben auch Juden in gekennzeichneten Häusern in drei angrenzenden Dörfern. Von 1941 an wurden Juden aus der Region nach Lisivci/Lisowce östlich von Tluste gebracht, um auf den dortigen Koksagysplantagen zu arbeiten. Koksagys, eine tabakähnliche Pflanze, aus der man Kautschuk herstellen kann, war angesichts der Blockade Deutschlands und des Bedarfs an Gummi ein damals als kriegswichtig angesehener Teil der Rüstungsproduktion. Auch die Juden, die in der Koksagyslandwirtschaft eingesetzt waren, galten daher als kriegswichtig. Sie wurden im allgemeinen auf den Gütern untergebracht, auf deren Land der Anbau stattfand. Nachgewiesen sind insgesamt 24 Güter, auf denen 10.000 Juden aus der Umgebung eingesetzt wurden. Im Tagebuch des jüdischen Arztes Baruch Milch, der das Ghetto von Tluste überlebt hat, heißt es, dass die umliegenden Bauernhöfe jüdische Arbeiter suchten und fanden, was die Lebensmittellage in Tluste verbesserte und dass darüber hinaus in einer Entfernung von 2 km vom Ort ein Arbeitslager für privilegierte Juden eingerichtet wurde, in das diejenigen entsandt wurden, denen der Judenrat einen besonderen Gefallen tun wollte. Nach der Übernahme der Arbeitsvermittlung von Juden durch den SS und Polizeiführer Ende 1942/Anfang 1943 erhielten diese Arbeiter das Kennzeichen "W" (für Wehrmacht) an ihre Kleidung. Die Arbeiter auf den Koksagysfarmen erhielten das Kennzeichen "R" (für Rüstungswirtschaft). Beide Kennzeichen schützten vor einer Ermordung im Zuge von Deportationen. Die erste dieser Deportationen fand am 27. August 1942 statt, als etwa 300 Juden zusammengetrieben und nach Belzec in die Vergasung abtransportiert wurden. Kleinere "Aktionen" fanden danach häufiger statt, als wieder eine Gruppe Polizisten aus Czortków gefahren kam. Es herrschte daher ein ständiges Klima der Angst in der Stadt, auch wenn die Juden von Tluste ansonsten weitgehend von Deutschen unbeaufsichtigt blieben. Die nächste große "Aktion" in Tluste gab es am 05. Oktober 1942. Etwa 1.000 Juden wurden nach Belzec deportiert, eine dreistellige Zahl vor Ort ermordet. Die Judenhäuser in den Dörfern um Tluste herum wurden aufgelöst. Im Winter 1942/1943 war die Lage in Tluste von einer Hungersnot geprägt. Das ließ die zusätzliche Nahrungsmittelversorgung für die landwirtschaftlichen Arbeiter umso attraktiver erscheinen. Eine für den April 1943 beabsichtigte "Aktion" wurde verschoben, als die aus Czortków gekommenen Polizisten feststellten, dass sich fast die Hälfte der Einwohner versteckt hatte. Die Vernichtung des Ghettos folgte am 27. Mai 1943. An diesem Tag wurden etwa 3000 Juden auf dem jüdischen Friedhof der Stadt erschossen und in Massengräbern begraben. Am 06. Juni 1943 kehrten die deutschen und ukrainischen Bewaffneten zurück. Nun wurden alle verbliebenen etwa 1.000 Juden der Stadt erschossen und Tluste wurde für "judenrein" erklärt. Nach Baruch Milch haben das folgende Jahr nur etwa 200 Juden in Arbeitslagern überlebt. Diese Arbeitsstätten wurden in Zwangsarbeiterlager unter der Leitung der SS umgewandelt.

Der Kläger und seine ältere Schwester haben die Zeit im Ghetto überlebt. Seine Eltern und seine jüngeren Geschwister wurden bei der "Aktion" im Mai 1943 ermordet. Im April 1946 wanderte der Kläger nach Israel ein und war dort als Arbeiter bis zu seiner Pensionierung rentenversicherungspflichtig tätig. Heute lebt er in S.

1955 beantragte der Kläger nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) eine Entschädigung wegen Schadens an Freiheit und gab dazu u.a. Folgendes an: "Im September 1941 wurde in Tluste das Ghetto errichtet, in welchem auch ich und meine Familie leben mussten. Das Ghetto befand sich im ehemaligen Judenviertel. Über 4.000 Juden aus der Stadt und der Umgebung mussten hier zusammengepfercht leben. Im Ghetto gab es jüdische Miliz, auch wurde ein Judenrat gebildet, dessen Obmann erst Herr S und dann Herr B war. Ich musste in der Landwirtschaft bei Pflanzung von Kautschukbäumen arbeiten. Im Frühling 1943 wurde ich aus Tluste in ein Arbeitslager geschickt, welches sich auf einem Gut von Maskowiecki in der Nähe von Tluste befand. Das Lager war mit Stacheldraht umgeben und es wurde von ukrainischer Polizei und der SS bewacht. Der SS-Lagerführer hieß G. Wir wohnten in Baracken und trugen eigene Zivilkleidung mit weißer Armbinde und Judenstern. Wir mussten mehrere Male am Tage zum Appell antreten. Es gab die übliche Lagerkost. Die deutsche Wachmannschaft flüchtete am 23. März 1944. Am zweiten oder dritten Tag darauf wurden wir von den Russen befreit." Die im BEG-Verfahren vom Kläger benannte Zeugin H N erklärte u.a.: "Im Herbst 1942 wurden wir alle gezwungen, auf den Feldern bei Pflanzung von Kautschukbäumen zu arbeiten. Wir arbeiteten unter Bewachung von SS und ukrainischer Polizei. Im Frühling 1943 wurden wir ins ZAL Tluste überstellt. Es befand sich auf dem Landgut des Polen Maskowiecki in der Nähe von Tluste. Dort wohnten wir in Baracken und wurden von SS und ukrainischer Polizei bewacht. Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt. Hier arbeiteten wir über 12 Stunden am Tag bei Feld- und Landarbeit. Am 23. März 1944 flüchteten die Deutschen. Da die Russen in der Nähe waren, so wurden wir im März 1944 von den Russen in Tluste befreit." Die Zeugin A T erklärte: "Das Ghetto Tluste war im ehemaligen jüdischen Viertel errichtet und wurde von ukrainischer Miliz und SS bewacht. Im Ghetto sorgte die jüdische Miliz für Ordnung, wir mussten den blauen Stern auf weißer Armbinde tragen. An der Spitze des Judenrats stand Herr S und später Herr B. Wir arbeiteten dort bei Gummipflanzungen. Diese Pflanze hieß Koksagies und war Ersatz für Kautschuk. Im Frühjahr 1943 wurden wir in das ZAL Tluste überstellt. Dieses befand sich auf dem Landgut des Polen Maskowiecki. Das Lager war mit Stacheldraht umzogen und wurde von SS und ukrainischer Polizei bewacht. Wir wohnten hier in Holzbaracken und arbeiteten unter Zwang 12 Stunden täglich bei Landarbeit. Der Lagerführer hieß G. Am 23. März, als die Deutschen erfuhren, dass die Russen heranrückten, verließen sie fluchtartig das Lager und wir wurden am Tage darauf von russischen Truppen befreit." Im Jahr 1958 erkannte das Bezirksamt für Wiedergutmachung Koblenz als Landesentschädigungsamt den Kläger auf dieser Grundlage als Verfolgten des Nationalsozialismus an und sprach ihm insgesamt 4500,- DM als Entschädigung für seinen Freiheitsschaden zu. Weitere Anträge lehnte das Landesentschädigungsamt als verspätet ab.

Der Kläger erhält keine Leistungen nach dem Gesetz über die Errichtung der Zwangsarbeiterstifung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", das der Deutsche Bundestag im Jahr 2000 erlassen hat (Stifungsgesetz - BGBl Teil I 1263). Er stellte keinen Antrag auf Entschädigung für sein Verfolgungsschicksal bei der Jewish Claims Conference (JCC).

Am 5. November 2002 beantragte der Kläger die Gewährung einer Regelaltersrente nach Maßgabe des ZRBG bei der Beklagten. Die Beklagte übersandte ihm einen Fragebogen, in dem der Kläger im Oktober 2003 angab, von Juli 1942 bis März 1944 im Ghetto Tluste in der Landwirtschaft gearbeitet zu haben. Er habe acht Stunden täglich gearbeitet und hierfür Essen (Kartoffeln, Rüben und Kraut) erhalten. Durch Bescheid vom 7. November 2003 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Zahlung einer Rente nach dem ZRBG ab. Zur Begründung führte sie aus, die behauptete Beschäftigung von Juli 1942 bis März 1944 in Tluste sei nicht vom ZRBG erfasst, da es sich nach den Unterlagen der Beklagten nicht um ein Ghetto, sondern um ein Zwangsarbeiterlager gehandelt habe. Dagegen erhob der Kläger Widerspruch und reichte eine eidesstattliche Erklärung von März 2004 ein, in der er ausführte, der Judenrat habe ihn zu Arbeiten auf Feldern unter Bewachung der jüdischen Polizei geschickt. Nach der Arbeit sei er jeden Abend in das Ghetto zurückgekehrt. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25. Mai 2004 zurück.

Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die vom Kläger dagegen erhobene Klage mit Urteil vom 2. Februar 2005 abgewiesen. Zur Begründung hat es gemeint, es sei nicht glaubhaft gemacht, dass der Kläger im Ghetto Tluste in einem dem Grunde nach versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden habe. Zwar habe entgegen der Auffassung der Beklagten im streitigen Zeitraum im Ghetto Tluste ein Ghetto bestanden. Dies ergebe sich u.a. aus dem bei Gudrun Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager, 2. Ausgabe 1996, S. 158, zitierten Abschlussbericht des SS-Polizeiführers im Distrikt Galizien Katzmann vom 30. Juni 1943. Die Einordnung des Ghettos Tluste in der Zeit von Sommer 1941 bis Sommer 1943 in ein Ghetto und nicht in ein Zwangsarbeiterlager stimme auch überein mit den Informationen des Simon-Wiesenthal-Center, die der Kläger zu den Gerichtsakten gereicht habe. Die nach den Angaben des Klägers für seine damaligen landwirtschaftlichen Arbeiten erhaltenen Lebensmittel (Kartoffeln, Rüben und Kraut) seien jedoch kein Entgelt gewesen, welches Versicherungspflicht in der Rentenversicherung ausgelöst habe. Denn die Gewährung von Lebensmitteln zum eigenen Verbrauch könne allenfalls als teilweise freier Unterhalt gewertet werden, der zur unmittelbaren Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse des Arbeitnehmers erforderlich sei. Sie stelle nach der Sondervorschrift des § 1227 bzw. 1228 der Reichsversicherungsordnung (RVO) kein versicherungspflichtiges Entgelt dar. Diese Auslegung des ZRBG habe das Bundessozialgericht (BSG) durch Urteil vom 7. Oktober 2004 - B 13 RJ 59/03 R - vorgegeben.

Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung des Klägers, der hierzu eine weitere eidesstattliche Erklärung aus dem Jahr 2005 vorlegt. Darin heißt es: "Die Russen, bevor sie sich zurückzogen, bombardierten eine Brücke über dem Fluss Dnjestr, aber es blieb ein großer Teil noch hängen. Die Deutschen bauten eine neue Brücke und bauten die alte ab und einige von den Insassen des Städtchens Ostecko wurden genommen zur Arbeit als Hilfe zu diesem Abbau der Brücke (ungefähr 20 Leute). Wir arbeiteten den ganzen Winter, auch arbeiteten wir bei Straßenbau für die neue Brücke. Ich bin von dort weggelaufen, weil bei der Beendigung der Arbeit die Deutschen uns erschießen wollten. Ich kam ins Ghetto Tluste, wo ich meine Eltern traf, die noch zuvor ins Ghetto kamen. Hier im Ghetto verrichtete ich landwirtschaftliche Arbeiten. Ich arbeitete bei Gummibäume pflanzen, Erde umgraben, dass die Gummibäume Luft bekommen sollen und besser wachsen. Wir arbeiteten 50 Leute in einer Reihe mit einer Hacke bei Gummiplantagen. Diese Arbeit bekam ich mit der Hilfe des Judenrates und wurde entlohnt - Lebensmittel für zu Hause - (wöchentlich). Die Lebensmittelpakete enthielten Kartoffeln, Rüben, Kraut, Graupe, Zwiebel, Kohl, Salz, Zucker, Marmelade, Brot, Erbsen, Öl. Diese Lebensmittel überschritten um Vieles meine persönlichen Bedürfnisse und sogar konnte ich meinem Vater und meiner Schwester helfen." In einer weiteren eidesstattlichen Versicherung von November 2005 erklärt der Kläger: "In den Angaben für BEG und für Finanzministerium Israel habe ich angegeben, dass ich von September 1941 bis Frühling 1943 im Ghetto Tluste war. Dann hat man mich ins ZAL Tluste überführt, welches sich auf dem Gut von Maskowiecki in der Nähe von Tluste befand. Vielleicht habe ich mich jetzt in den Daten geirrt, aber dass ich im Ghetto Tluste fast zwei Jahre war, ist richtig. Um zu existieren musste ich beim Judenrat um Arbeit bitten und erfüllte landwirtschaftliche Arbeiten. So habe ich das auch in der eidesstattlichen Erklärung für BEG geschrieben. Für meine Arbeit im Ghetto bekam ich von der Ghettoverwaltung Mittagessen jeden Tag, zusätzliche Lebensmittel direkt oder Lebensmittelcoupons. Genauer erinnere ich mich nicht und ich erinnere mich auch nicht, ob ich zusätzlich Bargeld bekommen habe. Jedenfalls sicherte das damals mein und nicht nur mein Überleben im Ghetto. Dann hat man mich ins ZAL Tluste überführt. Dort habe ich fast dieselbe Arbeit erfüllt, aber kostenlos."

Der Kläger beantragt,

wie erkannt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Internetquelle www.keom.de/denkmal. Danach habe in Tluste lediglich ein Zwangsarbeiterlager von Januar 1942 bis März 1944 existiert, dessen Insassen Arbeiten in den Koksagyskautschukplantagen und landwirtschaftliche Arbeiten verrichteten. Dies ergebe sich auch aus den bei der Bezirksregierung Düsseldorf vorliegenden Lagerlisten.

Der Senat hat zur historischen Situation der Juden am Ort Tluste während des 2. Weltkrieges ein Sachverständigengutachten des Lehrstuhlinhabers für osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg, Prof. Dr. Golczewski, eingeholt. Dieser hat die Angaben des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal , abgesehen von der partiell ungenauen Terminierung, als durchweg glaubhaft eingeschätzt. Sie folgten den Bedingungen, die für das Ghetto Tluste bekannt seien.

Demgegenüber sei die Annahme der Beklagten, seit Januar 1942 habe in Tluste nur ein Zwangsarbeiterlager bestanden, problematisch. Denn die Beklagte stütze sich dazu nur auf die Datei des Osthausmuseums in Hagen. Dessen Angaben seien aber ohne weitere Quellenangabe und stammten aus den zu sehr unterschiedlichen Zeiten und Bedingungen zusammengestellten Daten des Internationalen Suchdienstes (ITS). Sie spiegelten zudem nur den Wissensstand von 1979 vor Öffnung der osteuropäischen Archive in den 90-er Jahren wider. Der Suchdienst selber qualifiziere die eigenen Daten ganz richtig als unzureichende Information, die nicht einmal eine genauere Lokalisierung ermögliche. Es könne sich nämlich um zeitlich durchaus irrtümliche Angaben eines Suchenden handeln. Der Titel der Publikation des ITS besage ferner, dass hier nur "Haftstätten" des Reichssicherheitshauptamtes erfasst waren, während die Ghettos zu der in Frage stehenden Zeit (März 1942) noch nicht in SS-Strukturen, sondern in der Regel der Zivilverwaltung unterstanden. Dass dennoch einige Ghettos in den Listen geführt würden, liege an der häufigen Vermengung der hier benutzten Kategorien. Auch die Hagener Projektleitung, die unter dem Titel "Deutschland, ein Denkmal" die sog. Keom-Liste als Datenbank im Internet zur Verfügung stelle, weise in ihrem Erläuterungstext darauf hin, dass die in der Datenbank aufgeführten Orte sich grundsätzlich nur auf separate Lager bezögen, während auswärtige Arbeitseinsätze nur unter dem jeweiligen Lager selbst aufgeführt seien. Dieser Erläuterungstext sei ebenfalls im Internet abrufbar und werde von der Beklagten nicht zur Kenntnis genommen.

Die Existenz des Ghettos in Tluste werde demgegenüber neben eigenen Forschungsarbeiten des Sachverständigen auch durch das 1996 erschienene Werk des Historikers Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941 bis 1944, bestätigt, ferner durch das Erinnerungsbuch des überlebenden Arztes aus Tluste, Baruch Milch, Can heaven be void? Jerusalem 2003, sowie durch Bilder der deutschen Luftwaffe vom Mai 1944 gestützt, auf dem der jüdische Friedhof sowie die Überreste der Synagoge und des früheren jüdischen Ghettos erkennbar sind. Schließlich seien die Massengräber der Erschießung im Mai 1943 in Tluste durch eine 1996 durchgeführte US-amerikanische Untersuchung der Überreste jüdischer Friedhöfe in Tluste nachgewiesen.

Die Beklagte hat eingewandt, allein aus dem Sachverständigengutachten lasse sich die Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers nicht herleiten. Insbesondere könne der historische Sachverständige keine Aussage zur individuellen Glaubwürdigkeit des Klägers treffen.

Der Kläger ist vom Gericht gebeten worden mitzuteilen, ob er eine persönliche Anhörung zu seinem Verfolgungsschicksal im Heimatland zu Zwecken der Gewährung rechtlichen Gehörs und zur Aufklärung des Sachverhalts wünsche, was er bejaht hat. Die Beklagte ist der geplanten Anhörung in Israel zum einen mit der Begründung entgegengetreten, die Risiken einer unmittelbaren Anhörung hochbetagter Kläger/innen dürften höher sein als ihr Nutzen, weil eine unmittelbare Konfrontation der Betroffenen mit Angaben aus vorangegangenen Verfahren vielfach mit Überforderungssituationen verbunden sein könnte. Die bisherige langjährig bewährte Praxis, nach der notwendige persönliche Anhörungen der Beteiligten und Zeugen im Wege der Rechtshilfe durch ein israelisches Gericht durchgeführt würden, halte die Beklagte auch weiterhin für den geeigneteren Weg. Diese Vorgehensweise entspreche der aller anderen Senate des Landessozialgerichts (LSG) NRW und auch der Kammern des SG Düsseldorf in gleichgelagerten Fällen. Sämtliche dortigen Entscheidungen basierten auf der Erhebung und Auswertung von Beweisen, ohne dass es hierzu einer persönlichen Anhörung der Betroffenen in Israel bedurft habe. Auch unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sehe die Beklagte daher keine Notwendigkeit, an dem in Israel vorgesehenen Befragungstermin teilzunehmen.

Der Staat Israel hat der konsularischen Anhörung von israelischen Klägern rentenrechtlicher Verfahren durch ein deutsches Gericht vor Ort gem. Art16 des Haager Übereinkommens über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen (ZRHG) vom 18. März 1970 - BGBl Teil II 1274 - nach Vermittlung dieses Ersuchens durch die deutsche Botschaft in Tel Aviv mit diplomatischen Verbalnoten vom 5. Dezember 2006 und vom 13. Februar 2007 mit der Maßgabe der anschließenden Bestätigung des jeweiligen Protokolls durch das Directorate of Courts in Jerusalem zugestimmt.

Zur Vorbereitung der Anhörung hat das Gericht die an der Universität Frankfurt tätige klinische Psychologin Prof. Dr. R, die durch Forschungsarbeiten über die Interpretationen autobiographischer Erzählungen von Überlebenden des Holocaust hervorgetreten ist, mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens über die bei der Befragung und Auswertung der Ghettoüberlebenden anzuwendenden Grundsätze beauftragt. Die Sachverständige hat ausgeführt, bei einer Anhörung von NS-Verfolgten sei davon auszugehen, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um traumatisierte Menschen handele. Es werde wahrscheinlich schwierig sein, die Kläger zu einem offenen, vertrauensvollen Erzählen, das einer Beweiswürdigung förderlich wäre, zu bewegen. Zu erwarten sei eine angespannte Gesprächssituation, in der sich der Kläger möglicherweise paradoxerweise um Rechtfertigung bemühen werde. Dem sei von Seiten des Befragers unbedingt entgegenzuwirken. Wenig sinnvoll sei in diesem Zusammenhang, mit dem Befragten in eine Diskussion zu geraten, in der verschiedene Sichtweisen gegenüberständen oder ihn auf mögliche Widersprüche in seinen Aussagen hinzuweisen, da dies den eventuellen Druck, sich zu rechtfertigen, unterstützen würde. Insofern seien Retraumatisierungen durch erneute Befragungen potentiell denkbar. Das Hauptaugenmerk solcher Befragungen sollte sich daher nicht nur auf den Inhalt der Fragen richten, sondern wesentlich auch auf die Gestaltung der Gesprächsatmosphäre. Eine Steuerung des Gesprächs durch gezielte Fragen erscheine wenig sinnvoll. Zielführender sei es, den Gefragten mit offenen Fragen zu möglichst spontanem Erzählen anzuregen und durch solche Fragen Interesse an seiner Erzählung zu signalisieren und den Erzählfluss in Gang zu halten. Für die spätere Beweisführung erschienen solche spontanen Erzählsequenzen am geeignetsten. Um eine solche Art der Gesprächsführung angesichts des nicht unproblematischen Kontexts des Gesprächs überhaupt in Gang zu setzen, sei es notwendig, das Vertrauen des Befragten zu gewinnen. Empfehlenswert sei es, bei dem ersten Anzeichen einer zunehmenden affektiven Beteiligung das Thema zu wechseln bzw. das Gespräch zu unterbrechen und eine Pause einzulegen. Im Übrigen gälten in diesen spezifischen Aspekten der Befragung von NS-Verfolgten dieselben Empfehlungen auch wie für Zeugenbefragungen (Hinweis auf Arntzen: Psychologie der Zeugenaussage - System der Glaubhaftigkeitsmerkmale - 4. Auflage 2007). Zur Nachbereitung des Gesprächs sei eine Aufzeichnung der subjektiven Eindrücke des Befragers, seiner Gedanken und Empfindungen sowie Besonderheiten und Auffälligkeiten im Gespräch, umgehend nach seiner Beendigung von Nutzen. Der Gefahr der unbewussten Gegenübertragung - etwa durch unbemerkte Auswirkung von Schuldgefühlen auf Grund deutscher Herkunft - müsse durch bewusste innere Gegensteuerung von Seiten des Befragers entgegengewirkt werden.

Als Zivilisationsbruch stelle die NS-Verfolgung und Massenvernichtung der europäischen Juden einen tiefgreifenden Einbruch in die Lebensgeschichte der Verfolgten dar, der grundlegende Handlungsorientierungen fundamental in Frage stelle und die Konstruktion einer konsistenten durchgängigen Lebensgeschichte unmöglich mache. Lebensgeschichte zerfalle vielmehr in eine Zeit vorher und eine Zeit danach, in der nichts mehr so sei wie vorher. Über die Verfolgungszeit selber werde zumeist in gleichförmiger schematisiert wirkender und gefühlsmäßig scheinbar wenig beteiligter Weise berichtet. Die Verfolgten sprächen über ihre Verfolgungserfahrung manchmal in einer Weise, die den Eindruck erwecke, als seien sie selbst gar nicht dabei gewesen. Dieses Phänomen der Depersonalisierung und der Dissoziation verweise auf traumatisches Erleben und sei oft auch noch nach Jahrzehnten bei Überlebenden der NS-Verfolgung anzutreffen. Verschiedene Teile der Lebensgeschichte könnten psychisch nicht integriert werden, sondern seien zumeist nur oberflächlich miteinander verbunden. Nichts desto weniger seien die meisten Verfolgten im weiteren Leben unablässig darum bemüht, eine solche Verbindung herzustellen und die Verfolgungserfahrung psychisch zu bewältigen. Dies gelte insbesondere für die Überzeugung, die sich regelhaft bei Überlebenden der NS-Verfolgung zeige, ihr Überleben durch Arbeit gesichert zu haben. Arbeit werde in diesen Lebensgeschichten oft zur zentralen Integrationsgröße. Doch habe die Arbeit von Überlebenden in ihrer Wahrnehmung auch dem Versuch gedient, sich in die damalige Gesellschaft zu integrieren, einen wichtigen Beitrag zu leisten und sich damit nicht dem Risiko auszusetzen, als "unnötig" betrachtet und in die Vernichtungslager verschleppt zu werden. Dies werde bis heute von den Überlebenden jedoch als massiv ambivalent erlebt. Arbeit werde nicht nur als Mittel angesehen, mit dem man sich der Verfolgung erfolgreich widersetzen konnte, sondern auch als Versuch, sich den Verfolgern "anzubiedern" und sich selbst sowie die Mitverfolgten zu verraten. Als überindividuelles Beispiel für diesen Konflikt lasse sich die Institution des Judenrates anführen, der sich einerseits zwar von den Nazis instrumentalisieren ließ, aber andererseits dadurch auch Leben von Verfolgten retten konnte.

Auch bezüglich der Beweiswürdigung ergäben sich aus der spezifischen Art der NS-Verfolgung Besonderheiten u.a. aufgrund des viele Jahrzehnte zurückreichenden Zeitablaufs. Nach dem neusten Stand der neurophysiologischen und gedächtnispsychologischen Forschung stellten Erinnerungen mentale Konstruktionsleistungen dar und nicht - wie nach dem Alltagsverständnis - einen in der psychischen Struktur unverändert wiedergabefähigen Speicher. Vielmehr werde im Prozess des Erinnerns dem vergangenen Verhalten aus der Perspektive der Gegenwart Sinn und Bedeutung verliehen. Dabei spiele das gegenwärtige Verständnis der damaligen Ereignisse eine ebenso große Rolle wie aktuelle Bedürfnisse und Interessen. Das von Arntzen vorgeschlagene System der Glaubwürdigkeitsmerkmale nach Detaillierung, Ergänzbarkeit, Homogenität, Konstanz bzw. Inkonstanz, Gefühlsbeteiligung, ungesteuerte Aussageweise, Inkonsistenz der Aussagen sowie der Objektivität der Zeugenaussage, der Aussagemotivation stoße daher im Zusammenhang mit der NS-Verfolgung auf deutliche Grenzen.

Parallel hat das Gericht Oberstaatsanwalt außer Dienst Ambach, der mit der Vertretung der durch die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf erhobenen Anklage im Majdanek-Verfahren betraut war, als weiteren Sachverständigen zu seinen Erfahrungen mit der Vernehmung jüdischer Opferzeugen in Israel befragt. Oberstaatsanwalt a.D. Ambach hat ausgeführt, dass sich die jüdischen Zeugen in der Beweisaufnahme durch eine große Sorgfalt im Bezug auf die eigene Erinnerungsfähigkeit auszeichneten und dass es ihnen nach seinem Eindruck besonders wichtig war, vor einem deutschen Gericht über das Erlebte zu berichten.

In der Zeit vom 5. bis zum 29. März 2007 sind sodann 21 Kläger und Klägerinnen in Tel Aviv und in Jerusalem durch den Berichterstatter angehört worden, darunter am 14. März 2007 auch der Kläger. Dabei ist das Gericht im Fall des Kläges von dem historischen Sachverständigen Prof. Dr. Golczewski vor Ort durch ergänzende Fragen unterstützt worden. Die zu allen Terminen ordnungsgemäß geladene Beklagte ist den Anhörungen ferngeblieben.

Der Kläger hat im Wesentlichen auf Befragen des Berichterstatters, des Sachverständigen sowie seiner Bevollmächtigten im Termin Folgendes erklärt:

"Der Ort Ostecko, in dem ich geboren wurde, liegt 13 km Luftlinie von Tluste entfernt. Bis 1941 waren die Russen da. Dann kamen die Ungarn, die Regierung war aber deutsch. Zuerst gab es Pogrome, die Ukrainer haben die Juden im Wald erschossen, die Ungarn haben uns alles genommen. Zu Anfang durften die Juden von Ostecko noch in ihren eigenen Häusern wohnen. Wir wussten nicht, was kommt. Wir wussten nicht, dass etwas derartiges kommt. Wir wussten nicht, was uns erwartet. Ich weiß nicht, ob es bis 1942 war, es war im Winter. Wie lange es dauerte, weiß ich nicht mehr. Einige Monate. Damals ist noch nicht geschossen worden, sondern erst später. Genau kann ich mich nicht erinnern. Es gab in Ostecko eine Brücke über den Dnjestr mit vier großen Tragpfeilern, die von den Russen bei ihrem Rückzug gesprengt worden war. Im Winter, als der Fluss zufror, haben wir bei der Zerlegung der Brücke geholfen, ungefähr zwei Monate lang und dafür von den Deutschen - einer zivilen Firma - jeden Freitag Geld verdient. Ich war 17 Jahre alt und ein kräftiger, junger Mann. Damals gab es noch kein Ghetto. Ich habe bei meinen Eltern gewohnt. Dann kam der Befehl, dass alle Juden aus Ostecko in das Ghetto nach Tluste gehen mussten. Damals lebten meine beiden Eltern, mein Bruder und meine zwei Schwestern noch. Meine ältere Schwester war 1 1/2 Jahre älter als ich.

In Tluste hatte mein Vater, der von Beruf Spenglermeister war und Blechdächer sowie Dachrinnen reparierte, einen Bekannten, einen Schuster. Dieser hat uns in seine Wohnung hereingelassen. 2 bis 3 km von Tluste entfernt habe auch ich Arbeit gefunden, und zwar im Ort Ryzyniówka. Die brauchten Arbeiter für die Felder. Dort gab es einen deutschen Leiter mit Namen G. Er war dick und ritt auf einem weißen Pferd. Mit dem G konnte ich nicht reden. Ich war 18. Leute arbeiteten dort auf den Feldern. Es gab einen Judenrat und jüdische Polizei. Auf dem Feld selbst gab es keine Polizisten und keine Bewachung, aber wir brauchten doch Arbeit. Wir hatten kein Essen. Für die Arbeit habe ich Essen bekommen, es wurde auch Geld gezahlt, aber das ging direkt an den Judenrat. Ich habe über den Judenrat Coupons erhalten, genau kann ich mich nicht erinnern. Die Coupons habe ich meinen Eltern gegeben, damit die etwas zu essen hatten. Ich selbst habe auf der Arbeit Essen bekommen. Meine Eltern wären fast verhungert, denn sie hatten keine Arbeit. Außer mir hatte nur meine ältere Schwester Arbeit. Zu Anfang hat mein Vater noch versucht, auf die Dörfer zu gehen und als Spengler zu arbeiten. Da hat man ihn aber geschnappt und fast zu Tode geschlagen. Danach sagte er: "Ich gehe jetzt nicht mehr heraus." Mehr oder weniger haben meine Schwester und ich die Familie alleine von unserer Arbeit ernährt. Wir erhielten vom Judenrat Coupons. Die Coupons haben wir einmal in der Woche bekommen. Es war kaum etwas. Die Arbeit in Ryziniówka habe ich über den Judenrat erhalten. Dieser hat gesagt: "Dort und dort gibt es Arbeit." Jeder hat Geld verdienen wollen. Die Deutschen haben sich an den Judenrat gewandt und der Judenrat hat dann Arbeiter gesucht. Ich selbst bin dann immer zum Judenrat gegangen und habe gefragt, ob es Arbeit gäbe. Ich habe essen und verdienen wollen. Sonst hat es keine andere Arbeit gegeben.

Welchen Unterschied es zwischen Menschen, die Arbeit über den Judenrat gehabt haben und solchen, für die das nicht zutraf, gab: Normalerweise haben die aus Tluste besser gelebt. Wir waren fremd dort. Wir waren nicht aus Tluste, es war schwierig. Nur ich und meine Schwester haben gearbeitet. Was die anderen bekommen haben, weiß ich nicht. Ich habe auf dem Feld Essen bekommen und vom Judenrat Coupons. Die habe ich den anderen zu Hause gegeben, damit die zu essen hatten. Ich kann mich nicht genau erinnern, was das war. Der Judenrat nahm 20 bis 30 junge Männer für die Arbeit auf dem Feld an. Im Dorf Ryziniówka gab es keine Juden. Das war ein Dorf nur aus Ukrainern und Polen. Die Frage, inwieweit sich der "Status" in Ryziniówka in der Zeit, in der ich dort war, geändert hat, verstehe ich nicht. Es waren 20 bis 30 Leute auf dem Feld. Es waren Furchen mit einer Länge von 2 bis 3 km. Wir hatten Hacken, um die Erde aufzulockern. Ich weiß nicht, was das heißen soll, "ob ein SS-Mann möglicherweise erschienen ist und gesagt hat: Ihr seid jetzt meine Leute". Ich habe nur den G gesehen.

Diese Zeit dauerte ungefähr 1 1/2 bis 2 Jahre. Wir waren mit dem Davidstern gekennzeichnet und wurden von einem jüdischen Polizisten zum Feld geführt, jeweils ungefähr 20 bis 25 Leute. Auf dem Feld haben wir die Koksagys-Setzlinge gepflanzt und die Erde aufgelockert. Man habe mir gesagt, dass man Gummi daraus mache. Genau weiß ich es nicht. Ich selbst arbeitete mit den Pferden und bin den ganzen Tag hinter dem Pflug gegangen. Es gab einen Ukrainer, der mir gezeigt hat, wie man die Pferde an den Pflug spannt. Der hat das gemacht. Ich habe die Pferde auch gefüttert. Deswegen bin ich später am Leben geblieben. 1943 gab es eine große Aktion. Das Ghetto wurde von den Ukrainern und Deutschen umzingelt. Sie begannen um 3.00 Uhr früh zu schießen und haben alle zum Friedhof gebracht. Dort war schon eine große Grube ausgehoben. Das habe ich aber nicht mehr selbst gesehen, denn meine Schwester und ich sind geflohen. Es wurden ca. 5.000 Menschen erschossen - ja - auch meine Familie.

Danach wurde gesagt, das Ghetto gibt es nicht mehr und es ist geschlossen. Ich bin bei meiner Schwester geblieben. Wir wussten nicht, wo wir hin sollten, deswegen sind wir nach Ryziniówka gegangen. Dort haben wir einige Monate gearbeitet. Den Judenrat gab es nach der großen Aktion nicht mehr. Man habe es mir gegeben, ein bisschen Kleingeld. Genau kann ich nicht mehr erinnern. Es war nur eine Zeit von 2, vielleicht 1 1/2 Monaten. Es gab eine Angestellte, die das machte. Es gab dort zwei Baracken. Ich habe mit den Pferden gearbeitet und wir haben im Kuhstall geschlafen. Deswegen sind meine Schwester und ich noch einmal davon gekommen, denn morgens früh kamen wieder Ukrainer und Deutsche und haben die Baracken umzingelt. Wir waren mit meiner Schwester ungefähr 200 m im Kuhstall entfernt. Nur wir sind am Leben geblieben. Sie haben dann die Leute in den Baracken im Schlaf erschossen, mit Dumdumgeschossen. Sie waren ganz entstellt, ein Haufen von Leichen. Ich bin wieder mit meiner Schwester in den Wald geflohen, aber wir mussten zurückkommen, denn ein Mensch muss essen. Man hat uns Schaufeln in die Hand gedrückt. Wir sollten Gruben für die Toten ausheben, aber wir waren selbst zu armselig. Es war schon das Ende, die Russen kamen schon. Wir sind dann zu einem Polen gegangen, sein Anwesen war umzäunt. Er hat uns zwei Monate lang versteckt dort leben lassen bis zur Befreiung durch die Russen.

Für die Angaben beim Rentenversicherungsträger gab es kein ebenso ausführliches Gespräch wie heute. Ich bin befragt worden und habe geantwortet. Es ist schwer, sich zu erinnern, es liegt alles schon 60 Jahre zurück. Ob ich im Entschädigungsverfahren in den fünfziger Jahren lange mit einem Anwalt gesprochen habe, weiß ich nicht mehr so genau. Man habe mich gefragt und ich habe geantwortet.

Aus meinem Geburtsort Ostecko sind von 100 jüdischen Familien im Ganzen nur sieben Menschen am Leben geblieben, darunter meine Schwester und ich. Ich weiß nicht, ob Sie mir glauben - dass es so etwas gegeben hat."

Der Sachverständige hat erklärt, dass, was der Kläger bekundet habe, sei in den wichtigsten Zügen historisch plausibel. Nur bei Kleinigkeiten müsse man vorsichtig sein. Der Berichterstatter hat zu Protokoll gegeben, dass der Kläger nach dem in dem Termin gewonnenen persönlichen Eindruck glaubwürdig sei.

Die Anhörung des Klägers ist im Einverständnis mit allen im Termin Anwesenden durch eine Videokamera aufgezeichnet worden. Ergänzend ist den Beteiligten der Erfahrungsbericht des Berichterstatters über die Erfahrungen aus den anderen Anhörungsterminen in Israel übersandt worden. Darin heißt es u.a., die Kläger hätten sich befriedigt über die Möglichkeit gezeigt, ihre Zeit im Ghetto vor einem deutschen Richter schildern zu können. In keinem Fall sei es zu einer Überforderungssituation gekommen. Alle Kläger seien nach dem in der persönlichen Anhörung gewonnenen richterlichen Eindruck glaubwürdig gewesen.

Die Beklagte hat hierzu sowie zum Videoprotokoll der Anhörung des Klägers erklärt, diese pauschalen Bewertungen des Gerichts seien bei Weitem zu undifferenziert. Der Kläger habe zwar den Eindruck erweckt, in vielen Detailschilderungen die Zeit im Ghetto getreu nach seiner Erinnerung wiederzugeben, und sich bemüht, das damalige Geschehen wahrheitsgetreu zu schildern. Ob er täglich in das Ghetto zurückgekehrt sei, lasse sich der Anhörung indes nicht entnehmen. Dies sei jedoch Voraussetzung eines Anspruchs nach dem ZRBG. Hinsichtlich der Entlohnung habe der Kläger eindeutig erklärt, selbst kein Geld erhalten zu haben. Der Umfang der vom Judenrat erhaltenen Lebensmittelcoupons sei im Unklaren geblieben. Allein die Tatsache, dass der Kläger die Lebensmittelcoupons den Eltern gegeben haben wolle, sage noch nichts über den Umfang der Zuwendung aus, ob sie nämlich das Maß einer Gewährung freien Unterhalts überschritten habe. Wenn die Eltern für alle Familienmitglieder die Coupons eingetauscht hätten, könne daraus kein Rückschluss gezogen werden, ob seine Coupons seinen Bedarf überstiegen hätten. Es sei unklar geblieben, was diejenigen Verfolgten erhalten hätten, die nicht gearbeitet hätten. Denn dazu habe der Kläger keine Angaben machen können. Er habe sich nur erinnert, dass die aus Tluste stammenden Personen besser gelebt hätten. Nur die Differenz zwischen dem aber, was alle bekamen und dem, was nur die Beschäftigten bekamen, könne als Zuwendung aus der Beschäftigung angesehen werden. Auch eine Zusatzverpflegung für den arbeitenden Teil der Juden, die den höheren Kalorienbedarf ausgeglichen habe, könne den Charakter der Zwangsarbeit nicht ändern (Urteil des LSG NRW v. 8. Dezember 2006 - L 13 R 144/06 - ). Im Übrigen sei auch in der Zahlung an den Judenrat keine Entlohnung für den Kläger zu sehen. Das Entgelt müsse vielmehr den Beschäftigten selbst zufließen (Urteile des LSG NRW v. 3. Juni 2005 - L 4 R 3/05 - und 29. Mai 2006 - L 3 R 45/06 -). Im Übrigen sei die Parteivernehmung im sozialgerichtlichen Verfahren generell unzulässig. Es sei unklar, worum es sich bei den Terminen in Israel rechtlich überhaupt gehandelt habe. Auch sei die Protokollierung in Gestalt der Bezugnahme auf die Videoaufnahme unzureichend. Ferner habe die Dolmetscherin nicht ordnungsgemäß übersetzt. Vorhalte aus früheren Akten seien nicht hinreichend gemacht worden. Die Befragung durch den Berichterstatter sei in zu freundlicher und in unkritischer Weise erfolgt. Widersprüche zwischen früherem und heutigem Vorbringen seien nicht ausgeräumt, die Kläger nicht mit einander widersprechenden Aussagen konfrontiert worden. Darüber hinaus hätten die zeitnäheren Angaben der Kläger aus den BEG-Verfahren der 50er und 60er Jahre generell einen größeren Beweiswert. Es gebe keinen Erfahrungssatz, dass die NS-Opfer heute eher die Wahrheit sagten als früher. In rechtlicher Hinsicht bleibe die Beklagte bei dem vom 13. Senat des BSG aaO vertretenen Standpunkt und schließe sich der neuen Rechtsprechung des 4. Senats des BSG aus dessen Urteil vom 14.12.2007 - B 4 R 29/06 R - nicht an.

Im Verhandlungstermin vom 06. Juni 2007 hat der erkennende Senat die Videoaufzeichnung der Anhörung des Klägers vollständig in Augenschein genommen. Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, dass die Aufnahme im vollen Umfang verständlich war.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens und des Beweisergebnisses wird auf die Sitzungsniederschriften des erkennenden Senats, die eingeholten Sachverständigengutachten, die Gerichtsakte mit Anlagen, die Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Entschädigungsakte aus dem BEG-Verfahren des Klägers sowie auf die Videoaufzeichnung der Anhörung des Klägers verwiesen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, denn der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf Altersrente im zugesprochenen Umfang. Die ablehnenden Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und beschweren den Kläger i.S.d. § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in seinen sozialen Rechten. Der Kläger hat alle Voraussetzungen glaubhaft gemacht, die für einen Rentenanspruch auf Grundlage der §§ 1 bis 3 ZRBG erforderlich sind. Dabei geht der Senat für die Auslegung der vorgenannten Vorschriften von den unter A. dargelegten Kriterien aus. Die zur Ausfüllung dieser Voraussetzungen im Einzelfall des Klägers getroffenen Feststellungen beruhen auf der tatrichterlichen Würdigung aller Umstände des Einzelfalles durch den erkennenden Senat (hierzu unter B). Die Einwände der Beklagten gegen die Berücksichtigung der persönlichen Anhörung des Klägers greifen nicht durch (hierzu unter C).

A.

I. Der erkennende Senat hält im Kern an der vom 13. Senat des BSG im Urteil vom 7. Oktober 2004 - B 13 RJ 59/03 - vertretenen Auffassung fest, dass es sich bei den Vorschriften der §§ 1 bis 3 ZRBG um Bestimmungen handelt, die auf dem Boden der bis zum Jahr 2002 ergangenen sogenannten Ghettorechtsprechung des 5. und 13. Senats des BSG stehen und die das bis dahin in Kraft befindliche Rentenrecht einschließlich des Fremdrentengesetzes (FRG) und des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) ergänzen und nur teilweise verdrängen. Der Auffassung des 4. Senats im Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R - Rn 104 - , als Entgelt i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1b ZRBG genüge jede Zuwendung wegen geleisteter Arbeit, unabhängig von ihrer Art oder Höhe, vermag der erkennende Senat nicht beizutreten. Soweit der 4. Senat des BSG (aaO Rn 102) ausführt, das Nichtvorliegen von Zwangsarbeit sei keine Tatbestandsvoraussetzung des § 1 ZRBG, folgt der erkennende Senat dem nicht. Das gilt auch für die Annahme des 4. Senats (aaO Rn 50 und 65), dass nach § 1 Abs. 3 ZRBG die Entstehung eines Rechts auf Altersrente, soweit sie auf der gleichgestellten Vorleistung von Ghettobeitragszeiten i.S.d. ZRBG beruht, die Erfüllung einer allgemeinen Wartezeit von 60 Monaten nicht voraussetzt (dazu unter II.).

Im Übrigen legt der erkennende Senat hinsichtlich der Auslegung der Begriffe "Zwangsarbeit", "Ghetto" und "Beschäftigung aus eigenem Willen" Folgendes zugrunde:

1. Um ein "Ghetto" im Sinne des § 1 ZRBG handelt es sich jedenfalls bei solchen Wohnbezirken, in denen Juden durch eine Aufenthaltsbeschränkung vollständig und nachhaltig durch die Androhung schwerster Strafen oder durch Gewaltmaßnahmen von der Umwelt abgesondert wurden und die sich in einem Gebiet befanden, das rechtlich als vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert zu qualifizieren ist, womit der faktische Herrschaftsbereich des NS-Staates gemeint ist. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob auch ein sogenanntes "offenes" Ghetto unter den Ghetto-Begriff i.S.d. § 1 ZRBG fällt. Denn auf den Unterschied zwischen "offenem" und "geschlossenen" Ghetto kommt es im Fall des Klägers rechtlich nicht an. Vielmehr lässt sich aus den unter B. dargelegten Gründen feststellen, dass er in seiner Zeit in Tluste in einem "geschlossenen" Ghetto war (eingehend zum Problemkreis des Ghettobegriffs: LSG NRW, Urteil v. 1. September 2006 - L 14 R 41/05; Urteil v. 15. Dezember 2006 - L 13 RJ 112/04 - mit anhängiger Revision - B 5 R 12/07 R -).

2. "Beschäftigung" i.S.d. § 1 ZRBG ist jede nicht selbständige Arbeit. Das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses ist nicht notwendig. Anhaltspunkte sind eine von Weisungen eines anderen hinsichtlich Zeit, Ort, Dauer, Inhalt oder Gestaltung abhängige Tätigkeit sowie eine gewisse funktionale Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Unternehmens oder Weisungsgebers, wobei die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls und das sich daraus ergebende Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit maßgeblich sind. Auch Arbeiten und Dienstleistungen, die außerhalb des räumlichen Bereichs eines Ghettos verrichtet wurden, werden dabei vom ZRBG erfasst, wenn sie Ausfluss der Beschäftigung im Ghetto waren (4. Senat des BSG a.a.O. Rn. 99 mit Hinweis auf Bundestagsplenarprotokoll 14233 vom 25. April 2002, 23281). Die Arbeit muss dem Verfolgten lediglich von einem Unternehmer oder einer Ghettoautorität mit Sitz im Ghetto (z.B. dem örtlichen Judenrat) angeboten oder ähnlich einer Arbeitnehmerüberlassung oder einer Arbeitsvermittlung zugewiesen worden sein. Eine direkte Rechtsbeziehung mit unmittelbarem Entgeltzufluss zwischen einer deutschen Dienststelle und den betroffenen Ghettobewohnern ist daher nicht erforderlich.

3. Eine freiwillige Beschäftigung "aus eigenem Willen" scheidet dann aus, wenn der Arbeitende von hoher Hand unter Ausschluss jeder freien Willensbetätigung zur Arbeit gezwungen wurde, z.B. bei Strafgefangenen oder KZ-Häftlingen. Ein eigener Willensentschluss i.S.d. ZRBG liegt demgegenüber vor, wenn die Arbeit vor dem Hintergrund der wirklichen Lebenslage im Ghetto jedenfalls auch noch auf einer wenn auch auf das Elementarste reduzierten Wahl zwischen wenigstens zwei Verhaltensmöglichkeiten beruhte. Solange NS-Verfolgte hinsichtlich des Zustandekommens und/oder der Durchführung der zugewiesenen angebotenen Arbeiten noch eine gewisse Dispositionsbefugnis hatten, sie also die Annahme und/oder Ausführung der Arbeiten gegenüber dem, der sie ihnen zuwies, auch ohne unmittelbare Gefahr für Leib, Leben und ihre Restfreiheit ablehnen konnten, liegt keine Unfreiwilligkeit vor, auch dann nicht, wenn sie deshalb mangels eines Entgelts weniger oder nichts mehr zu Essen hatten. Gleiches gilt für eine nur den Zwangsaufenthalt im Ghetto aufrecht erhaltende, also vor allem eine fluchtverhindernde Bewachung bei Beschäftigungen außerhalb des räumlichen Ghettobereichs (vgl. 4. Senat des BSG aaO Rn 102 mwN).

II. Nach wie vor erachtet der erkennende Senat indes zur Anwendung des ZRBG die Abgrenzung von der Zwangsarbeit nach dem sozialversicherungsrechtlichen Typus des Beschäftigungsverhältnisses für geboten. Dazu ist nicht nur auf den Grad der Freiwilligkeit abzustellen, sondern auch auf eine von Zwangsarbeitsbedingungen deutlich unterscheidbare Entgelthöhe. Der erkennende Senat gründet diese Auslegung auf die Erkenntnis, dass der Gesetzgeber mit dem ZRBG trotz des Betretens von Neuland in der rentenrechtlichen Tradition der durch die BSG-Urteile des Jahres 1997 vorgezeichneten Ghetto-Rechtsprechung geblieben ist und an der Differenzierung zwischen Zwangsarbeit und Beschäftigung im sozialversicherungsrechtlichen Sinne festhält (hierzu unter 1.). Der Senat sieht sich jedoch aufgrund neuer historischer Erkenntnisse gehalten, seine bisherige Rechtsprechung zur Feststellung einer für die Anwendung des ZRBG ausreichenden Höhe des Entgelts zu modifizieren und stellt dazu - als Hilfstatsache bei Beweisnot - nunmehr auch auf die Frage ab, ob das im Ghetto erhaltene Entgelt objektiv dazu ausreichte, neben dem Arbeitenden selbst auch weitere Menschen über einen erheblichen Zeitraum zu ernähren oder hierzu einen entscheidenden Beitrag zu leisten (hierzu unter 2.). Im Übrigen setzt auch ein Rentenanspruch nach dem ZRBG die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von 60 Monaten voraus, nicht aber die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (hierzu unter 3.).

1. Die grundsätzliche Fortgeltung der sogenannten Ghettorechtsprechung des BSG (Urteile vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 66/95 -; 21. April 1999 - B 5 RJ 48/98 R -; 14. Juli 1999 - B 13 RJ 61/98 R) für die Auslegung des ZRBG ergibt sich aus der Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksachen - BT-Drs. - 14/8583 Seiten 1, 5 und 14/8602 Seiten 1, 5), die ausdrücklich auf diese Urteile Bezug nimmt, sowie aus dem Wortlaut der gesetzlichen Überschrift ("Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten ...") ( ebenso LSG NRW, Urteil v. 7. Mai 2007 - L 3 R 34/07). Zudem vertraten in der Bundestagsdebatte alle Fraktionen des Deutschen Bundestages die Auffassung, das ZRGB schließe eine rentenrechtliche Lücke für den besonderen Personenkreis der Ghettoüberlebenden (BT-Plenarprotokoll 13/233; 23279 ff). Für die hier vertretene Auffassung spricht darüber hinaus der systematische Zusammenhang zu dem auch vom 4. Senat des BSG genannten Stiftungsgesetz, vor allem dessen § 16 Abs. 2 Satz 1, der ausdrücklich bestimmt, dass mit Beantragung der dortigen Leistungen durch Erklärung auf jede darüber hinaus gehende Geltendmachung von Forderungen für Zwangsarbeit gegen die öffentliche Hand unwiderruflich verzichtet werde, während gemäß § 16 Abs. 3 Stiftungsgesetz weitergehende Ansprüche gegen die öffentliche Hand unberührt bleiben. Hieraus hat der erkennende Senat mit rechtskräftigem Urteil vom 29. Juni 2005 - L 8 RJ 97/02 - die Notwendigkeit der Abgrenzung von Zwangsarbeit (zu entschädigen nach dem Stiftungsgesetz) und entgeltlicher Arbeit i.S.d ZRBG abgeleitet. Die Rentenversicherungsträger sind diesem Urteil auch bundesweit gefolgt. Der Senat hält an dieser Entscheidung fest. Schließlich sind auch die außerhalb des Rentenrechts bestehenden allgemeinen entschädigungsrechtlichen Bestimmungen des BEG für die im Ghetto erlittene Freiheitsentziehung und Gesundheitsbeschädigung durch Hunger und Misshandlung als Beleg heranzuziehen, insbesondere § 43 Abs. 3 BEG, der Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen der Freiheitsentziehung gleichachtet (hierzu Bundesgerichtshof - BGH -, Urteil v. 25. Juni 1970 - IX 241/67 - mwN). Wären Ansprüche nach dem ZRBG demgegenüber, entsprechend dem Verständnis des 4. Senats des BSG, unabhängig vom Vorliegen oder Nichtvorliegen von Zwangsarbeit und einer deren Bedingungen typischerweise deutlich übersteigenden Entgelthöhe zu gewähren, so würde sich in der Tat die auch vom 4. Senat am Ende seiner Entscheidung (Rn 118) aufgeworfene Verfassungsfrage stellen, warum nicht auch alle anderen Gruppen von Zwangsarbeitern, also auch solchen, die nicht in einem Ghetto leben mussten, Anspruchsberechtigte dieser Leistung sein sollen. Eine generelle Entschädigung aller im 2. Weltkrieg zur Arbeit für Deutschland gezwungenen Kriegsopfer würde jedoch deutlich über den im ZRBG erklärten gesetzgeberischen Willen hinausgehen. Bisheriger außen- und staatspolitischer Praxis der Bundesrepublik Deutschland folgend ist eine solche generelle Reparationsregelung vielmehr in allen völkerrechtlichen Verträgen zur Regelung der Folgen des 2. Weltkrieges, angefangen vom Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 - BGBl Teil II 331 - in Art 5 Abs. 2 bis hin zum Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990- BGBl Teil II 1317 -, bei der Wiedervereinigung Deutschlands vermieden worden (vgl. Bericht der Bundesregierung über Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht - BT-Drs. 10/6287, S. 8 ff, s. auch § 1 Abs. 1 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes - AKG - aus dem Jahr 1957 - BGBl Teil I 1745, hierzu Pagenkopf AKG 1958, Einführung und Art 1 Anmerkung 1 ff). Eine Änderung dieser Grundentscheidung hätte außerordentlich weitreichende staats-, außen- und haushaltspolitische Konsequenzen und hätte, wenn sie mit dem ZRBG hätte bewirkt werden sollen, klaren Ausdruck im Gesetz finden müssen. Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat den in dieser Frage bestehenden außerordentlich weiten politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ausdrücklich anerkannt (Beschluss des 2. Senats vom 13. Mai 1996 - 2 BvL 33/93 -; allgemein zu den Auslegungsgrenzen: BVerfGE 11, 16, 130)). Zu einer mittelbaren Änderung der in der Gesetzgebung zum ZRBG getroffenen politischen Grundentscheidung sieht der erkennende Senat die Rechtsprechung als dem Gesetz unterworfene Gewalt gemäß Artikel 20 Abs. 3 und Artikel 97 Abs. 1 Grundgesetz (GG) iVm § 31 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) daher nicht befugt (so auch 13. Senat des BSG, Urteil v. 7. Oktober 2004, aaO Rn 44).

2. Unabhängig davon gibt das Urteil des 4. Senats des BSG vor dem Hintergrund neuer historischer Erkenntnisse Anlass, die bisherige Rechtsprechung zum Entgeltbegriff des ZRBG zu modifizieren. Nach dieser Rechtsprechung war festzustellen, zur Zuteilung welcher genauen Mengen welcher Nahrungsmittel die Coupons im jeweiligen Ghetto berechtigten und welchen Gegenwert diese Dinge damals besaßen. Es hat sich in der (den Beteiligten des Verfahrens bekannten) Praxis der jüngsten Beweiserhebungen des erkennenden Senats zu den Gebieten des Baltikums, Polens und der Ukraine im 2. Weltkrieg gezeigt, dass diese Umstände für die allermeisten Überlebenden nach so langer Zeit nicht erinnerbar und auch historisch kaum aufklärbar sind, zumal sich daran weitere ungeklärte Fragen anschließen, wie etwa, ob für den Wert von Lebensmitteln auf offiziell von deutscher Seite festgelegte Preise oder die real auf dem (schwarzen) Markt in Ghettos geltenden Tauschrelationen abzustellen ist.

Die Anerkennung eines ZRBG-Anspruchs hing damit davon ab, ob die jeweiligen lokalen NS-Machthaber in Ghettos oder besetzten Gebieten in irgendeiner Form "ortsübliche Löhne" festsetzten oder nicht. Nur im Ghetto Lodz, das sowohl dem BSG in seiner Ghettorechtsprechung wie auch dem Deutschen Bundestag bei Verabschiedung des im Anschluss an diese Rechtsprechung ergangenen ZRBG vor Augen stand, galt nämlich wegen - zwar völkerrechtswidriger (so schon v. Moltke 1940 unter Hinweis auf die Haager Landkriegsordnung in: Sitzung der Sektion Völkerrecht der Akademie für deutsches Recht, Diskussionsprotokoll, Bundesarchiv Berlin/Koblenz R 61/360; ferner Ipsen, Völkerrecht, 5. Auflage 2004, § 23 Rn 42 ff), aber formal-juristisch wirksamer Annexion der westlichen Teile der Republik Polen durch das Deutsche Reich die RVO (Ostgebiete-Verordnung v. 22. Dezember 1941 - Reichsgesetzblatt Teil I 777) und damit auch die §§ 1227 bzw. 1228 RVO, auf denen die o.g. Einschränkungen beruhen.

Für die außerhalb des ("groß"-) deutschen Reichsgebiets liegenden besetzten Gebiete ergibt sich demgegenüber nach den neuesten auch den Beteiligten bekannten historischen Erkenntnissen des erkennenden Senats sowohl nach den unterschiedlichen Phasen und Orten des Kriegs- sowie Besatzungsverlaufs als auch den verschiedenen im NS-Staat willkürlich miteinander rivalisierenden NS- und Militärorganisationen (Wehrmacht, Rüstungsindustrie, Organisation Todt, SS, SA, Einzelpersonen- und Firmen etc.) ein von reinen Zufällen und gravierenden inneren Widersprüchen gekennzeichnetes Bild über die Festsetzung der örtlichen Löhne sowohl für die nicht-jüdische Bevölkerung als auch für die dort verfolgten Juden. "Recht" war das, was örtliche NS-Machthaber als Lohn oder Ration in Ghettos verordneten, ohnehin in keinem Fall (grundlegend: Radbruch, Gesetzliches Unrecht und überpositives Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105 ff unter III.; vgl. auch 4. Senat des BSG aaO Rn 109, 114). Die aus heutiger Sicht gebotene wenigstens nachträglich gleiche Anwendung vergleichbarer Maßstäbe für vergleichbare Umstände darf von diesem willkürverzerrten Verhalten lokaler NS-Stellen nicht abhängig sein. Dies verkennt die sogenannte Anspruchstheorie, nach der die Anwendung des ZRBG - unabhängig von der tatsächlichen Gewährung von Entgelt - allein von einem hierauf theoretisch bestehenden Rechtsanspruch abhängen soll (dagegen schon Urteil des erkennenden Senats - L 8 R 249/05 -).

Zudem geht der Senat davon aus, dass der Deutsche Bundestag bei Erlass des ZRBG nicht ernstlich gewollt haben kann, dass für die Anwendung dieses Gesetzes durch Verwaltung und Rechtsprechung zu Lasten der Betroffenen so hohe Nachweishürden für die Entgeltlichkeit der Tätigkeit aufgestellt würden, dass für die Überlebenden, die im Regelfall über keinerlei Dokumente aus der damaligen Zeit verfügen, ein Nachweis der entgeltlichen Beschäftigung praktisch unmöglich gemacht wird (vgl. auch § 2 Abs. 2, 2. Halbsatz SGB I). Dem deutschen Bundestag konnte bei Erlass des ZRBG der neueste historische Befund allerdings noch nicht bekannt sein, weil die historische Forschung zu den Ghettos des 2. Weltkrieges im Jahr 2002 erst am Anfang stand und sich seit der Öffnung der Archive in den Staaten des ehemaligen Ostblocks seit Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts im Umbruch befindet (vgl. auch BT-Drs. 15/1476 zu den bei Erlass des ZRBG fehlenden Möglichkeiten die Zahl der Anträge und ihre Ergebnisse zu prognostizieren).

Damit ergab sich für den erkennenden Senat das Erfordernis, ein neues vor Gericht noch heute objektiv überprüfbares aber auch regelmäßig nachweis- und erinnerbares Kriterium zu finden, welches die Unterscheidbarkeit von reiner Zwangsarbeit einerseits und freiwilliger entgeltlicher Tätigkeit andererseits mit dem für die Glaubhaftmachung gebotenen Gewissheitsgrad richterlicher Überzeugungsbildung ermöglicht. Für nicht ausreichend hält der Senat dabei nach wie vor die bloße Versorgung des Betroffenen mit Nahrungsmitteln selbst, selbst wenn diese Ernährung besser war und im Ghetto u.U. größere Überlebenschancen bot (wie im durch den 13. Senat des BSG am 7.Oktober 2004 entschiedenen Fall, dem tatsächliche Feststellungen des erkennenden Senats zugrunde lagen). Das gilt auch, wenn die Nahrungsmittel objektiv nur dazu geeignet waren, den mit der Arbeit verbundenen Kalorienmehrbedarf zu decken (so auch LSG NRW, Urteil v. 8. Dezember 2006 - L 13 R 144/06). Denn die Ernährung zum Zwecke des Erhalts der eigenen Arbeitskraft ist ein Umstand, der in gleicher Weise für Zwangsarbeit typisch ist - schon aus dem reinen Eigeninteresse desjenigen, der die Arbeitskraft der Zwangsarbeiter für sich ausbeutet. Einen deutlichen Unterschied sieht der Senat jedoch dann als hinreichend glaubhaft gemacht an, wenn das Maß des empfangenen Entgelts - unabhängig davon, ob in Form von Bargeld, Coupons oder Naturalien gewährt - objektiv bewertet dazu ausreichte, um nicht nur den Arbeitenden selbst, sondern mindestens eine weitere Person für einen erheblichen Zeitraum zu ernähren oder hierzu einen entscheidenden Beitrag zu leisten, und sei es nur auf dem im Ghetto allgemein herrschenden außerordentlich niedrigen Ernährungsniveau. Denn die Möglichkeit zur Mitversorgung weiterer Angehöriger ist auch nach dem historischen Befund, nach den wirtschaftlichen Bedingungen wie auch im Erleben der Opfer ein grundlegender Unterschied zu der für echte Zwangsarbeit charakteristischen totalen Ausbeutung, wie sie in den Zwangsarbeiterlagern und dann noch später bei der Vernichtung durch Arbeit in den Konzentrationslagern stattfand. Ob dieses Kriterium der objektiven Eignung zur Mitversorgung von Angehörigen jeweils gegeben war oder nicht, ist nach den tatrichterlichen Erfahrungen des erkennenden Senats, der sich insoweit nicht nur auf eine langjährige Praxis und eine Vielzahl von Fällen, sondern auch auf die durch den Berichterstatter in den persönlichen Anhörungen von NS-Opfern in Israel gewonnenen Erkenntnisse stützen kann, praktisch allen Überlebenden der Ghettos, soweit sie heute noch verhandlungsfähig sind, erinnerlich. Denn dieses Kriterium betrifft in aller Regel die nächste eigene Familie, deren Schicksal am intensivsten erlebt wurde.

3. Im Übrigen bleibt es für die Rechtsanwendung des ZRBG bei dem allgemeinen rentenrechtlichen Erfordernis der allgemeinen Wartezeit von 60 Monaten gemäß §§ 35 Nr. 2, 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Entsprechend hat der erkennende Senat seine Entscheidung daher als Grundurteil tenoriert. Die Vorschrift des § 1 Abs. 3 ZRBG, die der 4. Senat hier als generelle Regel zitiert, betrifft nämlich nur den auch im Verhältnis zu Israel eingreifenden speziellen Fall, dass zwischen- oder überstaatliches Recht Sonderregeln zur Mindestanzahl an rentenrechtlichen Zeiten trifft (sog. Kleinstzeitenregeln). Ohne diesen Ausschluss des § 1 Abs. 3 ZRBG wären Rentenzeiten von weniger als 12 Monaten (im Verhältnis zu Israel) bzw. von 18 Monaten (im Verhältnis zu den USA) durch den anderen Staat abzugelten (BT-Drs. 14/8583). Der vom 4. Senat des BSG insoweit ergänzend genannte § 3 Abs. 2 ZRBG regelt ebenfalls etwas anderes, nämlich die Frage des Zugangsfaktors, die aber für die Grundvoraussetzungen der Wartezeit nicht relevant ist. In der Praxis liegt darin indes für die Anwendung des ZRBG zugunsten der Berechtigten keine erhebliche Hürde. Fehlende Zeiten können danach nämlich durch das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung gemäß § 7 SGB VI über nachträgliche Annahme von Beiträgen seitens der Beklagten gemäß §§ 197 Abs. 3, 198 Satz 1 SGB VI iVm Art 2 Abs. 1, Art 3 Abs. 1 a) und Art 4 Abs. 1 Satz 1 des Deutsch-Israelischen Sozialversicherungsabkommens (DISVA) vom 17. Dezember 1973 - BGBl. Teil II 246, 443 - in der Fassung des Änderungsabkommens vom 7. Januar 1986 - BGBl Teil II 863, 1099 -, das in Israel lebende israelische Staatsangehörige mit deutschen Versicherten in Deutschland gleichstellt, ausgeglichen werden. Diese Rechtsfolgen haben Rückwirkung bis zum frühestmöglichen Rentenbeginn nach dem ZRBG, d.h. bis zum 1. Juli 1997 (näher hierzu zuletzt Senatsurteil vom 23. Mai 2007 - L 8 R 28/07 - mwN).

Anderes gilt freilich für das Erfordernis des deutschen Sprach- und Kulturkreises (dSK), das im ZRBG ausdrücklich aufgegeben ist und das sich auch nicht aus den allgemeinen Bestimmungen des FRG bzw. des WGSVG in das ZRBG "hineininterpretieren" lässt, wie der 4. Senat des BSG aaO (Rn 105 ff, 114) zutreffend dargelegt hat. Eine solche einschränkende Auslegung würde nämlich dem ursprünglichen Gesetzeszweck zuwiderlaufen (so auch die Stellungnahme der Bundesregierung zu dieser Frage - BT-Drs. 16/5720). Auch würde sie im Ergebnis zu einer historisch fragwürdigen Unterscheidung zwischen deutschsprachigen und nicht-deutschsprachigen Verfolgten führen.

Auch in der tatrichterlichen Praxis würden bei einer solchen Interpretation des Gesetzes für die Instanzgerichte noch weitere, mit erheblichem Aufwand verbundene tatsächliche Feststellungen erforderlich, denn zur Feststellung des dSK ist der Gesamtbereich der mündlichen und schriftlichen Kommunikation unter Ausschöpfung aller erreichbaren Beweismittel konkret zu erfassen und in Beziehung zur jeweiligen Sprachverwendung zu setzen (BSG, Urteile v. 10 März 1999 - B 13 RJ 83/98 R - und 14. März 2002 - B 13 RJ 15/01 R). Die in den Akten häufig anzutreffende bloße Verneinung des zum dSK anzukreuzenden Feldes im Antragsvordruck dürfte - schon wegen fehlenden Problembewusstseins der Antragsteller - dazu keine tragfähige Entscheidungsgrundlage sein.

B.

Die nach den unter A. ausgeführten rechtlichen Voraussetzungen hat der Kläger erfüllt. Die dazu erforderlichen Tatsachen sind aufgrund freier richterlicher Beweiswürdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens gemäß §§ 128, 202 SGG iVm § 294 der Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht, d.h. überwiegend wahrscheinlich, was gemäß § 3 WGSVG und § 4 FRG als Beweismaß für Ansprüche nach dem ZRBG ausreicht. Unter Berücksichtigung aller für den Einzelfall bedeutsamen Umstände stellt der Senat hier jeweils im Sinne einer guten Möglichkeit Folgendes fest:

I. 1. Im Ort Tluste bestand im streitbefangenen Zeitraum ein durch besondere Kennzeichnung und nur durch ein Tor zu betretender jüdischer Wohnbezirk. Wer ihn ohne Begleitung eines jüdischen Polizisten verließ, setzte sich, so wie es der Kläger im Falle seines Vaters glaubhaft geschildert hat, der Gefahr schwerster körperlicher Misshandlungen oder gar des Todes aus. Dass die sogenannte Keom-Liste für Tluste lediglich ein Zwangsarbeiterlager erwähnt, steht der Annahme der Existenz des Ghettos nicht entgegen. Die Beklagte hat ihren entsprechenden Einwand nach dem Hinweis des Sachverständigen Prof. Dr. Golczewski auf den geringen Beweiswert der Keom-Liste nicht näher substantiiert. Demgegenüber haben die vom Sachverständigen ausgewerteten Quellen des überlebenden Zeitzeugen Baruch Milch sowie das wissenschaftliche Werk von Pohl und von Gudrun Schwarz ein deutlich höheres fachwissenschaftliches Gewicht. Das Sachverständigengutachten von Prof. Dr. Golczewski ist auf dieser Grundlage in sich stimmig, überzeugend begründet und beruht auf der umfassenden Auswertung des neuesten Stands der Forschung seines Fachgebiets. Prof. Dr. Golczewski hat zu den spezifischen, für diese Fallgestaltung relevanten historischen Umständen umfangreich geforscht sowie publiziert und ist in diesem Gebiet eine international anerkannte Autorität. Seine Fachkunde stellt auch die Beklagte nicht in Abrede. Letzte Zweifel an der Existenz des Ghettos sind aus Sicht des Senats durch die Untersuchung jüdischer Gräber durch eine US-Kommission im Jahre 1996 sowie die dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Golczewski beigefügten Luftbildaufnahmen der Deutschen Luftwaffe aus dem Jahre 1943 ausgeräumt, auf der die Überreste des Ghettos erkennbar sind.

Hinweise darauf, dass sich der Kläger im streitbefangenen Zeitraum nicht im Ghetto selbst, sondern außerhalb in einem "privilegierten" Zwangsarbeiterlager aufgehalten haben könnte, sind durch die persönliche Anhörung des Klägers zur Überzeugung des Senates widerlegt. Schon im erstinstanzlichen Verfahren hat der Kläger angegeben, täglich von jüdischer Polizei bewacht abends in das Ghetto zurückgekehrt zu sein. Er hat auch glaubhaft bestätigt, innerhalb des Ghettos mit seinen Eltern und Geschwistern zusammengelebt zu haben. Für die Richtigkeit seiner Darstellung spricht auch eine Begebenheit, die der Kläger geschildert hat, ohne dass es in diesem Zusammenhang erkennbar auf die Frage des Aufenthalts im Ghetto ankam. Der Kläger hat nämlich berichtet, er sei zum Zeitpunkt der großen "Aktion" im Mai 1943, die nachts um 3.00 Uhr begann, im Ghetto gewesen und habe sich dabei gemeinsam mit seiner Schwester in den Wald geflüchtet. Bei einem dauerhaften Aufenthalt in dem in der Keom-Liste genannten, 2 bis 3 km entfernten Zwangsarbeiterlager wäre er zu diesem Zeitpunkt nachts nicht im Ghetto gewesen.

2. Der Kläger war während des streitbefangenen Zeitraums bei dem örtlichen Judenrat, also einer "Ghettoautorität" im Sinne des § 1 ZRBG beschäftigt. Er war auch in dessen "Betrieb", der durch die systematische Vermittlung von Arbeitskräften an deutsche Bedarfsträger, insbesondere auf den als kriegswichtig eingestuften Koksagysplantagen, gekennzeichnet war, im notwendigen Umfang organisatorisch eingegliedert. Auf die Existenz eines etwaigen arbeitsrechtlichen Verhältnisses zu den deutschen Bedarfsträgern oder auch zum Judenrat kommt es nach der oben genannten Rechtsprechung nicht an. Die erforderliche gewisse Dauerhaftigkeit seiner Eingliederung ergibt sich für den Kläger schon daraus, dass er für seine Tätigkeiten auch angelernt wurde, so insbesondere für das Pflügen und die Versorgung der Pferde durch den von ihm noch erinnerten ukrainischen Vorarbeiter.

3. Die Beschäftigung hat der Kläger aus eigenem Willensentschluss (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a) ZRBG) ausgeübt, denn er hat sich nach seinen glaubhaften Bekundungen bei der persönlichen Anhörung selbst beim örtlichen Judenrat um die Arbeit bemüht, um so gemeinsam mit seiner ebenfalls arbeitenden Schwester für den Familienunterhalt etwas verdienen zu können. Hinweise darauf, dass der Kläger unter Bedrohung für Leib oder Leben unmittelbar zur Arbeit gezwungen wurde, gibt es nicht. Die Tatsache, dass die nicht arbeitenden Bewohner des Ghettos keine Coupons und Verpflegung am Arbeitsplatz erhielten, sondern hungern mussten, steht der Freiwilligkeit der Beschäftigung des Klägers im Sinne des ZRBG, wie oben ausgeführt, nicht entgegen. Auch eine Bewachung bei der Arbeit, die als Indiz für eine Unfreiwilligkeit zu werten wäre, hat es nach den Bekundungen des Klägers auf den Koksagys-Feldern nicht gegeben. Das ist schon angesichts ihrer schieren Größe und des weiten Raums der dortigen Landschaft glaubhaft. Die Begleitung zur Feldarbeit durch einen jüdischen Polizisten schließlich war eine typische Maßnahme zur Dokumentation und Aufrechterhaltung der allgemeinen Ghettodisziplin und daher ebenfalls kein gegen die Freiwilligkeit der Arbeit sprechender Umstand.

4. Der Kläger erhielt auch ein Entgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b) ZRBG für seine Arbeitsleistung , das diese deutlich im vom Senat als erforderlich angesehenen Umfang von der Zwangsarbeit unterschied. Gemeinsam mit seiner Schwester genügten die ihm für seine Arbeit vom Judenrat ausgehändigten Coupons nämlich dafür, seine weitere Familie (Vater; Mutter, zwei jüngere Geschwister) bis zur "großen Aktion" im Mai 1943 zu ernähren. Dies hat der Kläger in ersten eidesstattlichen Versicherungen bereits im erstinstanzlichen Verfahren angedeutet und in der mündlichen Anhörung nochmals näher bestätigt. Gerade das auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der Familie außer dem Verdienst des Klägers und seiner Schwester noch weitere Grundlagen zum Leben zur Verfügung standen, berichtete signifikante Erlebnis vom gescheiterten Versuch seines Vaters, in Dörfern außerhalb Arbeit zu finden, zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Familie des Klägers damals tatsächlich nichts weiter zum Leben hatte. Die weitere Antwort des Klägers, dass es denjenigen ursprünglichen Bewohnern von Tluste besser ging, die nicht wie seine Familie in das dort errichtete Ghetto hatten umziehen müssen, untermauert diese Beurteilung. Auch der Sachverständige Prof. Dr. Golczewski hat unter Hinweis auf die historischen Quellen (Baruch Milch) dargelegt, dass im Ghetto in Tluste im Winter 1942/43 Hunger herrschte, den zu lindern daher allein die Aufnahme einer Arbeit eine gewisse Chance für die Betroffenen und ihre Familien bot. Hinweise auf eine atypische besonders gute und hiervon positiv abweichende Lage der Familie des Klägers in Tluste sind nicht ersichtlich, zumal seine dorthin aus Ostecko deportierten Angehörigen - anders als die dort ursprünglich ansässigen Bewohner - über keine eigenen Vorkriegsvorräte verfügen konnten.

II. Das Vorbringen des Klägers aus der persönlichen Anhörung wird nicht nur generell vom schriftlichen und mündlichen Gutachten des historischen Sachverständigen Prof. Dr. Golczewski gestützt. Es ist auch nach der tatrichterlichen Einschätzung des erkennenden Senats individuell glaubhaft. Es erfüllt alle maßgeblichen Kriterien für die subjektive Glaubhaftigkeit von Aussagen vor Gericht (Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Band I Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, Band II, Vernehmungslehre 1995, Rn 231 ff; Arntzen aaO S. 25 ff). Diese Regeln gelten nicht nur für Zeugen, sondern auch für die Angaben von Beteiligten des Verfahrens (Bender/Nack aaO Rn 551).

1. Die von jeder Selbstbegünstigungstendenz freie Aussagemotivation des Klägers ist im Termin durchgängig deutlich geworden, nämlich daran, dass es ihm erkennbar darum ging, vor Gericht einen umfassenden und zutreffenden Bericht im Sinne einer Lebensbeichte abzulegen. Bezeichnend ist dafür, dass der Kläger, nachdem der Berichterstatter zu dem streitbefangenen Zeitraum keine weiteren Fragen mehr hatte, selbst sein weiteres Verfolgungsschicksal bis zur Befreiung durch die Rote Armee zu Ende erzählen wollte. Dies entspricht genau der auch von den Sachverständigen Ambach und Prof. Dr. R in ihren vorbereitenden Gutachten generell in Bezug auf jüdische NS-Opfer als Zeugen vor Gericht geschilderten Aussagemotivation (s. auch Ambach/Köhler, Lublin-Majdanek, Das Konzentrations- und Vernichtungslager im Spiegel von Zeugenaussagen, Juristische Zeitgeschichte, Band 12, Seite XVI; Quindeau, Trauma und Geschichte, Interpretationen autobiographischer Erzählungen von Überlebenden des Holocaust, 1995, 267). Mit Blick auf die geringe Zahl Überlebender aus seinem Herkunftsort Ostecko empfindet sich der Kläger insoweit - mit Recht - als wichtigen Zeitzeugen, der etwas von Bedeutung für die Nachwelt auch jenseits des ganz persönlichen Schicksals zu berichten hat.

2. Sein Vorbringen war auch quantitativ außerordentlich detailreich und voller spezifischer Umstände, angefangen von der Zeit in Ostecko mit dem Brückenabriss am zugefrorenen Dnjestr über die Feldarbeit auf den Koksagys-Plantagen bis hin zu den Erlebnissen kurz vor der Befreiung durch die Russen. Der Kläger schilderte auch eigenpsychische Vorgänge wie z. B. die damalige Unmöglichkeit, als 18-jähriger Jude mit dem Gutsleiter G überhaupt nur zu sprechen. Er hat seine Schilderung phänomengebunden abgegeben, d.h. seine Aussage hat sich auf das rein äußerliche Phänomen seines Beobachtungsgegenstandes beschränkt. Typisches Beispiele hierfür waren die einschränkenden Angaben des Klägers zu dem, was die Deutschen ihnen damals als Juden über den Zweck des Koksagys-Anbaus gegeben hatten ("man hat uns gesagt, dass man daraus Gummi machen könne, genau weiß ich es nicht") oder sein Unverständnis gegenüber den abstrakteren historischen Fragen des Sachverständigen nach seinem "Status" oder der Übernahme der Lager durch die SS. Auch originelle Einzelheiten wie den großen Leibesumfang des Deutschen G auf seinem weißen Pferd und negative Komplikationsketten sind in der Aussage des Klägers enthalten ("wir wussten damals noch nicht was kommt" in Bezug auf die Frage des Sachverständigen nach dem Beginn der Verfolgung in der Zeit vor Errichtung des Ghettos). Ferner enthält sie inhaltliche Verschachtelungen ("ich habe bei den Pferden gearbeitet, das hat mir später das Leben gerettet, das wird sich am Ende meiner Geschichte zeigen"). Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Kläger Erlebnisse berichtet, die mittlerweile 60 Jahre zurückliegen, so dass seine Gedächtnis- und Erinnerungsleistung eingeschränkt ist. Es gibt aber keinen allgemeinen Erfahrungssatz dahingehend, dass man sich an über 50 Jahre zurück liegende Geschehnisse nicht erinnern kann (BSG SozR Nr. 27 zu § 162 SGG). Die Annahme, die zeitnäheren Angaben genössen immer den Vorrang vor den späteren, wäre demgegenüber ein Verstoß gegen das Verbot vorweggenommener Beweiswürdigung (so BSG, Beschluss v. 12. April 2005 - B 2 U 272/94 B).

3. Hinweise darauf, dass der Kläger schematisch wiederholt hätte, was er zuvor gegenüber Yad Vashem und/oder US-amerikanischen Historikern erzählt hat, bzw. darauf, dass es hierdurch zu einer nachträglichen Überlagerung unterschiedlicher Gedächtnisschichten gekommen wäre, haben sich in der Anhörung nicht gefunden. Vielmehr war der unverfälschte Gedächtniskern im Bericht des Klägers für den erkennenden Senat deutlich erkennbar. Auch die Beklagte hat ausdrücklich eingeräumt, dass der Kläger in der Anhörung vor dem Berichterstatter aufrichtig bemüht war, vor Gericht die Wahrheit zu sagen. So hat er auch Umstände, die früher einmal schriftlich geschildert hatte, unabhängig davon, ob sie seinem Anspruch günstig scheinen, wie etwa den Namen Maskowietzki oder seine Angst, bei Ende der Brückenabbrucharbeiten in Ostecko von den Deutschen erschossen zu werden, im Termin auf die jeweiligen Fragen des Berichterstatters als nicht mehr erinnerlich gekennzeichnet und damit deutlich gemacht, dass er nur das bekundet hat, woran er sich aktuell präsent erinnern konnte. Bei seinen Erinnerungslücken handelt es sich ebenso wie bei den Erinnerungsergänzungen um einen typischen gedächtnispsychologischen Vorgang, wie ihn die Sachverständige Prof. Dr. R in ihrem vorbereitenden Gutachten (das nicht zuletzt auch zum Zwecke der späteren Beweiswürdigung eingeholt wurde) näher geschildert hat und wie ihn auch Bender/Nack (aaO Rn 110 ff) beschreiben. Im Übrigen hat der Kläger lebhaft gesprochen, mit ausdrucksvoller Gestik und Körpersprache, wobei er auch den Augenkontakt zum Berichterstatter gesucht und gehalten hat. Dass die Schilderung eigener Gefühle - die nach Arntzen ein wichtiges generelles Glaubhaftigkeitsmerkmal ist (aaO S. 27; 68 ff) - im Bericht des Klägers dabei dennoch kaum vorkam, entspricht dem nach den Untersuchungen der Sachverständige Prof. Dr. R bei NS-Opfern vorherzusehenden spezifischen Befund. Als der Kläger jedoch über die Erschießung seiner nächsten Familienangehörigen sprach, war der Schmerz in seiner Stimme und im Gesicht deutlich zu bemerken, und er konnte erst nach einem Moment der Stille im Sitzungssaal weitersprechen.

III. Soweit die Beklagte die vom Berichterstatter vor Ort angewandte Vernehmungstechnik beanstandet, verkennt sie die rechtlichen Vorgaben richterlichen Handelns, wie sie allgemein für jede Vernehmung vor Gericht und besonders für die Anhörung von NS-Opfern gelten. So ist das Gebot der Freundlichkeit, des Interesses und der Anteilnahme gegenüber gerichtlichen Auskunftspersonen in der richterlichen Vernehmungslehre allgemein anerkannt (Bender-Nack aaO Rn. 502 ff; Balzer, Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess, 2001, 159 ff). Freundlichkeit im Umgang mit Auskunftspersonen stärkt sogar den Beweiswert ihrer Angaben, denn sie erhöht die Hemmschwelle, dem Richter mit Bedacht etwas Unwahres zu sagen (Balzer aaO Rn 161). Die Erfahrungen des Gerichts mit Anhörungen in Israel haben im Übrigen belegt, dass bei Anwendung der Gebote zugewandter richterlicher Vernehmungstechnik und der durch Frau Prof. Dr. R aufgezeigten Vorgaben eine Überforderungssituation oder gar Retraumatisierung der befragten NS-Opfer, die zunächst auch von der Beklagten befürchtet worden war, vermieden werden kann. Dabei ist Freundlichkeit nicht mit einer unkritischen Haltung zu verwechseln, zumal nicht in der anschließenden Beweiswürdigung. Auch kritische Vorhalte können - und sollen - aber vor Gericht in möglichst milder Form vorgebracht werden (Bender/Nack aaO Rn 505, 594).

Dass den anwesenden Beteiligten schließlich vom Berichterstatter jeweils noch im Termin eine Rückmeldung über dessen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit gegeben wurde, entspricht ebenfalls allgemeinen richterlichen Grundsätzen und dem Gebot der Verfahrensfairness (Bender/Nack a. a. O. Rdnr. 511, 497). Auch nach den vorbereitenden Hinweisen der Sachverständigen Prof. Dr. R war es geboten, den persönlichen Eindruck des Befragers zeitnah festzuhalten. Aus rechtsstaatlichen Gründen (Art 103 GG iVm §§ 107, 62 SGG) ist dies offen im Termin geschehen und zu Protokoll genommen worden.

IV. Das Vorbringen des Klägers wird durch die von ihm bzw. seinen Bevollmächtigten in das Verfahren eingeführten eidesstattlichen Versicherungen und/oder seine früheren Angaben im BEG-Verfahren nicht durchgreifend in Frage gestellt.

1. Zwar stehen die eidesstattlichen Versicherungen des Klägers zum Teil im Widerspruch zu seinen Angaben während der Anhörung (Überführung in das ZAL Tluste). Den Angaben in der Anhörung gebührt indessen im Rahmen der Beweiswürdigung der Vorzug. Die eidesstattlichen Versicherungen des Klägers sind bei weitem nicht so detailliert wie seine späteren Schilderungen und decken auch nicht deren gesamten Inhalt mit ab. Dass der Kläger sich während der Anhörung nicht mehr an alle Angaben aus den eidesstattlichen Versicherungen erinnern konnte, spricht dabei eher für seine Glaubwürdigkeit (vgl. Arntzen aaO S. 57). Zudem kann der Senat die Entstehungsumstände der eidesstattlichen Versicherungen - anders als die der richterlichen Anhörung - nicht genau überprüfen. Insbesondere ist unklar, ob dem Kläger (bzw. dem Dolmetscher und dem Aufnehmenden der Erklärung) die Bedeutung des Rechtsbegriff "ZAL" bei der Abfassung bekannt war.

2. Ähnlich verhält es sich mit den eidesstattlichen Erklärungen aus den BEG-Verfahren.

Diese sind zunächst im Wege des Urkundsbeweises verwertbar. Datenschutzrechtliche Gesichtspunkte stehen einer Beiziehung und Verwertung nicht entgegen (vgl insoweit BSG, Beschluss v. 31. Mai 2007 - B 13 R 37/07 B -).

Unmittelbar erbringen diese Urkunden allerdings gemäß § 118 SGG i.V.m. § 439 Abs. 2 ZPO lediglich darüber Beweis, dass die in den BEG-Verfahren enthaltenen Erklärungen in den 50er Jahren so vom Kläger und den Zeugen abgegeben und von den Entschädigungsbehörden gemäß §§ 176, 40 Abs. 3 BEG im Rahmen ihrer Amtsermittlung in Empfang genommen worden sind. Ein Beweis über die Wahrheit ihres Inhalts ist damit weder über § 438 ZPO noch über § 418 Abs. 3 ZPO verbunden, denn es handelt sich nicht um öffentliche Urkunden. Eine unmittelbare Bindungswirkung für Dritte entfalten auch die später auf dieser Grundlage getroffenen Entscheidungen der Entschädigungsbehörden nicht.

Für das heutige sozialgerichtliche Verfahren folgt daraus die Pflicht, die damaligen Erklärungen selbständig zu würdigen. Dabei ist zunächst aufzuklären, wie genau diese entstanden sind und - wie bei jeder Analyse von Erklärungen oder Texten - in welchem rechtlichen und zeitgeschichtlichen Zusammenhang sie standen (exemplarisch: Senatsurteil v. 29. Juni 2005 - L 8 RJ 97/02). Dabei ist für BEG-Akten zu berücksichtigen, dass es damals im Rahmen des § 43 BEG um Fragen der Freiheitsentziehung ging und (heute rentenrechtlich differenziert zu betrachtende) Zeiträume zusammengefasst werden konnten. Um eine zeitnahe "frische" und "unverfälschte" Schilderung des Verfolgungsschicksals wie z.B. gegenüber einem alliierten Betreuungsoffizier unmittelbar nach dem Krieg (zu einem solchen - seltenen - Fall: OLG München in: Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 1966, 174) handelt es sich in den BEG-Erklärungen aus den 50er Jahren nicht. Vorliegend ist darüber hinaus bezogen auf die Details der damaligen Schilderungen des Klägers und der beiden Zeuginnen aus dem BEG-Verfahren Skepsis angebracht, weil es sich um drei Aussagen verschiedener Personen handelt, die in auffälliger, nahezu wortwörtlicher Übereinstimmung stehen (dazu Balzer aaO Rn 338).

Im Ergebnis kommt es daher vorliegend auf den zentralen Aussageinhalt der eidesstattlichen Versicherungen des Klägers an, der in Beziehung zu seinem Vorbringen in der richterlichen ausführlichen Anhörung zu setzen ist. Hier gibt es bezogen auf den streitbefangenen Zeitraum bei allen Unterschieden im einzelnen einen im Wesentlichen übereinstimmenden Kern, nämlich hinsichtlich des Aufenthalts im Ort Tluste, des Zeitraums von Ende 1941 bis Anfang 1944 und der allgemeinen Lebensumstände in Gestalt der Arbeit auf den Koksagys-Plantagen. Die verbleibenden Widersprüche im Detail können durch die o.g. Hintergründe - z.B. hinsichtlich wegen früher summarischen anwaltlichen Vortrags zu § 43 BEG - sowie durch im Zusammenhang mit der Verwendung verschiedener Sprachen (hebräisch, polnisch, ukrainisch, deutsch) stehende Kommunikationsbrüche erklärbar sein und stehen daher der Glaubhaftigkeit der heutigen Erklärungen des Klägers im Sinne einer guten Möglichkeit nicht entgegen. Verbleibende Zweifel sind bei dem geforderten Beweismaß unschädlich (BSGE 8, 159).

C.

Soweit die Beklagte schließlich gegen den Beweiswert der persönlichen Anhörung des Klägers auch formal-rechtliche Bedenken geltend macht, greifen diese nicht durch.

1. In prozessualer Hinsicht gesehen handelte es sich um eine richterliche Anhörung gemäß § 106 SGG, die in eine konsularische Beweisaufnahme gemäß § 202 SGG i.V.m. § 363 ZPO in entsprechender Anwendung und den Art 15 ff ZRHG eingebettet war. Die Erlaubnis dazu wurde vom Staat Israel vermittelt durch die Deutsche Botschaft nun erstmals gemäß Art 15 - 18 ZRHG erteilt (allgemein hierzu Hecker/A-Chorus, Handbuch der konsularischen Praxis, 2. Auflage § 5; Balzer aaO Rn412 ff). Erst diese Entscheidung der israelischen Regierung hat die persönliche Anhörung des Klägers, der aus zu respektierenden gesundheitlichen und/oder geschichtlichen Gründen nicht nach Deutschland reisen kann, durch den erkennenden Senat ermöglicht. Dabei ist echtes Beweismittel im Sinne des Strengbeweises nur das im Termin durch den Historiker Prof. Dr. Golczewski erstattete Sachverständigengutachten gemäß § 106 Abs. 2 Nr. 4 SGG. Dieser wurde gemäß § 404a Abs. 1 ZPO vor dem Termin nochmals durch den Berichterstatter für seine Aufgabe angeleitet. Eines besonderen Einweisungstermins gemäß § 404a Abs. 4 ZPO bedurfte es nicht. Entgegen der Einschätzung der Beklagten hat keine (in der Tat im sozialgerichtlichen Verfahren nicht zulässige) eides- und damit strafbewehrte Parteivernehmung gemäß § 455 ZPO stattgefunden. Ungeachtet dessen ist für das sozialgerichtliche Verfahren anerkannt, dass das persönliche Beteiligtenvorbringen aus Anhörungsterminen eine wichtige Erkenntnisquelle und umfassend richterlich zu würdigen ist (stellvertretend: Leitherer, in: Meyer-Ladewig SGG, 8. Auflage 2005, § 103 Rn 12, und § 106 Rn 15 mwN).

2. Die Protokollierung der Anhörung ist gemäß § 160a Abs. 2 ZPO und durch Wiedergabe im Tatbestand dieses Urteils erfolgt (zu letzterer Möglichkeit schon: Reichsgericht in Zivilsachen, 11, 239 und BGH NJW 1987, 1200 mwN). Ein Fall der ortsverschiedenen Videokonferenzschaltung nach § 128a ZPO (bei dem die Videoaufzeichnung nach dem Termin hätte vernichtet werden müssen) lag nicht vor. Die Videoaufzeichnung war demgemäß nach § 179 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) zu Verfahrenszwecken, insbesondere der späteren Beweiswürdigung durch den Senat zulässig (Kissel, GVG, 4. Auflage 2005, § 169 Rdn. 73; BT-Drs. 4/178, S. 46, BGH in Strafsachen 19, 193, 195; zu Originaltonaufnahmen: Bender-Nack a.a.O., Rn 832, 837). Diese Form der Dokumentierung hat die spätere Bewertung der Videoaufzeichnungen durch den gesamten Senat ermöglicht und diesem einen persönlichen Eindruck vom Kläger vermittelt. Zudem erlaubt sie eine genauere Analyse der Aussage (vgl. Bender-Nack aaO Rdn. 837).

3. Soweit die Beklagte ferner einwendet, die Übersetzung im Termin sei nicht ordnungsgemäß erfolgt, so sind dafür keine Hinweise ersichtlich. Vielmehr genießt die dem Gericht von der deutschen Botschaft empfohlene Dolmetscherin Frau Aiger das besondere Vertrauen deutscher Dienststellen und wird regelmäßig bei deutschen Staats- und Regierungsbesuchen in Israel für den Bundespräsidenten, die Bundeskanzlerin, den Außenminister und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens herangezogen. Sie verfügt darüber hinaus über eine akademische Übersetzer- und Dolmetscherausbildung und wurde im Termin ordnungsgemäß über ihre Rechte und Pflichten als Dolmetscherin belehrt und vereidigt. Dass sie sodann konsekutiv und nicht simultan gedolmetscht hat, entsprach der ihr vor dem Termin vom Berichterstatter gegebenen Weisung und war naturgemäß mit der Notwendigkeit von Notizen und sprachlichen Zusammenfassungen in der Wiedergabe verbunden (dazu auch: Jessnitzer, Handbuch für die Praxis der Dolmetscher, Übersetzer und ihrer Auftraggeber, 1982. S. 1).

4. Soweit die Beklagte schließlich meint, eine persönliche Anhörung von Klägern in Israel sei unverhältnismäßig und ihr wegen des damit verbundenen organisatorischen Aufwands nicht zuzumuten, geht auch dieser Einwand fehl. Die Entscheidung über die prozessleitenden Maßnahmen liegt gemäß §§ 103, 106 SGG allein beim Gericht. Der besondere Beweiswert der klägerischen Aussage war im Ergebnis darüber hinaus auch vorliegend streitentscheidend, denn allein auf den Akteninhalt gestützt, hätte sich das Ausmaß des vom Kläger für seine Arbeit im Ghetto erhaltenen Entgelts, über das nur er selbst Auskunft geben konnte, nicht feststellen lassen.

D.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der erkennende Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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