L 5 Vg 263/94

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 24 Vg 11/89
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 Vg 263/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 11. Februar 1994 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Kläger begehren Hinterbliebenenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, die Kläger zu 2) und 3) sind die Kinder des 1988 verstorbenen G. D ... Sie beantragten am 5. Juni 1988 Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG. Zur Begründung des Antrags führten sie aus, daß G. D. 1988 auf dem Werksgelände der Firma D. in H. grundlos von einem türkischen Landsmann erschossen wurde. Nach Prüfung des Antrags lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 1. Juli 1988 die Gewährung von Versorgungsleistungen ab. Zur Begründung führte er u.a. aus, daß Ausländer gemäß § 1 Abs. 4 OEG keinen Anspruch auf Versorgung hätten, wenn die Gegenseitigkeit nicht gewährleistet sei. Die Kläger besäßen die türkische Staatsangehörigkeit. Die Türkei als Heimatstaat der Kläger würde einen deutschen Staatsbürger, der dort Opfer einer Gewalttat geworden sei, nicht in vergleichbarer Weise entschädigen. Damit sei die in § 1 OEG geforderte Voraussetzung der Gegenseitigkeit nicht erfüllt. Der hiergegen am 27. Juli 1988 eingelegte Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 1988). Zur Begründung führte der Beklagte aus, die Versorgungsverwaltung des Landes Hessen sei angewiesen worden, die Vorschrift des § 1 Abs. 4 OEG weiterhin auf ausländische Staatsangehörige eines EG-Mitgliedsstaates anzuwenden. Selbst wenn diese verbindliche Weisung nicht bestünde, wäre die Ablehnung zutreffend erfolgt, da die Türkei noch nicht Vollmitglied der EG sei und die für die Gegenseitigkeit entscheidende Freizügigkeit gerade noch nicht bestehe.

Hiergegen haben die Kläger am 2. Januar 1989 beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben.

Zur Begründung haben sie vorgetragen, nach Art. 48 Abs. 1 und 2 EWG-Vertrag sei jede auf die Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedsstaaten im Aufnahmestaat in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen verboten. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gelte dieses Verbot auch für indirekte Diskriminierungen, die nicht auf die Staatsangehörigkeit abstellten, aber die gleiche Wirkung hätten. Nach Art. 7 Abs. 2 der zur Durchführung des Art. 48 erlassenen Verordnung (EWG-Nr. 1612/68) genieße ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaates sei, die gleichen sozialen Vergünstigungen wie inländische Arbeitnehmer. Da Art. 7 Abs. 2 der im Vorsatz genannten Verordnung unmittelbar in der Bundesrepublik Deutschland gelte und Vorrang vor § 1 Abs. 4 OEG habe, seien Arbeitnehmer mit einer Staatsangehörigkeit anderer EG-Mitgliedsstaaten demnach Leistungen nach dem OEG zu gewähren, solange sie ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich der OEG hätten.

Mit Urteil vom 11. Februar 1994 wies das Sozialgericht die Klage ab. Darüber hinaus wies es den Hilfsantrag auf Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz (GG) zurück.

In den Entscheidungsgründen legte das Sozialgericht u.a. dar, der Anspruch sei ausgeschlossen, weil die Gewalttat vor dem 30. Juni 1990 begangen worden sei (§ 10 Satz 3 OEG i.d.F. des Änderungsgesetzes vom 21. Juli 1993). Der Beklagte habe den Anspruch nach Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG wegen Fehlens der Gegenseitigkeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der türkischen Republik abgelehnt und sich hierbei auf die bis zum Inkrafttreten des Änderungsgesetzes vom 21. Juli 1993 gültige Fassung des OEG gestützt. Nachdem das OEG durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten vom 21. Juli 1993 gerade in bezug auf die Anspruchsvoraussetzungen für ausländische Mitbürger, die Opfer von Gewalttaten geworden sind, geändert wurde, sei für die vorliegende Entscheidung der neue Absatz 5 des § 1 OEG i.V.m. § 10 zu prüfen. Nach Abs. 5 Ziff. 1 von § 1 des jetzt geltenden OEG erhielten Ausländer Leistungen wie Deutsche, die sich seit mindestens drei Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten. Diese Voraussetzungen seien bei den Klägern unstreitig gegeben. Die Zuerkennung von Hinterbliebenenversorgung habe jedoch daran scheitern müssen, daß der Gesetzgeber in § 10 Satz 3 festgelegt habe, daß dieses Gesetz in den Fällen des § 1 Abs. 5 und 6 nur Anwendung auf Taten finde, die nach dem 30. Juni 1990 begangen worden seien. Vorliegend sei die Straftat jedoch am 18. April 1988 begangen worden. Diese Regelung verstoße auch nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3). Sicherlich sei von der Klägerseite zu Recht vorgetragen worden, daß eine absolute Gleichbehandlung aller Menschen durch das OEG nicht gewährleistet werde. Dies müsse von einem Gesetz aber auch nicht verlangt werden. Die Beklagtenseite habe zu Recht darauf hingewiesen, daß alle Staaten der Erde in ihren gesetzlichen Regelungen Vorschriften enthielten, die im Ergebnis jeweils eigene Staatsbürger eines Landes besser stellten als in dem Land lebende Bürger mit anderer Staatsangehörigkeit. In der Folge mehrerer schwerster Straftaten gegen ausländische Mitbürger in den Jahren 1991 und 1992 sei das Zweite Gesetz zur Änderung des OEG vom Bundestag und Bundesrat beschlossen und am 21. Juli 1993 verkündet worden. Die Frage des rückwirkenden Inkrafttretens der neu gefaßten Absätze 5 und 6 von § 1 OEG sei in den zuständigen Gesetzgebungsorganen wie auch in der Öffentlichkeit ausführlich diskutiert worden. Am Ende müsse das rückwirkende Inkrafttreten der Abs. 5 und 6 des § 1 OEG für Straftaten, die nach dem 30. Juni 1990 begangen worden seien, als Kompromiß angesehen werden. Die für die Ausführung des Gesetzes zuständigen Behörden und die zur Entscheidung über entsprechende Klagen zuständigen Gerichte hätten sich an diese Rückwirkungsvorschrift zu halten. Eine Kritik gegenüber diesem, von dem Gesetzgeber gefundenen Kompromiß, stehe ihnen nicht zu. Nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland sei dem Gesetzgeber ein weiter – fast unbegrenzter – Raum zugewiesen. Von diesem Spielraum habe der Gesetzgeber Gebrauch gemacht. Angesichts des Umstandes, daß die vorliegende Gewalttat rund 21 Monate vor dem rückwirkenden Inkrafttreten der genannten Vorschriften begangen wurde, habe das Gericht davon ausgehen müssen, daß der Gesetzgeber eine Rückwirkung von Straftaten gerade in diesem Zeitraum nicht gewollt habe. Denn es hätte ohne weiteres die Möglichkeit bestanden, den Rückwirkungszeitraum weiter in die 80er Jahre zurückzuverlegen.

Was den Hilfsantrag anbetrifft, das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen, wird auf die ausführliche Begründung des erstinstanzlichen Gerichtes Bezug genommen.

Gegen dieses ihnen am 9. März 1994 zugestellte Urteil haben die Kläger am 21. März 1994 beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Zur Begründung haben sie sich im wesentlichen auf ihre bereits im Vor- und Klageverfahren vorgetragene Auffassung berufen. Darüber hinaus haben sie vorgetragen, die Staatsbürger der anderen EG-Staaten hätten die Gewährleistung der Gegenseitigkeit nicht den Bemühungen der deutschen Regierung oder der Sozialgerichtsbarkeit zu verdanken, sondern der bekannten Entscheidung des EuGH vom 2. Februar 1989. Völlig überraschend sei der Opferschutz im EG-Bereich sogar auf Touristen ausgedehnt worden. Noch nach Erlaß dieser Entscheidung habe sich herausgestellt, daß nicht einmal die Gegenseitigkeit zu unserem Nachbarland Frankreich gewährleistet war. Dies gelte u.a. auch für die Nachbarländer Schweiz und Österreich. Das OEG sei 1976 in Kraft getreten. Spätestens nach 10 Jahren sei erkennbar gewesen, daß der Gegenseitigkeitsvorbehalt nur auf dem Papier bestanden habe und andere Staaten nicht bereit gewesen seien, dem deutschen Beispiel zu folgen. Andererseits sei spätestens zu diesem Zeitpunkt zu erkennen gewesen, daß die früheren Gastarbeiter bzw. Fremdarbeiter unsere Mitbürger geworden seien und daß die nächste Generation bereits in Deutschland geboren wurde, weiterhin allerdings mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Ausländer seien unsere Mitbürger. Jedenfalls gelte das für diejenigen Ausländer, die hier ihren langjährigen Arbeitsplatz, ihre Wohnung und ihre Familie hätten und deren Kinder bereits in Deutschland geboren seien. Die Stichtagsregelung (1. Juli 1990) sei überfällig gewesen und habe die rechtswidrige und verfassungswidrige Ausgrenzung der Ausländer, soweit es um Gewalttaten vor diesem Zeitpunkt ging, nicht beseitigt. Wenn diese Ausländer Sozialversicherungsbeiträge und Steuern zahlen dürften, könnten sie nicht vom sozialen Entschädigungsrecht ausgeschlossen werden. Eine ausgedehnte Gesetzesauslegung bzw. Rechtsfortbildung im Interesse der Ausländer, die vor dem Stichtag das Opfer einer Gewalttat geworden seien und ihren Anspruch rechtzeitig angemeldet und weiterverfolgt hätten, sei geboten.

Die Kläger beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 11. Februar 1994 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 1. Juli 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 1988 zu verurteilen, ihnen gesetzliche Entschädigungsleistungen nach dem OEG nach ihrem am 1988 erschossenen Ehemann bzw. Vater zu gewähren,
hilfsweise,
das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vorzulegen, um die Rechtsfrage zu klären, ob der Ausschluß der Ausländer von den Versorgungsleistungen nach dem OEG, die vor dem 1. Juli 1990 das Opfer einer Gewalttat geworden sind und zu diesem Zeitpunkt ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hatten, mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sowie wegen der bei dem BSG anhängigen weiteren Fälle die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Berufung liegen unbedenklich vor.

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig. Deshalb hat das Sozialgericht die Klage zu Recht abgewiesen. Der Senat nimmt insoweit vollinhaltlich auf die Entscheidungsgründe des durch die Berufung angefochtenen Urteils des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 11. Februar 1994 Bezug und macht sich diese, um Wiederholungen zu vermeiden, zu eigen.

Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe konnte abgesehen werden, da die Kläger im Berufungsverfahren keine neuen Tatsachen vorgetragen haben und der Senat auch keine Veranlassung hatte, weitere Ermittlungen durchzuführen. Die. Berufung konnte deshalb aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 153 Abs. 2 SGG i.d.F. des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 – BGBl. I, Seite 50 –). Das gilt auch für den gemäß Art. 100 Abs. 1 GG gestellten Hilfsantrag.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision zugelassen, weil die Rechtssache hinsichtlich der Frage der Gegenseitigkeit grundsätzliche Bedeutung hat.
Rechtskraft
Aus
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