Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 1 U 1578/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 1226/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 1. Dezember 1994 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Arbeitsunfalls.
Die 1952 geborene Klägerin ist bei der Kreissparkasse in der Zentralstelle am Weg 1 beschäftigt. Am Morgen des 28. Juli 1992 verließ die Klägerin um 7.05 Uhr ihre Wohnung und fuhr mit ihrem Sohn zu dem Friedhof, wo ihr die Pflege zweier Gräber obliegt. Auf der ca. 5 Minuten dauernden Autofahrt zum Friedhof passierte die Klägerin den nahen Verkehrsraum ihrer Arbeitsstätte und setzte den Weg in entgegengesetzter Richtung fort. Nachdem die Klägerin auf dem Friedhof ihre Arbeit verrichtet hatte, begab sie sich von dort aus zu Fuß um ca. 7.40 Uhr auf den Weg zu ihrer Arbeitsstätte, um dort um 8.00 Uhr ihren Dienst anzutreten. Um 7.45 Uhr rutschte die Klägerin in der K-Straße auf herabgefallenen Kirschen aus und brach sich dabei das rechte Handgelenk. Die Klägerin befand sich zum Unfallzeitpunkt noch nicht auf dem gewöhnlichen Weg zur Arbeitsstätte. Diesen Weg nimmt die Klägerin normalerweise zu Fuß gehend von ihrer Wohnung in der F-Straße aus über die W-straße und L.Straße zum O.Weg. Laut Auskunft der Stadt beträgt der Fußweg von der Wohnung der Klägerin in der F-Straße 5 zu ihrer Arbeitsstätte im O.Weg 1 ca. 830 m und der Fußweg vom Friedhof in der B-Straße zur Arbeitsstätte der Klägerin ca. 1.340 m.
Mit Bescheid vom 20. April 1993 lehnte der Beklagte die Gewährung einer Entschädigung aus Anlaß des Ereignisses vom 28. Juli 1992 ab. Die Klägerin habe sich zum Unfallzeitpunkt nicht auf dem direkten Weg von ihrer Wohnung zur Arbeitsstätte befunden. Sie habe den Friedhof in aus rein privaten Gründen aufgesucht. Hierbei handele es sich um einen unversicherten Abweg, weil die Klägerin auf dem Rückweg noch nicht den eigentlichen, versicherten Weg erreicht gehabt habe.
Mit ihrem am 4. Mai 1993 eingegangenen Widerspruch vertrat die Klägerin die Auffassung, es habe sich nicht um einen Abweg gehandelt. Sie habe vielmehr von dem Friedhof aus – als einem eigenständigen dritten Ort – den Weg zur Arbeitsstätte angetreten. Den Widerspruch wies der Beklagte durch Bescheid vom 9. Dezember 1993 zurück und führte aus, es habe sich bei dem zurückgelegten Weg nicht um einen sog. Weg vom dritten Ort gehandelt. Die Aufenthaltsdauer auf dem Friedhof sei nicht so erheblich gewesen. Auch stehe der Weg vom Friedhof zur Arbeitsstätte in keinem angemessenen Verhältnis zu dem sonst üblichen Fußweg.
Die Klägerin hat hiergegen am 29. Dezember 1993 beim Sozialgericht Gießen (SG) Klage erhoben. Das SG hat durch Urteil vom 1. Dezember 1994 die Beklagte verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 28. Juli 1992 als Arbeitsunfall anzuerkennen und in gesetzlichem Umfang zu entschädigen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die Klägerin habe am Unfalltag ihren Weg zur Arbeitsstätte vom Friedhof aus angetreten. Der Weg von einem dritten Ort setze einen erheblichen Aufenthalt an diesem Ort voraus. Für die Anerkennung einer Erheblichkeit sprächen im vorliegenden Fall die Zeitdauer und bei natürlicher Betrachtungsweise die Umstände, daß die Klägerin das Haus schon früher als sonst verlassen habe, um auf dem Friedhof ihre Tätigkeiten zu verrichten und sie auf dem Weg zum Friedhof und von dort zur Arbeitsstätte die Fortbewegungsart gewechselt habe. Der Fußweg der Klägerin von dem Friedhof zur Arbeitsstätte sei nicht übermäßig länger als der Fußweg von der Wohnung zur Arbeitsstätte. Beide Wegstrecken lägen im üblichen Fußpendelbereich innerhalb der Stadt. Eine besondere Erhöhung der Unfallgefahr habe deshalb nicht vorgelegen.
Gegen dieses ihm am 19. Dezember 1994 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 21. Dezember 1994 – eingegangen am 22. Dezember 1994 – beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt und geltend gemacht, der Aufenthalt der Klägerin auf dem Friedhof sei nicht erheblich gewesen. Dieser Aufenthalt erlange durch die zufällige Gegebenheit, daß die Klägerin die Fortbewegungsart gewechselt habe, keine versicherungsrechtlich selbständige Bedeutung. Auch der Umstand, daß die Klägerin "extra früher los” sei, um ihre Tätigkeiten auf dem Friedhof zu verrichten, gebe dem dortigen Aufenthalt keine versicherungsrechtlich selbständige Bedeutung. Zudem sei hier von Bedeutung, daß es "betriebliche” Momente für den Aufenthalt der Klägerin auf dem Friedhof nicht gebe. Dies sei jedoch bei einem Arztbesuch oder der Essenseinnahme vor Beginn der Schichtarbeit der Fall. Dennoch habe das Bundessozialgericht (BSG) einen Aufenthalt von einer knappen halben Stunde anläßlich eines Arztbesuches nicht als erheblich betrachtet. Zur Begründung des Versicherungsschutzes reiche es nicht aus, wenn es sich um etwa "gleichwertige” Wege von der Wohnung zur Arbeitsstätte und vom dritten Ort zur Arbeitsstätte handele.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 1. Dezember 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, die Dauer des Aufenthaltes allein habe keine maßgebliche Bedeutung. Wesentlich sei, daß sich das Unfallrisiko des Weges zur Betriebsstätte vom Friedhof aus im Vergleich zwischen dem Ausgangsort Wohnung nicht wesentlich geändert habe. Vergleiche man die Wegstrecke zwischen Friedhof und Arbeitsstätte, die 1.340 m betrage, verbleibe nur ein geringfügiger Unterschied zur Länge des Weges, den sie täglich von ihrer Wohnung aus zur der Arbeitsstätte zurücklege. Denn dieser Fußweg betrage exakt 1.000 m.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf die Gerichtsakte und die zum Verfahren beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet.
Als Arbeitsunfall (§ 548 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung –RVO–) gilt auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs. 1 RVO). Dabei bedeutet der Begriff des Weges, das sich Fortbewegen auf einer Strecke, die durch einen Ausgangs- und einen Zielpunkt begrenzt ist. Vom Gesetz ist nur gefordert, daß der Weg entweder zum Ort der Tätigkeit hinführt oder von diesem Ort wegführt. Der andere Grenzpunkt des Weges ist gesetzlich nicht festgelegt (BSGE 11, 156, 157; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 485 m, r; Lauterbach-Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, Anm. 3 zu § 550 RVO). In der Regel wird der nach § 550 Abs. 1 RVO versicherte Weg zur Arbeit von der Wohnung des Versicherten aus angetreten. Dabei ist der Versicherungsschutz nicht auf die kürzeste Verbindung zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit beschränkt. Der Versicherte ist in der Wahl des Weges grundsätzlich frei, ebenso wie bei der Wahl des Verkehrsmittels (Brackmann, a.a.O., S. 486 m m.w.N.).
Jedoch entfällt der Versicherungsschutz, wenn der Versicherte aus sog. eigenwirtschaftlichen, d.h. seinem privaten Lebensbereich zuzurechnenden Gründen diesen Weg räumlich oder zeitlich nicht unerheblich verlängert. Ein Um- oder Abweg liegt vor, wenn der Versicherte die kürzeste Wegstrecke nicht unbedeutend verlängert, als Zielrichtung jedoch den Ort der Tätigkeit beibehält, oder wenn der Weg zum Ort der Tätigkeit verlängert wird, indem während dieses Weges ein anderer Weg nicht in Zielrichtung zu dem Ort der Tätigkeit eingeschoben und dann wieder auf den Weg zum Ort der Tätigkeit zurückgekehrt wird (vgl. hierzu Brackmann, a.a.O., S. 486 m I, n, u; BSG SozR 3-2200 § 550 RVO Nr. 2; Krasney, Der Verkehrsunfall als Arbeitsunfall, Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht, 1989, 369, 372). Versicherungsschutz besteht in diesen Fällen nur, wenn sich der Unfall vor Beginn oder nach dem Ende des Um- oder Abweges auf dem Teil des Weges ereignet, der den Weg nach dem Ort der Tätigkeit im Sinne des § 550 Abs. 1 RVO bildet (so die ständige Rechtsprechung des BSG, z.B. in SozR 3-2200 § 550 RVO Nr. 2; Brackmann, a.a.O., S. 486 o m.w.N.; Krasney, a.a.O., S. 372).
Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Um- oder Abweg nicht als ein rechtlich einheitlicher Gesamtweg anzusehen ist, weil an einem anderen Ort ein so erheblicher Aufenthalt genommen wurde, daß der Weg zum Ort der Tätigkeit von einem anderen Ort als der Wohnung angetreten worden ist (Brackmann, a.a.O., S. 485 r I, 486 n). Ein solcher Weg von einem anderen Ort als der Wohnung – einem sog. dritten Ort – wird von Rechtsprechung und Literatur nur dann als Ausgangspunkt des Weges zu dem Ort der Tätigkeit angenommen, wenn die Dauer des Aufenthaltes an dem anderen Ort so erheblich ist, daß der vorangegangene Weg eine selbständige Bedeutung erlangt und deshalb nicht in einem rechtlich erheblichen Zusammenhang mit der bevorstehenden Aufnahme der Arbeit an der Arbeitsstelle steht (BSGE 62, 113, 115; BSG SozR 3-2200 § 550 RVO Nr. 2; Brackmann, a.a.O., S. 485 r I, II m.w.N.). Liegen diese Voraussetzungen vor, ist zudem erforderlich, daß der Weg vom sog. dritten Ort nach dem Sinn und Zweck des § 550 RVO grundsätzlich unter Berücksichtigung aller Umstände in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg des Versicherten zu dem Ort der Tätigkeit steht (Brackmann, a.a.O., S. 485 r II, III, IV, V m.w.N.).
Die Klägerin hat, nachdem sie um 7.05 Uhr das Haus verlassen hatte, sich zunächst im Verkehrsraum zu und in Richtung ihrer Arbeitsstätte fortbewegt, dann aber diesen Verkehrsraum verlassen und ihren Weg im Pkw ihres Sohnes in entgegengesetzter Richtung zur Arbeitsstätte fortgesetzt, um zum Friedhof zu gelangen. Dieser Abweg diente allein einem privaten Zweck, nämlich der Grabpflege auf dem Friedhof, so daß der Weg bis zum Friedhof jedenfalls nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand.
Der Fußweg vom Friedhof zurück zur Arbeitsstätte stand nur dann unter Versicherungsschutz, wenn die ca. halbstündige Aufenthaltsdauer auf dem Friedhof als "erheblich” anzusehen ist. Nach Auffassung des Senats ist dies jedoch nicht der Fall. Denn ein nur halbstündiger Aufenthalt gibt dem dem Aufenthalt vorausgegangenen Weg von der Wohnung zum Friedhof keine unfallversicherungsrechtlich selbständige Bedeutung. Die von dem SG herangezogenen Umstände, wie das frühere Verlassen der Wohnung und der Wechsel der Fortbewegungsart, kommen nicht als Kriterien für eine Erheblichkeit des Aufenthaltes in Betracht. Insoweit kann nur – auch im Interesse der Rechtssicherheit – der zeitliche Umfang des Aufenthaltes von Bedeutung sein.
Da somit der von der Klägerin zurückgelegte Weg von der Wohnung über den Friedhof zur Arbeitsstätte als ein einheitlicher Gesamtweg anzusehen ist und die Klägerin den Unfall im Bereich des unversicherten Abwegs erlitten hat, konnte das Unfallereignis nicht als Arbeitsunfall anerkannt werden.
Der Senat hat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Die Rechtsprechung bejaht ein Entfallen des Versicherungsschutzes nach einer länger als zweistündigen Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit (vgl. hierzu Brackmann, a.a.O., S. 487 k m.N. aus der Rechtsprechung). Der Senat neigt dazu auch für die Erheblichkeit des Aufenthaltes an einem anderen Ort als der Wohnung diese Zeitdauer zugrunde zu legen. Das BSG hat in diesem Zusammenhang bisher keine Zeitgrenze festgelegt. In seiner Entscheidung vom 12. Juni 1990 (SozR 3 2200 § 550 RVO Nr. 2) hat es einen 25 Minuten dauernden Aufenthalt in einer Arztpraxis als nicht ausreichend angesehen, um dem Weg von der Wohnung zu der Praxis des Arztes eine unfallversicherungsrechtlich selbständige Bedeutung zu geben. Ein Aufenthalt von einer Stunde in einer Wäscherei wurde hingegen als erheblich angesehen (BSG SozR Nr. 32 zu § 543 RVO a.F.). In dieser Entscheidung hat das BSG aber auch maßgeblich darauf abgestellt, ob der Weg zurück von der privaten Verrichtung mit dem Hinweg weitgehend identisch war oder dieser Weg eine andere Zielrichtung – die Arbeitsstätte – hatte. In der von der Klägerin angeführten Entscheidung vom 5. August 1987 (Az.: 9 b Ru 28/86 in BB 87, 2099) hat das BSG den Weg eines Versicherten von einer Gastwirtschaft, in der er sich vor Beginn der Nachtschicht zum Essen wohl nur knapp eine halbe Stunde aufgehalten hatte, als einen Weg von einem eigenständigen dritten Ort angesehen. Dabei hat es jedoch als ins Gewicht fallend gewertet, daß der von seiner Familie getrennt lebende Versicherte vor der Nachtschicht regelmäßig in einer Gaststätte seine Abendmahlzeiten einnahm Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Arbeitsunfalls.
Die 1952 geborene Klägerin ist bei der Kreissparkasse in der Zentralstelle am Weg 1 beschäftigt. Am Morgen des 28. Juli 1992 verließ die Klägerin um 7.05 Uhr ihre Wohnung und fuhr mit ihrem Sohn zu dem Friedhof, wo ihr die Pflege zweier Gräber obliegt. Auf der ca. 5 Minuten dauernden Autofahrt zum Friedhof passierte die Klägerin den nahen Verkehrsraum ihrer Arbeitsstätte und setzte den Weg in entgegengesetzter Richtung fort. Nachdem die Klägerin auf dem Friedhof ihre Arbeit verrichtet hatte, begab sie sich von dort aus zu Fuß um ca. 7.40 Uhr auf den Weg zu ihrer Arbeitsstätte, um dort um 8.00 Uhr ihren Dienst anzutreten. Um 7.45 Uhr rutschte die Klägerin in der K-Straße auf herabgefallenen Kirschen aus und brach sich dabei das rechte Handgelenk. Die Klägerin befand sich zum Unfallzeitpunkt noch nicht auf dem gewöhnlichen Weg zur Arbeitsstätte. Diesen Weg nimmt die Klägerin normalerweise zu Fuß gehend von ihrer Wohnung in der F-Straße aus über die W-straße und L.Straße zum O.Weg. Laut Auskunft der Stadt beträgt der Fußweg von der Wohnung der Klägerin in der F-Straße 5 zu ihrer Arbeitsstätte im O.Weg 1 ca. 830 m und der Fußweg vom Friedhof in der B-Straße zur Arbeitsstätte der Klägerin ca. 1.340 m.
Mit Bescheid vom 20. April 1993 lehnte der Beklagte die Gewährung einer Entschädigung aus Anlaß des Ereignisses vom 28. Juli 1992 ab. Die Klägerin habe sich zum Unfallzeitpunkt nicht auf dem direkten Weg von ihrer Wohnung zur Arbeitsstätte befunden. Sie habe den Friedhof in aus rein privaten Gründen aufgesucht. Hierbei handele es sich um einen unversicherten Abweg, weil die Klägerin auf dem Rückweg noch nicht den eigentlichen, versicherten Weg erreicht gehabt habe.
Mit ihrem am 4. Mai 1993 eingegangenen Widerspruch vertrat die Klägerin die Auffassung, es habe sich nicht um einen Abweg gehandelt. Sie habe vielmehr von dem Friedhof aus – als einem eigenständigen dritten Ort – den Weg zur Arbeitsstätte angetreten. Den Widerspruch wies der Beklagte durch Bescheid vom 9. Dezember 1993 zurück und führte aus, es habe sich bei dem zurückgelegten Weg nicht um einen sog. Weg vom dritten Ort gehandelt. Die Aufenthaltsdauer auf dem Friedhof sei nicht so erheblich gewesen. Auch stehe der Weg vom Friedhof zur Arbeitsstätte in keinem angemessenen Verhältnis zu dem sonst üblichen Fußweg.
Die Klägerin hat hiergegen am 29. Dezember 1993 beim Sozialgericht Gießen (SG) Klage erhoben. Das SG hat durch Urteil vom 1. Dezember 1994 die Beklagte verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 28. Juli 1992 als Arbeitsunfall anzuerkennen und in gesetzlichem Umfang zu entschädigen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die Klägerin habe am Unfalltag ihren Weg zur Arbeitsstätte vom Friedhof aus angetreten. Der Weg von einem dritten Ort setze einen erheblichen Aufenthalt an diesem Ort voraus. Für die Anerkennung einer Erheblichkeit sprächen im vorliegenden Fall die Zeitdauer und bei natürlicher Betrachtungsweise die Umstände, daß die Klägerin das Haus schon früher als sonst verlassen habe, um auf dem Friedhof ihre Tätigkeiten zu verrichten und sie auf dem Weg zum Friedhof und von dort zur Arbeitsstätte die Fortbewegungsart gewechselt habe. Der Fußweg der Klägerin von dem Friedhof zur Arbeitsstätte sei nicht übermäßig länger als der Fußweg von der Wohnung zur Arbeitsstätte. Beide Wegstrecken lägen im üblichen Fußpendelbereich innerhalb der Stadt. Eine besondere Erhöhung der Unfallgefahr habe deshalb nicht vorgelegen.
Gegen dieses ihm am 19. Dezember 1994 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 21. Dezember 1994 – eingegangen am 22. Dezember 1994 – beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt und geltend gemacht, der Aufenthalt der Klägerin auf dem Friedhof sei nicht erheblich gewesen. Dieser Aufenthalt erlange durch die zufällige Gegebenheit, daß die Klägerin die Fortbewegungsart gewechselt habe, keine versicherungsrechtlich selbständige Bedeutung. Auch der Umstand, daß die Klägerin "extra früher los” sei, um ihre Tätigkeiten auf dem Friedhof zu verrichten, gebe dem dortigen Aufenthalt keine versicherungsrechtlich selbständige Bedeutung. Zudem sei hier von Bedeutung, daß es "betriebliche” Momente für den Aufenthalt der Klägerin auf dem Friedhof nicht gebe. Dies sei jedoch bei einem Arztbesuch oder der Essenseinnahme vor Beginn der Schichtarbeit der Fall. Dennoch habe das Bundessozialgericht (BSG) einen Aufenthalt von einer knappen halben Stunde anläßlich eines Arztbesuches nicht als erheblich betrachtet. Zur Begründung des Versicherungsschutzes reiche es nicht aus, wenn es sich um etwa "gleichwertige” Wege von der Wohnung zur Arbeitsstätte und vom dritten Ort zur Arbeitsstätte handele.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 1. Dezember 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, die Dauer des Aufenthaltes allein habe keine maßgebliche Bedeutung. Wesentlich sei, daß sich das Unfallrisiko des Weges zur Betriebsstätte vom Friedhof aus im Vergleich zwischen dem Ausgangsort Wohnung nicht wesentlich geändert habe. Vergleiche man die Wegstrecke zwischen Friedhof und Arbeitsstätte, die 1.340 m betrage, verbleibe nur ein geringfügiger Unterschied zur Länge des Weges, den sie täglich von ihrer Wohnung aus zur der Arbeitsstätte zurücklege. Denn dieser Fußweg betrage exakt 1.000 m.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf die Gerichtsakte und die zum Verfahren beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet.
Als Arbeitsunfall (§ 548 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung –RVO–) gilt auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs. 1 RVO). Dabei bedeutet der Begriff des Weges, das sich Fortbewegen auf einer Strecke, die durch einen Ausgangs- und einen Zielpunkt begrenzt ist. Vom Gesetz ist nur gefordert, daß der Weg entweder zum Ort der Tätigkeit hinführt oder von diesem Ort wegführt. Der andere Grenzpunkt des Weges ist gesetzlich nicht festgelegt (BSGE 11, 156, 157; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 485 m, r; Lauterbach-Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, Anm. 3 zu § 550 RVO). In der Regel wird der nach § 550 Abs. 1 RVO versicherte Weg zur Arbeit von der Wohnung des Versicherten aus angetreten. Dabei ist der Versicherungsschutz nicht auf die kürzeste Verbindung zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit beschränkt. Der Versicherte ist in der Wahl des Weges grundsätzlich frei, ebenso wie bei der Wahl des Verkehrsmittels (Brackmann, a.a.O., S. 486 m m.w.N.).
Jedoch entfällt der Versicherungsschutz, wenn der Versicherte aus sog. eigenwirtschaftlichen, d.h. seinem privaten Lebensbereich zuzurechnenden Gründen diesen Weg räumlich oder zeitlich nicht unerheblich verlängert. Ein Um- oder Abweg liegt vor, wenn der Versicherte die kürzeste Wegstrecke nicht unbedeutend verlängert, als Zielrichtung jedoch den Ort der Tätigkeit beibehält, oder wenn der Weg zum Ort der Tätigkeit verlängert wird, indem während dieses Weges ein anderer Weg nicht in Zielrichtung zu dem Ort der Tätigkeit eingeschoben und dann wieder auf den Weg zum Ort der Tätigkeit zurückgekehrt wird (vgl. hierzu Brackmann, a.a.O., S. 486 m I, n, u; BSG SozR 3-2200 § 550 RVO Nr. 2; Krasney, Der Verkehrsunfall als Arbeitsunfall, Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht, 1989, 369, 372). Versicherungsschutz besteht in diesen Fällen nur, wenn sich der Unfall vor Beginn oder nach dem Ende des Um- oder Abweges auf dem Teil des Weges ereignet, der den Weg nach dem Ort der Tätigkeit im Sinne des § 550 Abs. 1 RVO bildet (so die ständige Rechtsprechung des BSG, z.B. in SozR 3-2200 § 550 RVO Nr. 2; Brackmann, a.a.O., S. 486 o m.w.N.; Krasney, a.a.O., S. 372).
Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Um- oder Abweg nicht als ein rechtlich einheitlicher Gesamtweg anzusehen ist, weil an einem anderen Ort ein so erheblicher Aufenthalt genommen wurde, daß der Weg zum Ort der Tätigkeit von einem anderen Ort als der Wohnung angetreten worden ist (Brackmann, a.a.O., S. 485 r I, 486 n). Ein solcher Weg von einem anderen Ort als der Wohnung – einem sog. dritten Ort – wird von Rechtsprechung und Literatur nur dann als Ausgangspunkt des Weges zu dem Ort der Tätigkeit angenommen, wenn die Dauer des Aufenthaltes an dem anderen Ort so erheblich ist, daß der vorangegangene Weg eine selbständige Bedeutung erlangt und deshalb nicht in einem rechtlich erheblichen Zusammenhang mit der bevorstehenden Aufnahme der Arbeit an der Arbeitsstelle steht (BSGE 62, 113, 115; BSG SozR 3-2200 § 550 RVO Nr. 2; Brackmann, a.a.O., S. 485 r I, II m.w.N.). Liegen diese Voraussetzungen vor, ist zudem erforderlich, daß der Weg vom sog. dritten Ort nach dem Sinn und Zweck des § 550 RVO grundsätzlich unter Berücksichtigung aller Umstände in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg des Versicherten zu dem Ort der Tätigkeit steht (Brackmann, a.a.O., S. 485 r II, III, IV, V m.w.N.).
Die Klägerin hat, nachdem sie um 7.05 Uhr das Haus verlassen hatte, sich zunächst im Verkehrsraum zu und in Richtung ihrer Arbeitsstätte fortbewegt, dann aber diesen Verkehrsraum verlassen und ihren Weg im Pkw ihres Sohnes in entgegengesetzter Richtung zur Arbeitsstätte fortgesetzt, um zum Friedhof zu gelangen. Dieser Abweg diente allein einem privaten Zweck, nämlich der Grabpflege auf dem Friedhof, so daß der Weg bis zum Friedhof jedenfalls nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand.
Der Fußweg vom Friedhof zurück zur Arbeitsstätte stand nur dann unter Versicherungsschutz, wenn die ca. halbstündige Aufenthaltsdauer auf dem Friedhof als "erheblich” anzusehen ist. Nach Auffassung des Senats ist dies jedoch nicht der Fall. Denn ein nur halbstündiger Aufenthalt gibt dem dem Aufenthalt vorausgegangenen Weg von der Wohnung zum Friedhof keine unfallversicherungsrechtlich selbständige Bedeutung. Die von dem SG herangezogenen Umstände, wie das frühere Verlassen der Wohnung und der Wechsel der Fortbewegungsart, kommen nicht als Kriterien für eine Erheblichkeit des Aufenthaltes in Betracht. Insoweit kann nur – auch im Interesse der Rechtssicherheit – der zeitliche Umfang des Aufenthaltes von Bedeutung sein.
Da somit der von der Klägerin zurückgelegte Weg von der Wohnung über den Friedhof zur Arbeitsstätte als ein einheitlicher Gesamtweg anzusehen ist und die Klägerin den Unfall im Bereich des unversicherten Abwegs erlitten hat, konnte das Unfallereignis nicht als Arbeitsunfall anerkannt werden.
Der Senat hat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Die Rechtsprechung bejaht ein Entfallen des Versicherungsschutzes nach einer länger als zweistündigen Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit (vgl. hierzu Brackmann, a.a.O., S. 487 k m.N. aus der Rechtsprechung). Der Senat neigt dazu auch für die Erheblichkeit des Aufenthaltes an einem anderen Ort als der Wohnung diese Zeitdauer zugrunde zu legen. Das BSG hat in diesem Zusammenhang bisher keine Zeitgrenze festgelegt. In seiner Entscheidung vom 12. Juni 1990 (SozR 3 2200 § 550 RVO Nr. 2) hat es einen 25 Minuten dauernden Aufenthalt in einer Arztpraxis als nicht ausreichend angesehen, um dem Weg von der Wohnung zu der Praxis des Arztes eine unfallversicherungsrechtlich selbständige Bedeutung zu geben. Ein Aufenthalt von einer Stunde in einer Wäscherei wurde hingegen als erheblich angesehen (BSG SozR Nr. 32 zu § 543 RVO a.F.). In dieser Entscheidung hat das BSG aber auch maßgeblich darauf abgestellt, ob der Weg zurück von der privaten Verrichtung mit dem Hinweg weitgehend identisch war oder dieser Weg eine andere Zielrichtung – die Arbeitsstätte – hatte. In der von der Klägerin angeführten Entscheidung vom 5. August 1987 (Az.: 9 b Ru 28/86 in BB 87, 2099) hat das BSG den Weg eines Versicherten von einer Gastwirtschaft, in der er sich vor Beginn der Nachtschicht zum Essen wohl nur knapp eine halbe Stunde aufgehalten hatte, als einen Weg von einem eigenständigen dritten Ort angesehen. Dabei hat es jedoch als ins Gewicht fallend gewertet, daß der von seiner Familie getrennt lebende Versicherte vor der Nachtschicht regelmäßig in einer Gaststätte seine Abendmahlzeiten einnahm Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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