L 17 P 27/98

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 75 P 45/97
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 17 P 27/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Mukoviszidose Pflegebedarf von Kindern Pflegestufe II
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. Juni 1998 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Pflegegeld.

Die 1984 geborene Klägerin beantragte im November 1994, ihr ab April 1995 ein Pflegegeld aus der gesetzlichen Pflegeversicherung zu gewähren.

Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). In dessen Auftrag erstellte der Kinderarzt T am 2. Januar 1996 ein Pflegegutachten. Als pflegebegründende Diagnose nannte der Gutachter: Mukoviszidose mit exokriner Pankreasinsuffizienz. Der Gutachter sah einen Hilfebedarf bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung in Form einer Teilvorbereitung, bei der Mobilität im Rahmen des Aufstehens und Zubettgehens im Sinne eines Antriebgebens. Dieser Hilfebedarf sei jedoch altersentsprechend. Einen Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung verneinte er. Insgesamt kam er zum Ergebnis, dass der Grundpflegebedarf nicht wesentlich erhöht sei gegenüber einem gleichaltrigen gesunden Kind. Er empfahl die Ablehnung des Antrags.

Durch Bescheid vom 9. Januar 1996 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag auf Pflegegeld ab.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und machte geltend, infolge ihrer Krankheit müsse sie viermal am Tag inhalieren. Während dieses Zeitraumes müsse die Mutter ständig anwesend sein. Die Inhalationen dauerten dabei ungefähr 10 bis 15 Minuten.

Des Weiteren müsse eine autogene Drainage durchgeführt werden, die dazu diene, dass der Schleim sich löse und ausgehen könne. Diese Drainage müsse zweimal am Tag unter Anleitung und Beaufsichtigung der Mutter durchgeführt werden und dauere jeweils ungefähr 10 bis 20 Minuten.

Zur Unterstützung des Abhustens müsse die Klägerin zweimal täglich für ca. eine halbe Stunde besondere Turnübungen unter Anleitung und Beaufsichtigung der Mutter durchführen. Das ergebe einen weiteren Pflegeaufwand von einer Stunde.

Die Beklagte holte eine erneute gutachtliche Stellungnahme des MDK ein, die die Ärztin L nach erneuter Stellungnahme von T abgab. Der MDK blieb bei der Empfehlung, Pflegegeld nicht zu gewähren. Im Nachgang zu ihrem Widerspruch machte die Klägerin noch zusätzlich geltend, sie benötige auch Hilfe und Aufsicht beim Duschen, und zwar zweimal täglich 5 Minuten. Für das anschließende Einsalben aufgrund eines endogenen Ekzems würden ebenfalls jeweils 5 Minuten an Hilfe benötigt. Für die Anleitung, Aufsicht und Hilfe bei der Zahnpflege drei- bis fünfmal täglich je 5 Minuten und als Hilfe beim Kämmen vier- bis sechsmal täglich je 5 Minuten. Da gleichaltrige gesunde Kinder die genannten Verrichtungen vollständig selbst verrichten könnten, handele es sich bei den jeweiligen Zeiten ausschließlich um den behinderungsbedingten Mehrbedarf.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1996 zurück. Sie bezog sich dabei auf die Stellungnahme des MDK.

Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht einen Befundbericht der behandelnden Kinderärztin/Allergologin Dr.J H eingeholt und ein Pflegetagebuch erstellen lassen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 5. Juni 1998 hat das Gericht darüber hinaus die Lehrerin und die Physiotherapeutin der Klägerin als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 5. Juni 1998 Bezug genommen.

Durch Urteil vom 12. Juni 1998 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. April 1995 Leistungen der Pflegestufe II zu erbringen.

Die Klägerin erfülle die Voraussetzungen der Pflegestufe II nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgesetzbuches Elftes Buch (SGB XI), weil der erforderliche Pflegebedarf mehr als drei Stunden betrage, wovon auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfielen. Zwar seien grundsätzlich Leistungen der Behandlungspflege nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers kei-ne Leistungen der Pflegeversicherung, sondern würden weiterhin im Rahmen der Krankenversicherung erbracht. Anders sei dies jedoch, wenn wie im Falle der Mukoviszidoseerkrankung Störungen von Vitalfunktionen vorlägen und die Hilfeleistung primär der Aufrechterhaltung dieser Vitalfunktionen diene. Die Betroffenen könnten dann nämlich die Katalogverrichtungen des § 15 SGB XI nur durchführen, wenn sie entsprechende Hilfeleistungen bei den Vitalfunktionen erhielten, wobei der erforderliche zeitliche Zusammenhang zu Grundpflegeverrichtungen, etwa zwischen dem Aufstehen und Zubettgehen und den zur Schleimentsorgung dienenden Maßnahmen zu sehen sei (unter Verweis auf BSG vom 17. April 1996 - 3 RK 28/95 -). Auch in den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen über die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Pflegebedürftigkeits-Richtlinien -PflRi- vom 7. November 1994) sei insoweit noch ausdrücklich bestimmt gewesen, dass zur Hilfe in Form der Unterstützung bei kranken oder behinderten Kindern "auch sonstige pflegerische Maßnahmen durch die Pflegeperson, wie z.B. das Abklopfen bei Mukoviszidose-Kindern gehörten (PflRi 3.5.1). In der Neufassung der Begutachtungsrichtlinien vom 21. März 1997, Punkt 5.0 II sei hierzu zwar ausgeführt, über das in den Pflegebedürftigkeits-Richtlinien unter Punkt 3.5.1 genannte Beispiel (Abklopfen zwecks Sekretelimination bei Mukoviszidose) hinaus bleibe nach dem Willen des Gesetzgebers derzeit kein Raum für weitere pflegeunterstützende Maßnahmen. Diese Einschränkung auf den bloßen Vorgang des Abklopfens sei jedoch nicht nachvollziehbar. Wenn man davon ausgehe, dass die der Sekretelimination dienenden Maßnahmen grundsätzlich bei Kindern dem Grundpflegebereich zuzuordnen und für den Hilfeaufwand berücksichtigungsfähig seien, so müsse sich diese Einstufung auch auf die vergleichbaren pflegeunterstützenden Maßnahmen erstrecken, die ebenfalls den Schleimtransport unterstützten bzw. ermöglichen sollten. Die der Grundpflege zuzurechnenden Übungen zur Sekretelimination erforderten nach den in jeder Hinsicht überzeugenden Ausführungen der Physiotherapeutin H1 morgens eine Stunde, nach der Schule eine bis eineinhalb Stunden und abends nochmals 20 bis 30 Minuten. Der in § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI erforderliche Zeitaufwand von täglich mindestens zwei Stunden für die Grundpflege sei damit erreicht. Der erforderliche Bedarf von Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung bestehe in jedem Fall bereits deshalb, weil zur Verhinderung von Infektionen ein erhebliches Maß an sorgfältiger Desinfektion des Badezimmerbereichs erforderlich sei, den die Klägerin allein nicht ausführen könne.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie verweist darauf, dass das von dem Sozialgericht zitierte Urteil des Bundessozialgerichts noch zur Schwerpflegebedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) ergangen sei. Das mit dem Pflegeversicherungsgesetz verbundene Leistungsrecht basiere nicht auf den gleichen bzw. vergleichbaren Grundvoraussetzungen. Maßnahmen der Behandlungspflege seien durch den Gesetzgeber bewusst in § 14 SGB XI nicht aufgenommen worden. Zeiten für Inhalationen, die Atemdrainage und Atem- und Bewegungsübungen seien deshalb in der Pflegeversicherung nicht berücksichtigungsfähig. Der Senat hat die Beteiligten auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 7. August 1998 - B 10 RK 4/97 R- und vom 29. April 1999 - B 3 P 13/98 R - sowie B 3 P 12/98 R - hingewiesen und Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. Juni 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen. Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.

In der mündlichen Verhandlung vom 15. März 2000 hat der Senat die Mutter der Klägerin zum Umfang des Pflegebedarfs der Klägerin persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Akten des Sozialgerichts Berlin zum Aktenzeichen S 75 P 45/97 haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf ein Pflegegeld.

Der Anspruch auf Pflegegeld, den die Klägerin seit dem Inkrafttreten des Leistungsrechts der Pflegeversicherung am 1. April 1995 geltend macht, setzt voraus, dass Pflegebedürftigkeit im Sinne des § 14 SGB XI zumindest in einem Ausmaß vorliegt, das in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI (in der Fassung des Ersten SGB XI-Änderungsgesetzes vom 14. Juni 1996) festgelegt ist. Die Anforderungen an das zeitliche Ausmaß des Pflegebedarfs in der Zeit bis zum Inkrafttreten der Gesetzesänderung waren nicht anders (vgl. BSG in SozR 3-3300 § 15 Nr. 1).

Nach § 15 Abs. 1 SGB XI sind pflegebedürftig im Sinne des SGB XI solche Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer zumindest in erheblichem Maße der Hilfe bedürfen. Zu berücksichtigen ist hierbei ausschließlich der Umfang des Pflegebedarfs bei den gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen, die in Absatz 4 der Vorschrift ausdrücklich aufgeführt sind und in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Grundpflege) sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung aufgeteilt werden.

Der bei der Klägerin anfallende tägliche Hilfebedarf übersteigt nicht den Grenzwert von 45 Minuten, der nach § 15 Abs. 3 Ziffer 1 in der Pflegestufe I im Bereich der Grundpflege überschritten werden muss. Nach der Einschätzung des Gutachters T und den darauf fußenden Ausführungen der ärztlichen Gutachterin U, die diese im sozialgerichtlichen Verfahren für den MDK abgegeben hat, hat die Klägerin im Bereich der Körperpflege einen täglichen Hilfebedarf im Sinne einer Kontrolle bzw. Impulsgabe von 5 bis 10 Minuten. Das stimmt auch überein mit dem Ergebnis der Vernehmung der Zeugin M, die vor dem Sozialgericht angegeben hat, die Klägerin benötige im Bereich der Körperpflege keine Hilfe. Auch die Darm- und Blasenentleerung werde selbständig vorgenommen. Hilfe bei der Aufnahme der Ernährung braucht die Klägerin nach der Aussage der Zeugin M ebenfalls nicht. Allerdings kann es erforderlich sein, dass auch insoweit eine gewisse Kontrolle stattfindet und Impulsgaben erfolgen. Nach der Einschätzung der ärztlichen Gutachterin U sind dafür 5 bis 10 Minuten täglich zu veranschlagen. Dem schließt sich der Senat an.

Weiterer Hilfebedarf durch das tägliche Inhalieren, die Atemdrainage und sonstige Atem- und Bewegungsübungen, die das Sozialgericht dem Bereich der Grundpflege zugeordnet hat, sind nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht berücksichtigungsfähig. Es handelt sich hierbei um Maßnahmen der sogenannten Behandlungspflege, die, wie das Bundessozialgericht (Entscheidung vom 29. April 1999 - B 3 P 13/98 R - und - B 3 P 12/98 R -) entschieden hat, nur dann ausnahmsweise der Grundpflege zugerechnet werden können, wenn sie notwendigerweise mit einer der Katalogverrichtungen des § 14 Abs. 4 SGB XI im unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang aus medizinisch-pflegerischen Gründen verrichtet werden müssen. Dass diese Voraussetzungen hier vorliegen, ist nicht ersichtlich. Die genannten Hilfen können, wie das BSG ausdrücklich ausgeführt hat, insbesondere nicht den Verrichtungen "Aufstehen" und "Zubettgehen" zugeordnet werden. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Maßnahmen zur Linderung der Mukoviszidose stets und im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Verrichtung Aufstehen bzw. Zubettgehen durchgeführt werden müssen. Daran ändern auch die Ausführungen der Mutter der Klägerin in ihrer persönlichen Anhörung nichts. Sie hat zwar angegeben, dass es zweckmäßig sei, wenn diese Maßnahmen unmittelbar vor dem Aufstehen vorgenommen würden. Sie hat jedoch keinen Grund dafür benennen können, dass diese Maßnahmen notwendigerweise mit dem Aufstehen verbunden werden müssen. In dem Fall, den das Bundessozialgericht zu entscheiden hatte (Urteil vom 29. April 1999 - B 3 P 13/98 R -), waren diese Maßnahmen morgens nach dem Frühstück vorgenommen worden. Das Bundessozialgericht hat in dieser Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Zusammenhang zwischen einer Maßnahme der Behandlungspflege, wie sie das Inhalieren und Abklopfen des Schleimes darstellt und der Verrichtung "Aufstehen" nicht daraus abgeleitet werden könne, dass die Maßnahme dem Ziel diene, krankheitsbedingte Beeinträchtigungen der Luftwege infolge der Nachtruhe zu beseitigen. Darüber hinaus erfüllte die Klägerin aber auch, wenn man einen Hilfebedarf in diesem Bereich zusätzlich anerkennen würde, nicht die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Ziffer 1 SGB XI; denn der gesamte Vorgang dauert nach den Angaben der Mutter etwa 30 Minuten, wobei die Klägerin das Inhalieren teilweise selbständig vornimmt. Unterstellt, es bestünde insoweit ein Hilfebedarf von täglich 15 Minuten und ein weiterer Hilfebedarf für das von der Mutter der Klägerin geschilderte Abtrocknen des Rückens und Eincremen des Ekzems von weiteren 3 Minuten, dann würde der Hilfebedarf der Klägerin im Grundpflegebereich den erforderlichen Wert von 45 Minuten täglich nicht überschreiten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil ein Zulassungsgrund nach § 160 SGG nicht vorlag.
Rechtskraft
Aus
Saved