L 6 SB 4913/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 2722/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 4913/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 26. Oktober 2004 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers.

Das Versorgungsamt Freiburg (VA) hatte bei dem 1954 geborenen Kläger zuletzt aufgrund des vor dem Sozialgericht Konstanz (S 6 SB 1783/99) abgegebenen und vom Kläger angenommenen Anerkenntnisses vom 4. September 2000 mit Bescheid vom 23. Oktober 2000 einen GdB von 50 ab 18. September 1998 festgestellt.

Am 9. Mai 2001 beantragte der Kläger die Neufeststellung seines GdB. Das VA zog bei der Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg (LVA) mehrere ärztliche Unterlagen bei (u. a. die Gutachten der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. S. vom 25. November 1999 [Verdacht auf Morbus Meniére links, Innenohrschwerhörigkeit links, rezidivierende Wirbelsäulenbeschwerden bei Zustand nach Bandscheibenvorfall C 6/7 und L 4/5], des Arztes für Neurologie und Psychiatrie und Psychotherapeuten Dr. S. vom 14. Februar 2000 [Zustand nach Hörsturz und Menière’scher Erkrankung links, anhaltender Tinnitus links, cervicales und lumbales Reizsyndrom bei bekannten Bandscheibenvorfällen, jedoch ohne neurologische Auffälligkeiten, Normvariante der Persönlichkeit mit psychasthenischen Zügen, Schonhaltung und Neigung, sämtliche Beschwerden psychogen zu überlagert], des Arztes für Orthopädie Dr. S. vom 29. Februar 2000 [chronisch rezidivierende Lumbalgie mit geringer Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule bei deutlicher Spondylarthrose und leichtem subligamentärem Bandscheibenprolaps L 4/5, ohne derzeitige Hinweise auf eine Wurzelkompression sowie Cervicalbrachialgie mit geringer Funktionseinschränkung der Halswirbelsäule bei cervicaler Streckfehlhaltung und Osteochondrose C 5/6, ohne jegliche Hinweise auf eine cervicale Wurzelirritation], des Internisten und Sozialmediziners L. vom 16. März 2000 [Morbus Menière mit Schwerhörigkeit links und Tinnitus, degeneratives HWS- und LWS-Syndrom mit kleinem Bandscheibenvorfall L4/L5, ohne wesentliche Funktionsminderung und ohne neurologische Ausfälle, Grenzwerthypertonie, psychasthenische Persönlichkeitsstruktur, linksbetonte Struma I mit normaler Schilddrüsenfunktion sowie Hypercholesterinämie, anamnestisch] und des Hals-Nasen-Ohren Arztes Prof. Dr. J. vom 9. Februar 2001 [leichtgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit links nach Hörsturz, Tinnitus links, zentral bedingte Gleichgewichtsstörung, allerdings kein Morbus Menière]). Daraufhin wurden in der versorgungsärztlichen (vä) Stellungnahme vom 31. Juli 2001 eine Menière-Krankheit, eine Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen und eine seelische Störung (Teil-GdB 50) sowie degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, ein Bandscheibenschaden und ein chronisches Schmerzsyndrom (Teil-GdB 30) als Behinderungen in Ansatz gebracht und der Gesamt-GdB mit 60 bewertet. Hierauf gestützt stellte das VA mit Bescheid vom 8. August 2001 den GdB mit 60 seit 9. Mai 2001 fest.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7. Januar 2002 zurückwies.

Hiergegen erhob der Kläger am 10. Januar 2002 Klage zum SG. Er legte mehrere ärztliche Unterlagen vor (u. a. die Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. F. vom 7. April 2002 [Vestibularissyndrom, welches keiner typischen Menière-Krankheit entspreche, Hörstörungen, Ohrgeräusche, ein cervicocephales Kopfschmerzsyndrom sowie eine anhaltende, ängstliche Depression von der Art der Dysthymia auf dem Hintergrund einer mit hypochondrischen sowie selbstunsicheren, ängstlich-vermeidenden Zügen ausgestatteten Persönlichkeit], des Neurologen Dr. V. vom 10. Dezember 2002 [degenerative Veränderungen von Bandscheiben und Zwischenwirbelgelenken der Hals- und Lendenwirbelsäule, muskuläres Schmerzsyndrom der Hals- und Lendenwirbelsäule, leichtgradige periphere vestibuläre Erregbarkeitsstörung, depressives Syndrom sowie Hinweise auf eine psychogene Überlagerung mit Aggravationstendenz] und des Hals-Nasen-Ohren Arztes Dr. H. vom 18. November 2003 [geringgradige hochtonbetonte Innenohrschwerhörigkeit rechts, funktionelle Taubheit links, mittelfrequenter Tinnitus sowie vestibuläre Funktionsstörung im Rahmen des Morbus Menières links]. Der Beklagte schlug vergleichsweise die Feststellung des GdB mit 70 ab 9. Mai 2001 vor und legte die vä Stellungnahme von Dr. G. vom 14. April 2004 vor, in welcher dieser eine Menière-Krankheit, eine Taubheit links, ein Ohrgeräusch links und eine seelische Störung (Teil-GdB 60) sowie degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, einen Bandscheibenschaden und ein chronisches Schmerzsyndrom (Teil-GdB 30) als Behinderungen in Ansatz brachte und den Gesamt-GdB mit 70 bewertete. Der Kläger nahm dieses Vergleichsangebot nicht an.

Mit Gerichtsbescheid vom 26. Oktober 2004 änderte das SG den Bescheid vom 8. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Januar 2002 ab, verurteilte den Beklagten, den GdB mit 70 ab 9. Mai 2001 festzustellen und wies die Klage im Übrigen ab. Wegen der Verbindung der Erkrankungen auf Hals-Nasen-Ohren-ärztlichem Fachgebiet mit psychischen Beeinträchtigungen sei es korrekt, die psychische Situation des Klägers integrierend mit zu berücksichtigen und den diesbezüglichen GdB insgesamt mit 60 zu bewerten. Für die degenerative Veränderung der Wirbelsäule, den Bandscheibenschaden und das chronische Schmerzsyndrom sei zutreffend ein Teil-GdB von 30 vergeben worden. Der Gesamt-GdB betrage daher 70.

Gegen den Gerichtsbescheid des SG hat der Kläger am 28. Oktober 2004 Berufung eingelegt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 26. Oktober 2004 und den Bescheid vom 8. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Januar 2002 abzuändern sowie den Beklagten zu verurteilen, seinen GdB mit 80 ab Antragstellung festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die sachverständigen Zeugenauskünfte des Facharztes für Orthopädie Dr. K. vom 14. Juni 2005, des Facharztes für Innere Medizin Dr. U. vom 5. Juli 2005, des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie sowie Rehabilitationswesen Dr. S. vom 25. August 2005 und des Hals-Nasen-Ohren-Arztes Dr. H. vom 20. September 2005 eingeholt. Hierzu hat der Beklagte die vä Stellungnahme von Dr. K. vom 10. November 2005 vorgelegt. Beim Kläger handle es sich um ein- bis zweimal wöchentlich auftretende Anfälle der Menière-Krankheit mit entsprechender Schwindelsymptomatik und mit den begleitenden vegetativen Symptomen. Da keine sofortigen Interventionen mit entsprechenden Infusionen oder mit stationärer Behandlung notwendig gewesen seien, sei die Schwere der Anfälle als leicht zu quantifizieren. Isoliert betrachtet sei hierfür ein GdB von 20 zu vergeben. Der GdB sei wegen der im Vordergrund stehenden psychischen Situation mit der entsprechenden Ausgestaltung und Bewertung der Symptome der diskutierten Menière-Krankheit mit 50 festzusetzen. Unter zusätzlicher Berücksichtigung der einseitigen Taubheit und der Ohrgeräusche, die bei isolierter Betrachtung rein akustisch betrachtet mit einem GdB von 20 zu bewerten seien, betrage der GdB für die Menière-Krankheit, Taubheit links, Ohrgeräusche und seelische Störung weiterhin 60. Die bisherige Einstufung des Dauerbefundes der Wirbelsäule mit einem GdB von 30 sei als optimal bemessen anzusehen. Die Phasen der wiederkehrenden Nervenreizerscheinungen sei hierin miterfasst. Somit sei die bisherige Einstufung des Gesamt-GdB mit 70 angemessen.

Sodann hat der Senat auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes Dr. H. vom 4. September 2006 und des Orthopäden, Rheumatologen, Sportmediziners und Chirotherapeuten Dr. R. vom 10. Oktober 2006 eingeholt. Dr. H. hat die Behinderungen des Klägers mit rezidivierenden Schwindelanfällen bei Verdacht auf Morbus Menière links, einer funktionellen Taubheit links, einem Tinnitus aurium und einer rezidivierenden depressiven Störung in gegenwärtig mittelgradiger Episode bezeichnet. Der Schweregrad für die Schwindelanfälle könne nur aus den Angaben des Klägers beurteilt werden. Dieser berichte, zweimal wöchentlich sehr starke Schwindelanfälle zu haben, die ein bis zwei Stunden anhielten und danach zu einer sehr starken Erschöpfung führten. Um eine endgültige Beurteilung bzgl. des Schweregrades und der Beeinträchtigung und der damit auftretenden Folgeerscheinungen und Beschwerden abgeben zu können, sei eine stationäre Beobachtung für 2 Wochen sinnvoll. Dr. R. hat ein chronisches Wirbelsäulensyndrom mit Schmerzsyndrom als linksbetonter chronischer degenerativer Brachialgie und chronischem degenerativem LWS-/ISG-Syndrom mit überwiegend pseudoradikulärer Lumboischialgie links, jeweils mit allenfalls sensiblen leichtergradigen Störungen, aber jeweils ausgeprägt als chronisches Schmerzsyndrom, einen leichtgradig schnappenden Mittelfinger rechts, einen Zustand 2 Wochen nach einer Operation eines schnellenden Fingers links, einen ausgeprägten Senkspreizfuß, eine Wirbelsäulen-Fehlstatik mit Flachrücken und leichter Wirbelsäulen-Verbiegung (ohne zusätzlichen eigenständigen Behinderungsgrad) sowie eine leichtgradige laterale/ulnare Epicondylopathie und eine radiale/ulnare Styloidose des Handgelenkes rechts mehr als links beschrieben. Der Schweregrad der Funktionsminderung werde für die Halswirbelsäule (einschließlich der oberen Brustwirbelsäule) und die Lendenwirbelsäule (einschließlich der ISG-Störung) als jeweils schwergradig angesehen, einschließlich des Schmerzsyndroms und der leichtergradigen neurologischen/sensiblen Störungen. Der Gesamt-GdB betrage 80 ab Anfang 2004.

Hierzu hat der Beklagte die vä Stellungnahme von Dr. W. vom 13. November 2006 vorgelegt. Von Seiten der Halswirbelsäule bestehe eine allenfalls mittelgradige Bewegungseinschränkung. Die Brustwirbelsäule sei frei entfaltbar und die Lendenwirbelsäule allenfalls mittelgradig entfaltungseingeschränkt. Somit bestünden allenfalls mittelgradige Funktionseinschränkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten, für die der bisherige Teil-GdB von 30 zutreffend sei, wobei die wegen aktenkundiger Aggravationstendenz zu relativierenden subjektiv angegebenen Schmerzen eingeschlossen seien. Auf Hals-Nasen-Ohren-ärztlichem Fachgebiet lägen keine konkreten Gesichtspunkte vor, vom bisherigem Teil-GdB von 60, inklusive der psychischen Begleiterscheinungen, abzuweichen.

Schließlich hat der Kläger die im Rahmen eines Rentenverfahrens abgegebenen sachverständigen Zeugenauskünfte von Dr. H. vom 7. August 2006 und Dr. S. vom 17. Oktober 2006 vorgelegt.

Die Beteiligten haben sich unter dem 1. und 11. Dezember 2006 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG zulässige Berufung, über die der Senat nach § 124 Abs. 2 SGG aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist unbegründet.

In verfahrensrechtlicher Hinsicht richtet sich der Antrag auf Neufeststellung des GdB nach § 48 SGB X.

Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X).

In materieller Hinsicht richtet die Feststellung des GdB nach den Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX), die seit dem 1. Juli 2001 an die Stelle der durch dieses Gesetz aufgehobenen Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) getreten sind (Artikel 63 und 68 SGB IX vom 19. Juni 2001, BGBl. I S. 1046).

Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB IX]). Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden ebenfalls die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX). Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die zuständigen Behörden auf Grund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie weitere gesundheitliche Merkmale aus (§ 69 Abs. 5 SGB IX).

Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden.

Die Feststellung des GdB und von Nachteilsausgleichen ist eine rechtliche Wertung von Tatsachen, die mit Hilfe von medizinischen Sachverständigen festzustellen sind. Dabei orientiert sich der Senat im Interesse der Gleichbehandlung aller Behinderten an den Bewertungsmaßstäben, wie sie in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)", Ausgabe 2004 (AP) niedergelegt sind (BSG, Urteil vom 15. März 1979 - 9 RVs 6/77 - BSGE 48, 82; BSG, Urteil vom 9. April 1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 7. November 2001 – B 9 SB 1/01 R - VersorgVerw 2002, 26). Die AP haben zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften beruhen. Sie sind vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken, und haben deshalb normähnliche Auswirkungen. Sie sind daher im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden (BSG, Urteil vom 23. Juni 1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285, 286; BSG, Urteil vom 9. April 1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 91, 205; BSG, Urteil vom 29. August 1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1). In den AP ist der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben. Sie ermöglichen somit eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB. Die AP stellen dabei ein einleuchtendes, abgewogenes und geschlossenes Beurteilungsgefüge dar (BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Dabei dürfen die einzelnen Werte bei der Ermittlung des Gesamt-GdB nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet (AP, 19 Abs. 1, S. 24). Vielmehr ist darauf abzustellen, ob und wie sich die Auswirkungen von einzelnen Beeinträchtigungen einander verstärken, überschneiden oder aber auch gänzlich voneinander unabhängig sein können (BSG, Urteil vom 15. März 1979 - 9 RVs 6/77 - BSGE 48, 82; BSG, Urteil vom 9. April 1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19). Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB-Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (AP, 19 Abs. 3, S. 25). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass, von Ausnahmefällen abgesehen, leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Einzel-GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte. Dies auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (AP, 19 Abs. 4, S. 26).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 70.

Auf Hals-Nasen-Ohren-ärztlichem und psychiatrischem Fachgebiet leidet der Kläger an Schwindelerscheinungen, einer Taubheit links, einem Tinnitus links und einer Dysthymia. Nach Einschätzung des Senats haben Dr. G., Dr. K. und Dr. W. in ihren vä Stellungnahmen vom 14. April 2004, 10. November 2005 und 13. November 2006 diesen Beschwerdekomplex zu Recht zusammengefasst und zutreffend mit einem GdB von 60 bewertet.

Isoliert betrachtet ist für die Schwindelerscheinungen des Klägers allenfalls ein Teil-GdB von 40 zu vergeben. Nach den AP beträgt der GdB bei Gleichgewichtsstörungen ohne wesentliche Folgen 0 bis 10, mit leichten Folgen 20, mit mittelgradigen Folgen (stärkere Unsicherheit, Schwindelerscheinungen mit Fallneigung bereits bei alltäglichen Belastungen oder heftiger Schwindel [mit vegetativen Erscheinungen, gelegentlich Übelkeit, Erbrechen] bei höheren und außergewöhnlichen Belastungen oder deutlichen Abweichungen bei den Geh- und Stehversuchen bereits auf niedriger Belastungsstufe) 30 bis 40 sowie mit schweren Folgen bei heftigem Schwindel, erheblicher Unsicherheit und Schwierigkeiten bereits bei Gehen und Stehen im Hellen und anderen alltäglichen Belastungen und/oder teilweise erforderlicher Gehhilfe 50 bis 70 und bei Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen und oder zu stehen 80 (AP, 26.5, S. 60) bzw. bei einer Menière-Krankheit bei ein bis zwei Anfällen im Jahr 0 bis 10, häufigeren Anfällen je nach Schweregrad 20 bis 40 und mehrmals monatlich schweren Anfällen 50 (AP 26.6, S.61). Der Senat lässt es dahinstehen, ob es sich bei den Schwindelerscheinungen des Klägers um Folgen einer Menière-Krankheit handelt (ablehnend Prof. Dr. J. in seinem Gutachten vom 9. Februar 2001; lediglich einen Verdacht hierauf äußernd Dr. H. in seinem Gutachten vom 4. September 2006). Denn jedenfalls handelt es sich nach Überzeugung des Senats bei den vom Kläger geschilderten Anfällen (zweimal wöchentlich mit Übelkeit und Erbrechen 1 bis 2 Stunden lang) nicht um "schwere" Anfälle im Sinne der AP. In diesem Zusammenhang hat Dr. K. in der vä Stellungnahme vom 10. November 2005 zu Recht darauf hingewiesen, dass sofortige Interventionen mit entsprechenden Infusionen oder stationären Behandlungen bislang von den behandelnden Ärzten nicht veranlasst worden seien. Mithin geht der Senat davon aus, dass es sich allenfalls um Gleichgewichtsstörungen mit mittelgradigen Folgen bzw. häufigere Anfälle einer Menière-Krankheit handelt, die höchstens mit einem Teil-GdB von 40 zu bewerten sind.

Hinzu kommt die Taubheit links und der Tinnitus links. Nach den AP beträgt der GdB bei einer Normalhörigkeit rechts und einer Taubheit links 20 (AP, 26.5 S. 59) und bei einem Tinnitus ohne nennenswerte psychische Begleiterscheinungen 0-10, mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen 20, mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägte depressive Störungen) 30-40 und mit schweren psychischen Störungen und sozialen Anpassungsschwierigkeiten mindestens 50 (AP, 26.5, S. 61). Vorliegend geht der Senat von einem Tinnitus mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen und damit einem diesbezüglichen Teil-GdB von 20 aus.

Des Weiteren ist die psychiatrische Komponente zu berücksichtigen. Nach den AP beträgt der GdB bei leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen 0 bis 20, stärker behindernden Störungen (mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) 30 bis 40 sowie bei schweren Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80 bis 100 (AP, 26.3, S. 48). Nach Einschätzung des Senats handelt es sich beim Kläger um leichtere psychovegetative oder psychische Störungen, die allenfalls mit einem Teil-GdB von 20 zu bewerten sind. Insoweit stützt sich der Senat auf das ausführliche und gut nachvollziehbare Gutachten von Dr. F. vom 7. April 2004, welches dieser für die LVA erstellt hat. Dort hat Dr. F. dargelegt, der Kläger leide an einer anhaltenden, ängstlichen Depression von der Art einer Dysthymia auf dem Hintergrund einer mit hypochondrischen sowie selbstunsicheren, ängstlich-vermeidenden Zügen ausgestatteten Persönlichkeit. Diese chronische, mehr ängstliche als depressive Verstimmtheit des Klägers sei noch nicht schwerer Art. Dr. F. hat den vom Kläger entwickelten Verstimmungszustand als leicht bezeichnet, das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung verneint und lediglich von einer charakterlichen Aktzentuierung gesprochen und ist mithin für den Senat nachvollziehbar zu dem Schluss gekommen, der psychische Status des Klägers sei nicht sonderlich ausgeprägt. Der Senat hat keine Anhaltspunkte, seither von einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers auszugehen. So hat Dr. S. weder in seiner sachverständigen Zeugenauskunft vom 25. August 2005 noch in der vom Kläger vorgelegten im Rahmen des Rentenverfahrens abgegebenen sachverständigen Zeugenauskunft vom 17. Oktober 2006 Angaben gemacht, die auf eine stärker behindernde Störung hindeuten. Im Übrigen ergibt sich aus der testspsychologischen Zusatzbeurteilung zu dem Gutachten von Dr. H. vom 4. September 2006 lediglich eine "gegenwärtig" mittelgradige Episode der depressiven Störung.

Die von diesen Behinderungen ausgehenden Funktionsstörungen im Symptomenkomplex des Hals-Nasen-Ohren-ärztlichen und psychiatrischem Fachgebiet (Teil-GdB 40 für die Schwindelerscheinungen, Teil-GdB 20 für die Taubheit links, Teil-GdB 20 für den Tinnitus links und Teil-GdB 20 für die Dysthymia) erreichen - insbesondere auch wegen der Überschneidung der Beeinträchtigungen durch den Tinnitus links und die Dysthymia - insgesamt einen GdB von 60.

Auf neurologischem und orthopädischem Fachgebiet beträgt der GdB 30. Hier leidet der Kläger an degenerativen Veränderungen der Hals- und Lendenwirbelsäule. Nach den AP beträgt der GdB für Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität 0, mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurzdauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) 10, mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und Tage andauernde Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) 20, mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) 30 und mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten 30 bis 40 (AP, 26.18, S. 116). Im Gegensatz zur Einschätzung von Dr. R. in seinem Gutachten vom 10. Oktober 2006 liegen nach Überzeugung des Senats beim Kläger keine schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten, sondern nur mittelgradige Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vor. Zu Recht hat Dr. W. in der vä Stellungnahme vom 13. November 2006 darauf hingewiesen, dass die von Dr. R. beschriebenen Funktionseinschränkungen nicht schweren funktionellen Auswirkungen entsprechen. Dem Kläger ist im Bereich der Halswirbelsäule ein Vor-Rückneigen bis zu einem Kinn-Brustbeinabstand von 2/14 cm, eine Seitneigung von rechts/links 10/0/10 Grad und eine Drehneigung rechts/links von 30/0/40 Grad möglich. Hieraus ergibt sich eine relativ gute Vor-Rückneigefähigkeit, eine um ca. 3/4 eingeschränkte Seitneigung (Soll-Bewegungsmaß rechts/links 45/0/45 Grad) und eine um ca. 1/2 eingeschränkte Drehneigung (Soll-Bewegungsmaß rechts/links 60-80/0/60-80 Grad). Diese Bewegungseinschränkungen rechtfertigen noch keine funktionellen Auswirkungen schweren Grades. Im Bereich der Lendenwirbelsäule liegt eine eingeschränkte Seitneigung um 2/3 rechts und 1/2 links, ein Schober’sches Maß von 10/13 cm und ein Fingerbodenabstand von 55 cm vor. Auch hieraus resultieren allenfalls mittelgradige funktionelle Auswirkungen (Soll-Maß Schober’sches Maß 10/13 cm). Die Einschätzung des Dr. R., es lägen schwere Auswirkungen vor, sind für den Senat daher nicht nachvollziehbar. Vielmehr folgt der Senat insoweit der vä Stellungnahme von Dr. W. vom 13. November 2006. Mithin beträgt der GdB für die Veränderungen der Wirbelsäule 30.

Aus dem Teil-GdB von 60 für das Hals-Nasen-Ohren-ärztliche und psychiatrische Fachgebiet und dem Teil-GdB von 30 für das orthopädische Fachgebiet ergibt sich nach Überzeugung des Senats aus den oben dargestellten Grundsätzen ein Gesamt-GdB von 70.

Nach alledem hat der der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 70. Das SG hat daher zu Recht die auf einen höheren GdB gerichtete Klage abgewiesen.

Die Berufung war somit unbegründet.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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