Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 1b U 348/91
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 824/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 30. Juni 1994 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die dem Kläger entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten der Berufungsinstanz zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger streitet um die Entschädigung einer Kehlkopfkrebserkrankung als bzw. wie eine Berufskrankheit (BK).
Nach mehrmonatiger Heiserkeit wurde beim Kläger im Juni 1986 in der HNO-Klinik der Städtischen Kliniken F. eine Kehlkopftumorerkrankung festgestellt. Im Anschluß an die am 8. Juli 1986 erfolgte Tumoroperation wurde der Kläger radiologisch nachbestrahlt. Der Bericht der Klinik vom 5. November 1986 diagnostiziert ein supraglottisches ulceriertes Kehlkopfcarcinom der Mittellinie unter Beteiligung der Epiglottis, einen Zustand nach radikaler Neck dissection und Mundbodenausräumung rechts, eine supraglottische Kehlkopf-Teilresektion mit primärer Defektdeckung sowie Tracheotomie.
Der Kläger zeigte am 19. Januar 1990 der Beklagten an, daß er die Kehlkopfkrebserkrankung auf seine Tätigkeit bei der Firma F. vom 16. Juli 1973 bis 7. August 1986 zurückführe. Er habe dort ohne Schutz- oder Absaugvorrichtungen in der Schreinerei und auch außerhalb des Betriebes auf Montage Asbestzementplatten bearbeiten müssen. Nach der Mitteilung der F. vom 18. April 1990 war der Kläger vom 16. Juli 1973 bis 30. November 1982 als Schreiner und Monteur im Werk S. beschäftigt, das anschließend stillgelegt wurde. Bis 26. Juli 1986 war er im Verkaufslager der Firma in S. tätig und vom 27. Juni 1986 bis 30. Mai 1988 arbeitsunfähig erkrankt, bevor er aus der Firma ausschied. Die Beklagte zog die Akte des Klägers vom Versorgungsamt F. bei und ließ sodann das arbeitsmedizinisch-internistische Gutachten von Prof. L. und Dr. Le. vom 15. November 1990 mit einem radiologischen Zusatzgutachten des Dr. S. vom 15. Oktober 1990 erstatten. Röntgenologisch sowie computertomographisch konnten sie beim Kläger keine für eine Asbestose typischen pulmonalen oder pleuralen Strukturveränderungen feststellen. Lungenfunktionsanalytisch bestand kein Hinweis auf eine restriktive Ventilationsstörung. Die derzeit verfügbaren epidemiologischen Studien machten nach Meinung der Sachverständigen einen Kausalzusammenhang zwischen der Entstehung von Kehlkopfcarcinomen und einer Asbestexposition nicht wahrscheinlich. Zusätzlich sei festzustellen, daß beim Kläger, der angegeben habe, von 1945 bis 1986 ca. 50 bis 60 Zigaretten täglich geraucht zu haben, ein erheblicher Nikotinabusus und somit einer der Hauptrisikofaktoren für die Entstehung einer derartigen Erkrankung bestanden habe. Nach den derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den erheblichen außerberuflichen Risikofaktoren könne eine Anerkennung des Kehlkopfcarcinoms nach § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht empfohlen werden. Nachdem der Landesgewerbearzt sich mit Stellungnahme vom 12. März 1991 dieser Beurteilung angeschlossen hatte, stellte die Beklagte mit Bescheid vom 27. April 1991 fest, nach dem Gutachten des Prof. L. sei die Krebserkrankung des Klägers nicht mit Wahrscheinlichkeit auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen, auch nicht im Sinne einer Verschlimmerung. Die Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. Ziffer 4103 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) seien ebensowenig erfüllt wie diejenigen des § 551 Abs. 2 RVO. Der Kläger legte am 21. Mai 1991 Widerspruch ein. Die Beklagte machte die Literaturstudie des Dr. Hartung zur Frage des ursächlichen Zusammenhanges zwischen Kehlkopfkrebs und Asbeststaubbelastung vom 10. April 1991 zum Gegenstand des Widerspruchsverfahrens. Die Studie war zu dem Ergebnis gelangt, daß die publizierten Forschungsergebnisse zur Streitfrage widersprüchlich seien und insbesondere aus dem Bereich der Bundesrepublik Deutschland keine gesicherten epidemiologischen Daten vorlägen, weshalb Forschungsbedarf bestehe. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. August 1991 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch des Klägers zurück, da nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft ein Ursachenzusammenhang zwischen Kehlkopfkrebs und beruflicher Asbeststaubbelastung nicht mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne.
Der Kläger legte am 18. September 1991 vor dem Sozialgericht Fulda (SG) Klage ein und vertrat weiterhin die Auffassung, seine Tumorerkrankung sei auf die bei der Firma F. durchgeführte und mit einer erheblichen Asbeststaubbelastung verbundenen Arbeit zurückzuführen.
Das SG ließ das hals-nasen-ohrenärztliche Aktengutachten des Prof. W. und des Dr. M. HNO-Universitätsklinik H., vom 4. November 1992 erstatten, das die Erkrankung des Klägers als Plattenepithelcarcinom beurteilt. Der Alkohol- und Tabakkonsum des Klägers habe zu einem exzessiv erhöhten Kehlkopfkrebsrisiko beim Kläger beigetragen. Es sei von einer 12- bis 13jährigen Asbestfeinstaubexposition im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit bei der Firma F. auszugehen. Eine wesentliche inhalative Belastung sei nach den röntgenologischen und lungenfunktionsanalytischen Erhebungen des Prof. L. nicht gesichert. Die Asbestexposition des Klägers dürfte, selbst wenn man von einem synergistischen Effekt zwischen Tabakrauch und Asbestfeinstaubinhalation ausgehe, eher von untergeordneter Bedeutung für die Entstehung des Tumors zu bewerten sein, da Brückensymptome, die auf eine massive Asbestexposition hinweisen würden, seitens der Lunge weder lungenfunktionsanalytisch noch röntgenologisch nachweisbar seien. Das Gutachten gelangte daher in Übereinstimmung mit Prof. L. zu dem Schluß, daß im Falle des Klägers die Asbesteinwirkung wahrscheinlich nicht von wesentlicher Bedeutung für die Entstehung des supraglottischen Kehlkopfcarcinoms gewesen sei. Eine Fallkontrollstudie zum Thema Beruf und Kehlkopfkrebs sei kürzlich von ihrer Arbeitsgruppe veröffentlicht worden mit Erscheinungsdaten 1991 und 1992 und liefere nach statistischer Bereinigung möglicher Alkohol- und Tabakeffekte keinen Hinweis auf ein asbest-assoziiertes erhöhtes Kehlkopfkrebsrisiko. Eine Übersichtsarbeit von Smith und Mitarbeitern von 1990 habe eine kritische Metaanalyse der Fallkontroll- und Kohortenstudien, die sich mit dem Thema Kehlkopfkrebs und Asbestexposition auseinandergesetzt hätten, durchgeführt. Sie sei nachvollziehbar zu dem Schluß gelangt, daß mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein kausaler Zusammenhang zwischen Asbestexposition und dem Auftreten von Kehlkopfkrebs angenommen werden dürfe. Diese Überlegungen seien durchaus als neue Erkenntnisse zu betrachten. Unter diesem Gesichtspunkt sei die Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO vorstellbar. In Kenntnis der Literaturstudie des Dr. H. spräche unter Berücksichtigung der Arbeit von Smith derzeit mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang zwischen Asbestexposition und Kehlkopfkrebs.
Sodann ließ das SG die Exposition des Klägers gegenüber Zement aufklären, der ebenfalls als Krebsrisikostoff für den Mund- und Kehlkopfbereich wissenschaftlich anerkannt sei. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten führte mit Stellungnahme vom 13. August 1993 aus, in der Schreinerei der Firma F. seien überwiegend Modelle aus Fulguritmaterial gefertigt worden und bei den Beschäftigten müsse von einer Exposition gegenüber Schadstoffen beim Verschleifen von Asbestzement bis 1982 ausgegangen werden. Die bearbeiteten Zementplatten hätten zu 83 % aus Zement und zu 17 % aus Asbest bestanden. In Kenntnis dessen verneinten Prof. W. und Dr. M. mit Stellungnahme vom 23. November 1993 eine Verursachung der Krebserkrankung des Klägers durch die beruflich bedingte Zementexposition auch wenn Hinweise dafür vorlägen, daß eine inhalative Exposition gegenüber Zementstaub möglicherweise eine wesentliche Rolle für die Entstehung von Kehlkopfcarcinomen spielen könne. Die toxikologische bzw. epidemiologische Evidenz sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausreichend, um eine Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO zu rechtfertigen.
Die Beklagte legte schließlich die Stellungnahme ihres TAD vom 28. März 1994 vor, wonach der Kläger im Verlauf seiner Tätigkeit von 1973 bis Mitte 1984 einer Gesamtasbestfaserstaubdosis von 426 Faserjahren ausgesetzt war.
Mit Urteil vom 30. Juni 1994 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, die Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers als BK zu entschädigen. Die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO seien erfüllt angesichts der erheblichen Asbeststaubbelastung des Klägers mit 426 Faserjahren. Bei einer Asbesteinwirkung, die die Mindestgrenze zur Anerkennung einer BK um das 17fache überschreite, müsse von einer so erheblichen beruflichen Einwirkung ausgegangen werden, daß dem im einzelnen nicht genau geklärten Tabakkonsum daneben keine die Asbesteinwirkungen in ihrer Ursächlichkeit verdrängende Bedeutung beigemessen werden könne. Der außerordentlich hohen Asbeststaubbelastung des Klägers komme zumindest neben dem in seinem Umfang umstrittenen Rauchen eine wesentlich mitursächliche Bedeutung zu. Es bestünden auch "neue Erkenntnisse” im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO. Das Fachgespräch vom 26. April 1993 zum Thema "Larynxcarcinom durch Asbest?”, das in der Berufsgenossenschaftlichen Akademie für Arbeitssicherheit in Hennef veranstaltet worden sei, habe beim Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften zu einer Klärung im Sinne der Empfehlung vom 11. November 1993 geführt und habe die Bedenken überwunden, die nach der Studie des Dr. H. möglicherweise noch bestanden hätten. Es sei unschädlich, daß das Krebsleiden des Klägers bereits vor dem 1. April 1988 operativ behandelt worden sei. § 551 Abs. 2 RVO kenne keine Stichtagsregelung und die in der 2. BKVO-Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 enthaltene könne keine entsprechende Anwendung finden. Im übrigen sei zweifelhaft, ob dieselbe mit einer ausreichend weiten Rückwirkung versehen sei. Diese Frist müsse so bemessen sein, daß zumindest die Personen, deren Erkrankungen Anlaß zur Forschung gewesen seien und zum Erwerb neuer Erkenntnisse geführt hätten, die Chance hätten, von der Neuregelung erfaßt zu werden. Dies sei für die durch Asbest verursachten Krebserkrankungen, um die seit Beginn der 80er Jahre gestritten worden sei, bei einem Ausschluß der vor dem 1. April 1988 eingetretenen Erkrankungen nicht der Fall.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 15. August 1994 zugestellte Urteil am 8. September 1994 Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie vorgetragen hat, eine Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO könne nur erfolgen, wenn die neuen medizinischen Erkenntnisse bereits im maßgebenden Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung bestanden hätten. Zum Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung im Jahr 1986 hätten die mittlerweile gewonnenen medizinischen Erkenntnisse noch nicht vorgelegen, so daß der Kläger die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO nicht erfülle. Selbst wenn derartige Erkenntnisse schon 1986 bestanden hätten, wäre zu berücksichtigen, daß die BKVO zum 1. April 1988 und zum 1. Januar 1993 geändert worden sei und insbesondere bei der letzten Änderung die Frage der Gefährdung durch Asbest erneut überprüft und hinsichtlich der Lungenkrebserkrankungen unter der Ziffer 4104 der Anlage 1 zur BKVO erweitert worden sei, so daß eine Anerkennung u.a. beim Nachweis von 25 Asbestfaserjahren erfolgen könne. Eine Anerkennung scheide aus, wenn der Verordnungsgeber bei der nächsten Änderung der BKVO die Erkrankung nicht aufnehme. Die Kehlkopfkrebserkrankung sei nicht aufgenommen worden und eine Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO könne auch aus diesen Gründen nicht erfolgen. Schließlich sei zu beachten, daß die Anerkennung eines Lungenkrebsleidens nach Art. 2 Abs. 2 der 2. BKVO-Änderungsverordnung ausgeschlossen wäre, da der Versicherungsfall nicht nach dem 31. März 1988 eingetreten sei. Wenn das SG zur Begründung seiner Entscheidung die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ziffer 4104 der Anlage 1 zur BKVO analog bei Anerkennung der Kehlkopfkrebserkrankung wie eine BK anwende, müsse es konsequenterweise auch die Rückwirkungsbestimmung entsprechend zur Anwendung bringen. Letztlich sei noch zu berücksichtigen, daß der Verordnungsgeber – unterstellt er hätte die Ziffer 4104 auch auf Kehlkopfkrebserkrankungen erweitert – dies sicherlich auch mit einer begrenzten Rückwirkung wie bei Lungenkrebserkrankungen getan hätte. Für eine abweichende Beurteilung der beiden Sachverhalte bestünden keinerlei Anhaltspunkte. Der im Hinblick auf die Ziffer 4104 erklärte Wille des Verordnungsgebers müsse auch im Rahmen einer parallel gelagerten Kehlkopfkrebserkrankung Berücksichtigung finden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 30. Juni 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme bei Prof. W. und Dr. M. vom 9. August 1995 eingeholt. Diese haben dargelegt, unter Kenntnis der Gesamtasbestfaserstaubdosis von 426 Faserjahren und der Erkenntnisse des Fachgesprächs vom 26. April 1993 sei die berufliche Belastung des Klägers durch Asbest – weniger durch Zement – mit Wahrscheinlichkeit als wesentlich mitursächlich für das Entstehen der Krebserkrankung des Kehlkopfes anzusehen. So sei die beim Kläger festgestellte Faserstaubdosis fast 20mal höher als die seitens des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften geforderte kumulative Dosis von 25 Faserjahren und es sei darauf hinzuweisen, daß gerade eine gleichzeitige Exposition gegenüber Asbest und Tabakrauch das Krebsrisiko zumindest im Hinblick auf das Bronchialcarcinom sprunghaft ansteigen lasse. Die Situation des Klägers sei dem vergleichbar.
Die Beklagte hat daraufhin erklärt, vom medizinisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus trete sie der Auffassung bei, daß das Krebsleiden des Klägers mit Wahrscheinlichkeit auf seine berufliche Asbestexposition zurückzuführen sei, einer Anerkennung des Leidens als BK stünden aber weiterhin die geltend gemachten versicherungsrechtlichen Gesichtspunkte entgegen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand des Verfahrens gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten (§§ 151 Abs. 1, 143, 144 Sozialgerichtsgesetz –SGG–), über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 SGG) ist nicht begründet, da das SG die Beklagte am 30. Juni 1994 zu Recht verurteilt hat, die Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers wie eine BK gemäß § 551 Abs. 2 RVO zu entschädigen.
Da die Krebserkrankung des Kehlkopfes in die Liste der BKen in der Anlage 1 zur BKVO in der Fassung der 2. Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 (BGBl. I, S. 2343) nicht aufgenommen wurde, kam eine Entschädigung des beim Kläger festgestellten Leidens nur in Betracht, weil er die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO erfüllt, wovon das SG richtigerweise ausgegangen ist.
Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der BKVO bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind. Eine abgrenzbare Personengruppe muß bei ihrer Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung bestimmten gesundheitsschädlichen Einwirkungen ausgesetzt sein, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft geeignet sind, Krankheiten der jeweiligen Art zu verursachen. Der ursächliche Zusammenhang der Krankheit mit der gefährdenden Arbeit muß zudem im konkreten Fall hinreichend wahrscheinlich sein. Sinn dieser Regelung ist es nicht, jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Berufstätigkeit im Einzelfall nachgewiesen oder hinreichend wahrscheinlich ist, wie eine BK zu entschädigen. Vielmehr sollen nur solche durch die versicherte Tätigkeit verursachte Krankheiten wie eine BK entschädigt werden, die nur deshalb nicht in die Liste der BKen aufgenommen worden sind, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die Gefährdung bestimmter Personengruppen in ihrer Arbeit bei der letzten Fassung der Anlage 1 zur BKVO noch nicht vorhanden waren, sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur BK-Reife verdichtet hatten, trotz Nachprüfung noch nicht ausreichten oder dem Verordnungsgeber noch nicht bekannt waren (BSGE 59, 295; 72, 303, 305; Urteil vom 25. August 1994, Az.: 2 RU 42/93; Bundessozialgericht – BSG in SozR 2200 Nr. 18 zu § 551 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 492 n ff.; Bereiter-Hahn u.a., Gesetzliche Unfallversicherung, Anm. 8 zu § 551 RVO), es sich somit um "neue Erkenntnisse” im Sinne der Bestimmung handelt.
Der Senat geht in Übereinstimmung mit der erstinstanzlichen Entscheidung und mittlerweile auch beiden Beteiligten davon aus, daß der Kläger die Anerkennungsvoraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO erfüllt.
Nach der abschließenden und für den Senat überzeugenden Stellungnahme des Prof. W. und des Dr. M. vom 9. August 1995 war die berufliche Asbeststaubbelastung des Klägers in einer Gesamtdosis von 426 Faserjahren in seiner Tätigkeit bei der Firma F. als Schreiner/Monteur von 1973 bis Mitte 1984 im Einzelfall wesentlich mitursächlich für das Entstehen der Krebserkrankung des Kehlkopfes im Jahre 1986. Der bis zu dieser Stellungnahme streitige Kausalzusammenhang wurde von den Sachverständigen aufgrund der Erkenntnisse des Fachgespräches vom 26. April 1993 einerseits und der exorbitanten Expositionshöhe andererseits für hinreichend wahrscheinlich angesehen auch angesichts der Tatsache, daß der Kläger als Raucher und Konsument von Alkohol Konkurrenzursachen aufwies, die allerdings wiederum das Erkrankungsrisiko bei stattgehabter Asbestexposition potenzierten.
Die nach § 551 Abs. 2 RVO im allgemeinen zu fordernde gruppenspezifische Risikoerhöhung ist im Falle der Kehlkopfkrebserkrankten nicht mit der im allgemeinen geforderten langfristigen zeitlichen Überwachung des Krankengutes zum Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsstörungen (dazu BSGE 59, 295; Urteile des BSG vom 12. Juni 1990, Az.: 2 RU 21/89 und vom 24. Januar 1990, Az.: 2 RU 20/89 sowie Beschluss des BSG vom 30. Juni 1993, Az.: 2 BU 212/92; Urteil des Senats vom 8. November 1995, Az.: L – 3/U – 143/95) zu erbringen, da infolge der Seltenheit dieses Tumorleidens statistisch abgesicherte Erkenntnisse im vorgenannten Sinne nicht zu erheben sind. In Übereinstimmung mit der Entschließung des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften im Rundschreiben VB 102/93 vom 11. November 1993 kann die "generelle Geeignetheit” in diesem Sinne als gesichert angesehen werden aus Einzelfallstudien, Erkenntnissen und Anerkennungen in der früheren DDR, deren BK-Nr. 93 asbestbedingte Karzinome allgemein und darunter das Kehlkopfcarzinom durch Asbest als BK entschädigte, und bisher nach § 551 Abs. 2 RVO ausgesprochene Anerkennungen entsprechender Erkrankungen in der BRD (dazu Blome, Bericht über die Dokumentation der Fälle des § 551 Abs. 2 RVO – Larynxcarzinom durch Asbest?, in: BK-Report 2/94, S. 19 ff.).
Diese medizinischen Erkenntnisse sind "neu” im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO, da sie sich erst nach Inkrafttreten der 2. Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 zum 1. Januar 1993 zur BK-Reife verdichtet haben. Der Verordnungsgeber konnte dieselben bei Neufassung der 1. und 2. Anderungsverordnung folglich nicht berücksichtigen und entgegen der Auffassung der Beklagten im Berufungsverfahren ist somit aus der Nichtaufnahme des Kehlkopfcarzinoms durch Asbest als BK in die Liste keine für den Kläger negative Folgerung zu ziehen. Die Erkenntnisse vertieften sich zunehmend nach der Wiedervereinigung, nachdem zunächst der ehemalige Vorsitzende der Obergutachtenkommission der DDR, Dr. K. im August 1992 ein Gutachten zur Frage erstellt hatte, welche medizinischwissenschaftlichen Erkenntnisse zur dortigen BK Nr. 93 bestanden, und sie gewannen schließlich die BK-Reife nach dem Fachgespräch in der Berufsgenossenschaftlichen Akademie für Arbeitssicherheit in Hennef vom 26. April 1993, anläßlich dessen die mit der Problematik befaßten namhaften Wissenschaftler den neuesten Wissensstand festgestellt und den Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften damit veranlaßt hatten, die Anerkennung entsprechender Fälle nach § 551 Abs. 2 RVO unter bestimmten Voraussetzungen zu empfehlen. Im Anschluß an das auf der Veranstaltung vorgetragene Referat des Prof. Deitmer zum Thema "Larynxcarzinom durch Asbest? – ein Bericht aus HNO-ärztlicher Sicht” (S. 87 f. im BK-Report 2/94) ist der Hauptverband im Rundschreiben vom 11. November 1993 dem dortigen Vorschlag beigetreten und hat die Anerkennung für den Fall empfohlen, daß neben einer isolierten Kehlkopfkrebserkrankung eines der "Brückensymptome” nach BK-Nr. 4104 der Anlage 1 zur BKVO besteht, u.a. also die Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaubdosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren. Der Senat geht davon aus, daß diese Erkenntnisse als herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft anerkannt sind und hat sie seiner Entscheidung als der aktuellen Sachlage entsprechende Erkenntnisse zugrunde gelegt (zu den Voraussetzungen zum Vorliegen gesicherter Erkenntnisse BSG in SozR 2200 § 551 Nr. 18; BSGE 59, 295, 301). Die zunehmende "Reifung” dieser medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur streitigen Zusammenhangsfrage wird am Falle des Klägers exemplarisch deutlich in der Abfolge der gutachtlichen Äußerungen des Prof. W. und des Dr. M. der selbst den Vorsitz beim Fachgespräch vom 26. April 1993 führte. Zu der den Kausalzusammenhang befürwortenden Auffassung gelangten sie erst im Verlauf des Berufungsverfahrens im August 1995, nachdem sie zuvor im Gutachten vom November 1992 und einer ergänzenden Stellungnahme vom November 1993 den Kausalzusammenhang noch nicht als hinreichend wahrscheinlich angesehen hatten.
Diese "neuen Erkenntnisse” hatte der Senat bei seiner Entscheidung in Anbetracht des 1986 erstmals aufgetretenen Kehlkopfkrebsleidens des Klägers seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Denn das SG hatte über eine vom Kläger erhobene verbundene Anfechtungs- und Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs. 4 SGG entschieden und die Beklagte zur Entschädigung dem Grunde nach gemäß § 130 SGG verurteilt. Im dagegen von der Beklagten eingeleiteten Berufungsverfahren war für die Entscheidung des Senats die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung – und da eine solche im Einverständnis der Beteiligten unterblieben ist – zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats am 13. Dezember 1995 zu beachten (zum maßgeblichen Zeitpunkt bei Verpflichtungs- und Leistungsklagen: Meyer-Ladewig, SGG mit Erläuterungen, Anm. 34 zu § 54 SGG m.w.N.). Werden neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen, ist es im allgemeinen geboten und bei Vorteilhaftigkeit für die Betroffenen unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes zudem unbedenklich, auch zurückliegende Sachverhalte nach diesen mittlerweile vorliegenden Erkenntnissen zu bewerten (ebenso die Rechtsprechung des BSG zur Frage absoluter Fahruntüchtigkeit bei Alkoholgenuß und einer Blutalkoholkonzentration von jetzt 1,1 ‰ gegenüber früher 1,3 ‰ im Urteil vom 25. November 1992, Az.: 2 RU 40/91, der sich der Senat angeschlossen hat). Dies hatte zur Folge, daß für den Senat die mittlerweile zur BK-Reife verdichteten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Frage des ursächlichen Zusammenhanges beruflicher Belastungen und der Entstehung von Kehlkopfkrebserkrankungen im allgemeinen wie auch konkret im Falle des Klägers entscheidungserheblich werden mußten.
Der Senat konnte der Berufung der Beklagten auch nicht im Hinblick auf die Entscheidung des BSG vom 22. Februar 1979, Az.: 8a RU 44/78 stattgeben, wonach bei Anerkennung einer Erkrankung wie eine BK nach § 551 Abs. 2 RVO wie bei allen Sozialversicherungsansprüchen die Anspruchsvoraussetzung im Zeitpunkt des Versicherungsfalles erfüllt sein müssen mit der Folge, daß die beim Kläger 1986 aufgetretene Krebserkrankung bei frühestens 1993 gesicherten medizinischen Erkenntnissen zur Anerkennungsfähigkeit nicht wie eine BK zu entschädigen gewesen wäre (ebenso BSGE 49, 148, 150; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15. Dezember 1987, Az.: L-15/BU – 40/86 sowie zuletzt Urteil des Senats vom 8. November 1995, Az.: L – 3/U – 143/95). Denn das BSG selbst folgt dieser Definition des Versicherungsfalles in anderen Entscheidungen nicht. Sie findet zudem berechtigterweise Widerspruch in Literatur und Rechtsprechung und steht weder mit der ratio legis des § 551 Abs. 2 RVO in Überstimmung noch ist sie frei von verfassungsrechtlichen Bedenken. In der Entscheidung im 52. Band, S. 273, 275, stellt das BSG fest, daß die medizinischen Erkenntnisse auch aus dem entschiedenen Sonderfall gewonnen und als solche im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO beachtlich sein können, womit sie zur Zeit des Versicherungsfalles noch nicht bereits gesichert vorgelegen haben konnten. Auch die Entscheidung des BSG in SozR 2200 Nr. 18 zu § 551 RVO geht davon aus, daß die neuen Erkenntnisse nicht im Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung bereits bestanden haben müssen. Der umfangreichen Rechtsprechung des BSG zum Umfang der Rückwirkungsvorschriften des Art. 2 Abs. 2 der 2. Änderungsverordnung zur BKVO in bezug auf § 551 Abs. 2 RVO hätte es nicht bedurft, wenn das BSG gefordert hätte, daß die neuen medizinischen Erkenntnisse zum Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung bzw. des Todes des Versicherten hätten vorliegen müssen. Denn die einschlägigen Rechtsstreite waren sämtlich dadurch geprägt, daß die neuen medizinischen Erkenntnisse zur BK-Ziffer 4104 (Urteile vom 25. August 1994, Az.: 2 RU 42/93 sowie vom 19. Januar 1995, Az.: 2 RU 14/94) bzw. zu den BK-Ziffern 2108–2109 (Urteile vom 19. Januar 1995, Az.: 2 RU 13/94 sowie Az.: 2 RU 20/94) in der Anlage 1 zur BKVO erst nach Inkrafttreten der 1. Änderungsverordnung zum 1. April 1988 gesichert vorlagen, während die Versicherten bereits vorher erkrankt oder verstorben und – soweit Wirbelsäulenerkrankungen im Streit waren – aus dem Berufsleben ausgeschieden waren, so daß der Versicherungsfall bei Anwendung der vorgenannten Definition des Versicherungsfalles zu verneinen gewesen wäre.
Die im Urteil vom 22. Februar 1979 geforderte Definition des Versicherungsfalles wird dem Gesetzeszweck des § 551 Abs. 2 RVO und der darin für den Versicherungsträger begründeten Risikozuweisung nicht gerecht. Er beachtet nicht hinreichend, daß der Begriff des Versicherungsfalles kein allgemeingültiger Gesetzesbegriff mit festgelegtem Inhalt ist, sondern im Hinblick auf die jeweilige Rechtsvorschrift und das darin versicherte Risiko zu definieren ist (Urteil des BSG vom 27. Juli 1989, Az.: 2 RU 54/88). Der Versicherungsfall einer Quasi-BK tritt ein, wenn sämtliche Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, die § 551 Abs. 2 RVO voraussetzt, um eine Erkrankung wie eine BK anerkennen zu können. § 551 Abs. 2 RVO fordert, eine Erkrankung wie eine BK zu entschädigen, wenn nach Ergehen der letzten Änderungsverordnung zur BKVO neue medizinische Erkenntnisse gewonnen wurden bzw. sich zur BK-Reife verdichtet haben, die eine Anerkennung des Leidens als BK generell und im gerade betroffenen Einzelfall rechtfertigen. Weder der Wortlaut des § 551 Abs. 2 RVO noch eine andere Bestimmung legen fest, daß nur die Einzelfälle entschädigt werden dürfen, bei denen die Erkrankung nach der Festigung neuer Erkenntnisse aufgetreten sind. Typischerweise wird es vielmehr so sein, daß zumindest eine Vielzahl von Erkrankungsfällen auftreten muß, um zu der von der Rechtsprechung im allgemeinen geforderten langfristigen zeitlichen Überwachung und eine statistisch relevante Vielzahl entsprechender Erkrankungen umfassenden Forschungsergebnissen zu gelangen, die eine Erkrankung erst zur BK qualifizieren. Folglich realisiert sich das nach § 551 Abs. 2 RVO versicherte Risiko erst zu dem Zeitpunkt, in dem entsprechende Erkenntnisse gesichert vorliegen und läßt sodann den Versicherungsfall eintreten (im Ergebnis ebenso: Koch, Die rechtlichen Voraussetzungen für die Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO aus Sicht der gesetzlichen Unfallversicherung, in: BG 93, S. 550, 553; Eilebrecht, Die Rückwirkungsklausel der 2. Verordnung zur Änderung der BKVO (2. ÄVO), in: BG 93, S. 187, 191). Das Gebot des § 551 Abs. 2 RVO, eine Erkrankung wie eine BK zu entschädigen, stellt jedenfalls solange eine originäre Anspruchsgrundlage für die Versicherten dar und gebietet eine Entschädigung auch für "Altfälle” – ggf. unter Beachtung der §§ 44 f. Sozialgesetzbuch 10. Band (SGB X) und der Verjährungsvorschriften – wie der Verordnungsgeber die neuen Erkenntnisse nicht durch Aufnahme der Erkrankung in die BK-Liste umgesetzt hat. Erst mit diesem Akt des Verordnungsgebers u.U. verbunden mit einer Rückwirkungsregelung sind Versicherungsträger und Gerichte an einer Entschädigung von außerhalb des Rückwirkungszeitraumes liegenden "Altfällen” auch im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO gehindert, wie das BSG in seiner ständigen Rechtsprechung zu diesen Fragen entschieden hat. Will man als Entschädigungsvoraussetzung die Existenzen neuer Erkenntnisse zum Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung fordern, wäre eine Entschädigung gerade der Fälle nicht möglich, die Anlaß für die Herausbildung neuer Erkenntnisse gewesen sind, was der Senat in Übereinstimmung mit der erstinstanzlichen Entscheidung und Koch (a.a.O.) im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO sowie unter Beachtung von dessen Normzweck für unvertretbar hält.
Allein diese Definition des Versicherungsfalles steht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung "neuer Erkenntnisse” im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO im Lichte des allgemeinen Gleichheitssatzes. Danach (Beschluss vom 22. Oktober 1981 in SozR 2200 Nr. 19 zu § 551 RVO) ist ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) auch dann anzunehmen, wenn Gerichte im Wege der Auslegung gesetzlicher Vorschriften zu einer dem Gesetzgeber verwehrten Differenzierung gleich zu behandelnder Gruppen gelangen. Im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz soll insoweit nicht einzusehen sein, warum der Umstand, daß die vom Verordnungsgeber nicht berücksichtigten wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Vorliegen einer BK etwas früher oder später (d.h. vor oder nach Erlaß der letzten BKVO-Fassung) gewonnen worden sind, zur Folge haben soll, daß der an einer BK leidende Versicherte in einem Fall Leistungen erhält und der andere nicht. Dasselbe muß zumindest im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO für die Frage gelten, ob die Erkrankung vor oder nach Eintritt der BK-Reife neuer Erkenntnisse ausgebrochen ist. Sofern der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber durch Rückwirkungsvorschriften für Ungleichbehandlungen sorgt, handelt er in originärer Kompetenz und muß sich der Überprüfung durch Fach- bzw. Verfassungsgericht stellen, was hinsichtlich der als BK zur Anerkennung gestellten Wirbelsäulenerkrankungen derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht geschieht.
Die in Art. 2 Abs. 2 der 2. Änderungsverordnung für die Asbesterkrankungen vom Verordnungsgeber getroffene Rückwirkungsregelung zum 1. April 1988 schließt die 1986 aufgetretene Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers nicht von einer Entschädigung wie eine BK aus, da sie weder unmittelbar – worüber kein Streit besteht – noch analog zur Anwendung zu bringen ist. Der Senat sieht die Lösung des Falles vielmehr in einer Anerkennung des Kehlkopfkrebsleidens ohne Beachtung einer fiktiven Rückwirkungsklausel (ebenso Eilebrecht, a.a.O., S. 192). Die von der Beklagten geforderte analoge Anwendung der Rückwirkungsvorschrift in Art. 2 der 2. Änderungsverordnung auf den Fall des Klägers im Gegenzug zur Anerkennung seiner Kehlkopferkrankung unter entsprechender Anwendung der in der 2. Änderungsverordnung für asbestbedingte Lungenerkrankungen in Variante 3 der Ziffer 4104 der Anlage 1 zur BKVO normierten Voraussetzungen berührt mit den Voraussetzungen für einen Analogieschluß rechtsmethodische Fragen. Larenz (Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., S. 350, 379) fordert die Existenz einer Gesetzeslücke, die es für das Gericht durch Analogie oder teleologische Reduktion zu schließen gilt. Eine Gesetzeslücke stellt eine dem Plan des Gesetzgebers widersprechende, also "planwidrige” Unvollständigkeit dar. Er unterscheidet offene von verdeckten Gesetzeslücken. Die "offene Gesetzeslücke” erfordert eine erweiternde Auslegung des Gesetzes, was im allgemeinen im Wege der Analogie geschieht, während die "verdeckte Gesetzeslücke” nach der immanenten Teleologie des Gesetzes zu einer einschränkenden Anwendung im Wege der teleologischen Reduktion führt, was die Beklagte ihrer Auffassung folgend erreichen will. Dies muß aber zum einen daran scheitern, daß die Regelung des § 551 Abs. 2 RVO keine derartige "planwidrige Unvollständigkeit” im Sinne einer verdeckten Gesetzeslücke aufweist und zum anderen es nicht Aufgabe der Rechtsprechung ist, sich im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO durch Fixierung von Rückwirkungszeitpunkten Kompetenzen anzueignen, die bei Aufnahme einer BK in die Liste allein der Rechtssetzungsautonomie des Verordnungsgebers unterliegen und die nach der neueren Rechtsprechung des BSG ab diesem Zeitpunkt auch auf die Regelung des § 551 Abs. 2 RVO durchschlagen. Derartige Kompetenzzuweisungen sind von der Rechtsprechung im Rahmen eines gewaltenteiligen Staatswesens gerade in Fragen analoger Rechtsanwendung in besonderer Weise zu beachten (dazu auch Larenz, a.a.O., S. 399–403). Bevor der Verordnungsgeber über die Aufnahme der BK in die Liste entschieden hat, stellt § 551 Abs. 2 RVO eine originäre Anspruchsgrundlage für den Versicherten dar, ohne daß in Rechtsprechung oder Literatur bisher eine durch Analogieschluß oder im Wege der teleologischen Reduktion zu behebende Unvollständigkeit der Regelung beklagt worden wäre. Die Bestimmung des § 551 Abs. 2 RVO wurde vielmehr durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963 (BGBl. I, S. 241) eingeführt. Nach dessen Art. IV § 2 gilt § 551 Abs. 2 RVO auch für BKen, die vor Inkrafttreten des Gesetzes zum 1. Juli 1963 eingetreten sind, so daß derartige Versicherungsfälle nach den allgemeinen Bestimmungen unter Berücksichtigung der §§ 44 f. SGB X und der Verjährungsvorschrift zu behandeln sind, ohne daß eine "Regelungslücke” zu erkennen wäre.
Der Senat sah sich durch die Tatsache, daß der Verordnungsgeber mit der Frage der Anerkennung des Kehlkopfkrebsleidens nach Asbesteinwirkung befaßt ist, an einer Entscheidung des Rechtsstreits nicht gehindert. Er ist in Übereinstimmung mit Stimmen in Rechtsprechung und Literatur (Urteil des LSG Niedersachsen vom 17. März 1994, Az.: L – 3/U – 131/92; Eilebrecht, a.a.O., S. 192 und Koch, a.a.O., S. 553) der Auffassung, daß laufende Ermittlungen des Verordnungsgebers jedenfalls solange keine "Entscheidungssperre” bewirken können, als Einzelheiten dieser Entscheidung beispielsweise in Form eines Verordnungsentwurfes nicht bekannt sind. § 17 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil verpflichtet die Leistungsträger und in gleicher Weise die deren Verwaltungshandeln überprüfenden Sozialgerichte die den Versicherten zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und schnell zu erbringen. Dem Beschluss des Bundesrates zum Entwurf der 2. Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 -(BR-Drucksache 773/92 – Beschluss) folgend wurde vor nunmehr drei Jahren von einer "baldmöglichsten” Prüfung und Ergänzung der BK-Liste zur Frage von Kehlkopfkrebs durch Asbest gesprochen, ohne daß bisher Ergebnisse bekanntgeworden waren, so daß die von Koch (a.a.O., S. 552) postulierte sozialverträgliche Übergangszeit, während der Entscheidungen nicht ergehen sollten, abgelaufen ist und ein weiteres Zuwarten gerade den von derartigen Krankheitsbildern betroffenen Versicherten nicht zugemutet werden kann. Daher kann das von Brackmann, a.a.O., S. 492 b und ihm folgend vom BSG im Urteil vom 31. Januar 1984, Az.: 2 RU 67/82, sehr pauschal und ohne auf die Besonderheiten des Einzelfalles eingehend geforderte "Vorgriffsverbot” jedenfalls zu Lasten des Klägers nicht Platz greifen. Auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 1 GG mußte die Entscheidung des Senats zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht unterbleiben. Denn der Gleichheitssatz ist nicht verletzt bei Anerkennung eines Leidens als Quasi-BK, wenn dieselben Leiden zu einem späteren Zeitpunkt nach Aufnahme in die BK-Liste wegen einer möglicherweise vom Verordnungsgeber ausgesprochenen begrenzten Rückwirkung abgelehnt werden müssen. Bei § 551 Abs. 2 RVO einerseits und Abs. 1 andererseits handelt es sich um unterschiedliche einer direkten Vergleichbarkeit nicht zugängliche Rechtsgrundlagen (BSGE 72, 303, 307; BSG, Urteil vom 19. Januar 1995, Az.: 2 RU 14/94; Ricke, in Anm. zum Urteil des BSG vom 25. August 1994, Az.: 2 RU 42/93, in: Sozialgerichtsbarkeit 95, 347, 351). Ob der allgemeine Gleichheitssatz zumindest in den Fällen verletzt sein könnte, in denen nach Vorliegen des Entwurfes einer Änderungsverordnung mit Rückwirkungsregelung kurz vor deren Verabschiedung ein danach nicht zu entschädigender Altfall noch nach § 551 Abs. 2 RVO zur Anerkennung gebracht wird, wobei insofern sicher das Vorgriffsverbot zu diskutieren wäre, stellt sich angesichts des mittlerweile dreijährigen Schweigens des Verordnungsgebers nicht (zu derartigen Konstellationen: Eilebrecht, a.a.O., S. 191).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Revision war zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Ziffer 1 SGG), da die Rechtssache diverse Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft, die einer revisionsgerichtlichen Klärung bedürfen, angefangen vom Versicherungsfall im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO, zum Vorliegen neuer Erkenntnisse im Sinne dieser Bestimmung, dem Verhältnis von Abs. 1 und 2 des § 551 RVO im Zeitraum vor der Entscheidung des Verordnungsgebers über die Aufnahme einer Erkrankung in die BK-Liste oder der analogen Anwendung von Rückwirkungsvorschriften bestehender Listen-BKen auf "artverwandte” nach § 551 Abs. 2 RVO zur Entschädigung anstehende Erkrankungen.
II. Die Beklagte hat die dem Kläger entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten der Berufungsinstanz zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger streitet um die Entschädigung einer Kehlkopfkrebserkrankung als bzw. wie eine Berufskrankheit (BK).
Nach mehrmonatiger Heiserkeit wurde beim Kläger im Juni 1986 in der HNO-Klinik der Städtischen Kliniken F. eine Kehlkopftumorerkrankung festgestellt. Im Anschluß an die am 8. Juli 1986 erfolgte Tumoroperation wurde der Kläger radiologisch nachbestrahlt. Der Bericht der Klinik vom 5. November 1986 diagnostiziert ein supraglottisches ulceriertes Kehlkopfcarcinom der Mittellinie unter Beteiligung der Epiglottis, einen Zustand nach radikaler Neck dissection und Mundbodenausräumung rechts, eine supraglottische Kehlkopf-Teilresektion mit primärer Defektdeckung sowie Tracheotomie.
Der Kläger zeigte am 19. Januar 1990 der Beklagten an, daß er die Kehlkopfkrebserkrankung auf seine Tätigkeit bei der Firma F. vom 16. Juli 1973 bis 7. August 1986 zurückführe. Er habe dort ohne Schutz- oder Absaugvorrichtungen in der Schreinerei und auch außerhalb des Betriebes auf Montage Asbestzementplatten bearbeiten müssen. Nach der Mitteilung der F. vom 18. April 1990 war der Kläger vom 16. Juli 1973 bis 30. November 1982 als Schreiner und Monteur im Werk S. beschäftigt, das anschließend stillgelegt wurde. Bis 26. Juli 1986 war er im Verkaufslager der Firma in S. tätig und vom 27. Juni 1986 bis 30. Mai 1988 arbeitsunfähig erkrankt, bevor er aus der Firma ausschied. Die Beklagte zog die Akte des Klägers vom Versorgungsamt F. bei und ließ sodann das arbeitsmedizinisch-internistische Gutachten von Prof. L. und Dr. Le. vom 15. November 1990 mit einem radiologischen Zusatzgutachten des Dr. S. vom 15. Oktober 1990 erstatten. Röntgenologisch sowie computertomographisch konnten sie beim Kläger keine für eine Asbestose typischen pulmonalen oder pleuralen Strukturveränderungen feststellen. Lungenfunktionsanalytisch bestand kein Hinweis auf eine restriktive Ventilationsstörung. Die derzeit verfügbaren epidemiologischen Studien machten nach Meinung der Sachverständigen einen Kausalzusammenhang zwischen der Entstehung von Kehlkopfcarcinomen und einer Asbestexposition nicht wahrscheinlich. Zusätzlich sei festzustellen, daß beim Kläger, der angegeben habe, von 1945 bis 1986 ca. 50 bis 60 Zigaretten täglich geraucht zu haben, ein erheblicher Nikotinabusus und somit einer der Hauptrisikofaktoren für die Entstehung einer derartigen Erkrankung bestanden habe. Nach den derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den erheblichen außerberuflichen Risikofaktoren könne eine Anerkennung des Kehlkopfcarcinoms nach § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht empfohlen werden. Nachdem der Landesgewerbearzt sich mit Stellungnahme vom 12. März 1991 dieser Beurteilung angeschlossen hatte, stellte die Beklagte mit Bescheid vom 27. April 1991 fest, nach dem Gutachten des Prof. L. sei die Krebserkrankung des Klägers nicht mit Wahrscheinlichkeit auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen, auch nicht im Sinne einer Verschlimmerung. Die Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. Ziffer 4103 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) seien ebensowenig erfüllt wie diejenigen des § 551 Abs. 2 RVO. Der Kläger legte am 21. Mai 1991 Widerspruch ein. Die Beklagte machte die Literaturstudie des Dr. Hartung zur Frage des ursächlichen Zusammenhanges zwischen Kehlkopfkrebs und Asbeststaubbelastung vom 10. April 1991 zum Gegenstand des Widerspruchsverfahrens. Die Studie war zu dem Ergebnis gelangt, daß die publizierten Forschungsergebnisse zur Streitfrage widersprüchlich seien und insbesondere aus dem Bereich der Bundesrepublik Deutschland keine gesicherten epidemiologischen Daten vorlägen, weshalb Forschungsbedarf bestehe. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. August 1991 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch des Klägers zurück, da nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft ein Ursachenzusammenhang zwischen Kehlkopfkrebs und beruflicher Asbeststaubbelastung nicht mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne.
Der Kläger legte am 18. September 1991 vor dem Sozialgericht Fulda (SG) Klage ein und vertrat weiterhin die Auffassung, seine Tumorerkrankung sei auf die bei der Firma F. durchgeführte und mit einer erheblichen Asbeststaubbelastung verbundenen Arbeit zurückzuführen.
Das SG ließ das hals-nasen-ohrenärztliche Aktengutachten des Prof. W. und des Dr. M. HNO-Universitätsklinik H., vom 4. November 1992 erstatten, das die Erkrankung des Klägers als Plattenepithelcarcinom beurteilt. Der Alkohol- und Tabakkonsum des Klägers habe zu einem exzessiv erhöhten Kehlkopfkrebsrisiko beim Kläger beigetragen. Es sei von einer 12- bis 13jährigen Asbestfeinstaubexposition im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit bei der Firma F. auszugehen. Eine wesentliche inhalative Belastung sei nach den röntgenologischen und lungenfunktionsanalytischen Erhebungen des Prof. L. nicht gesichert. Die Asbestexposition des Klägers dürfte, selbst wenn man von einem synergistischen Effekt zwischen Tabakrauch und Asbestfeinstaubinhalation ausgehe, eher von untergeordneter Bedeutung für die Entstehung des Tumors zu bewerten sein, da Brückensymptome, die auf eine massive Asbestexposition hinweisen würden, seitens der Lunge weder lungenfunktionsanalytisch noch röntgenologisch nachweisbar seien. Das Gutachten gelangte daher in Übereinstimmung mit Prof. L. zu dem Schluß, daß im Falle des Klägers die Asbesteinwirkung wahrscheinlich nicht von wesentlicher Bedeutung für die Entstehung des supraglottischen Kehlkopfcarcinoms gewesen sei. Eine Fallkontrollstudie zum Thema Beruf und Kehlkopfkrebs sei kürzlich von ihrer Arbeitsgruppe veröffentlicht worden mit Erscheinungsdaten 1991 und 1992 und liefere nach statistischer Bereinigung möglicher Alkohol- und Tabakeffekte keinen Hinweis auf ein asbest-assoziiertes erhöhtes Kehlkopfkrebsrisiko. Eine Übersichtsarbeit von Smith und Mitarbeitern von 1990 habe eine kritische Metaanalyse der Fallkontroll- und Kohortenstudien, die sich mit dem Thema Kehlkopfkrebs und Asbestexposition auseinandergesetzt hätten, durchgeführt. Sie sei nachvollziehbar zu dem Schluß gelangt, daß mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein kausaler Zusammenhang zwischen Asbestexposition und dem Auftreten von Kehlkopfkrebs angenommen werden dürfe. Diese Überlegungen seien durchaus als neue Erkenntnisse zu betrachten. Unter diesem Gesichtspunkt sei die Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO vorstellbar. In Kenntnis der Literaturstudie des Dr. H. spräche unter Berücksichtigung der Arbeit von Smith derzeit mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang zwischen Asbestexposition und Kehlkopfkrebs.
Sodann ließ das SG die Exposition des Klägers gegenüber Zement aufklären, der ebenfalls als Krebsrisikostoff für den Mund- und Kehlkopfbereich wissenschaftlich anerkannt sei. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten führte mit Stellungnahme vom 13. August 1993 aus, in der Schreinerei der Firma F. seien überwiegend Modelle aus Fulguritmaterial gefertigt worden und bei den Beschäftigten müsse von einer Exposition gegenüber Schadstoffen beim Verschleifen von Asbestzement bis 1982 ausgegangen werden. Die bearbeiteten Zementplatten hätten zu 83 % aus Zement und zu 17 % aus Asbest bestanden. In Kenntnis dessen verneinten Prof. W. und Dr. M. mit Stellungnahme vom 23. November 1993 eine Verursachung der Krebserkrankung des Klägers durch die beruflich bedingte Zementexposition auch wenn Hinweise dafür vorlägen, daß eine inhalative Exposition gegenüber Zementstaub möglicherweise eine wesentliche Rolle für die Entstehung von Kehlkopfcarcinomen spielen könne. Die toxikologische bzw. epidemiologische Evidenz sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausreichend, um eine Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO zu rechtfertigen.
Die Beklagte legte schließlich die Stellungnahme ihres TAD vom 28. März 1994 vor, wonach der Kläger im Verlauf seiner Tätigkeit von 1973 bis Mitte 1984 einer Gesamtasbestfaserstaubdosis von 426 Faserjahren ausgesetzt war.
Mit Urteil vom 30. Juni 1994 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, die Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers als BK zu entschädigen. Die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO seien erfüllt angesichts der erheblichen Asbeststaubbelastung des Klägers mit 426 Faserjahren. Bei einer Asbesteinwirkung, die die Mindestgrenze zur Anerkennung einer BK um das 17fache überschreite, müsse von einer so erheblichen beruflichen Einwirkung ausgegangen werden, daß dem im einzelnen nicht genau geklärten Tabakkonsum daneben keine die Asbesteinwirkungen in ihrer Ursächlichkeit verdrängende Bedeutung beigemessen werden könne. Der außerordentlich hohen Asbeststaubbelastung des Klägers komme zumindest neben dem in seinem Umfang umstrittenen Rauchen eine wesentlich mitursächliche Bedeutung zu. Es bestünden auch "neue Erkenntnisse” im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO. Das Fachgespräch vom 26. April 1993 zum Thema "Larynxcarcinom durch Asbest?”, das in der Berufsgenossenschaftlichen Akademie für Arbeitssicherheit in Hennef veranstaltet worden sei, habe beim Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften zu einer Klärung im Sinne der Empfehlung vom 11. November 1993 geführt und habe die Bedenken überwunden, die nach der Studie des Dr. H. möglicherweise noch bestanden hätten. Es sei unschädlich, daß das Krebsleiden des Klägers bereits vor dem 1. April 1988 operativ behandelt worden sei. § 551 Abs. 2 RVO kenne keine Stichtagsregelung und die in der 2. BKVO-Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 enthaltene könne keine entsprechende Anwendung finden. Im übrigen sei zweifelhaft, ob dieselbe mit einer ausreichend weiten Rückwirkung versehen sei. Diese Frist müsse so bemessen sein, daß zumindest die Personen, deren Erkrankungen Anlaß zur Forschung gewesen seien und zum Erwerb neuer Erkenntnisse geführt hätten, die Chance hätten, von der Neuregelung erfaßt zu werden. Dies sei für die durch Asbest verursachten Krebserkrankungen, um die seit Beginn der 80er Jahre gestritten worden sei, bei einem Ausschluß der vor dem 1. April 1988 eingetretenen Erkrankungen nicht der Fall.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 15. August 1994 zugestellte Urteil am 8. September 1994 Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie vorgetragen hat, eine Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO könne nur erfolgen, wenn die neuen medizinischen Erkenntnisse bereits im maßgebenden Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung bestanden hätten. Zum Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung im Jahr 1986 hätten die mittlerweile gewonnenen medizinischen Erkenntnisse noch nicht vorgelegen, so daß der Kläger die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO nicht erfülle. Selbst wenn derartige Erkenntnisse schon 1986 bestanden hätten, wäre zu berücksichtigen, daß die BKVO zum 1. April 1988 und zum 1. Januar 1993 geändert worden sei und insbesondere bei der letzten Änderung die Frage der Gefährdung durch Asbest erneut überprüft und hinsichtlich der Lungenkrebserkrankungen unter der Ziffer 4104 der Anlage 1 zur BKVO erweitert worden sei, so daß eine Anerkennung u.a. beim Nachweis von 25 Asbestfaserjahren erfolgen könne. Eine Anerkennung scheide aus, wenn der Verordnungsgeber bei der nächsten Änderung der BKVO die Erkrankung nicht aufnehme. Die Kehlkopfkrebserkrankung sei nicht aufgenommen worden und eine Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO könne auch aus diesen Gründen nicht erfolgen. Schließlich sei zu beachten, daß die Anerkennung eines Lungenkrebsleidens nach Art. 2 Abs. 2 der 2. BKVO-Änderungsverordnung ausgeschlossen wäre, da der Versicherungsfall nicht nach dem 31. März 1988 eingetreten sei. Wenn das SG zur Begründung seiner Entscheidung die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ziffer 4104 der Anlage 1 zur BKVO analog bei Anerkennung der Kehlkopfkrebserkrankung wie eine BK anwende, müsse es konsequenterweise auch die Rückwirkungsbestimmung entsprechend zur Anwendung bringen. Letztlich sei noch zu berücksichtigen, daß der Verordnungsgeber – unterstellt er hätte die Ziffer 4104 auch auf Kehlkopfkrebserkrankungen erweitert – dies sicherlich auch mit einer begrenzten Rückwirkung wie bei Lungenkrebserkrankungen getan hätte. Für eine abweichende Beurteilung der beiden Sachverhalte bestünden keinerlei Anhaltspunkte. Der im Hinblick auf die Ziffer 4104 erklärte Wille des Verordnungsgebers müsse auch im Rahmen einer parallel gelagerten Kehlkopfkrebserkrankung Berücksichtigung finden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 30. Juni 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme bei Prof. W. und Dr. M. vom 9. August 1995 eingeholt. Diese haben dargelegt, unter Kenntnis der Gesamtasbestfaserstaubdosis von 426 Faserjahren und der Erkenntnisse des Fachgesprächs vom 26. April 1993 sei die berufliche Belastung des Klägers durch Asbest – weniger durch Zement – mit Wahrscheinlichkeit als wesentlich mitursächlich für das Entstehen der Krebserkrankung des Kehlkopfes anzusehen. So sei die beim Kläger festgestellte Faserstaubdosis fast 20mal höher als die seitens des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften geforderte kumulative Dosis von 25 Faserjahren und es sei darauf hinzuweisen, daß gerade eine gleichzeitige Exposition gegenüber Asbest und Tabakrauch das Krebsrisiko zumindest im Hinblick auf das Bronchialcarcinom sprunghaft ansteigen lasse. Die Situation des Klägers sei dem vergleichbar.
Die Beklagte hat daraufhin erklärt, vom medizinisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus trete sie der Auffassung bei, daß das Krebsleiden des Klägers mit Wahrscheinlichkeit auf seine berufliche Asbestexposition zurückzuführen sei, einer Anerkennung des Leidens als BK stünden aber weiterhin die geltend gemachten versicherungsrechtlichen Gesichtspunkte entgegen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand des Verfahrens gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten (§§ 151 Abs. 1, 143, 144 Sozialgerichtsgesetz –SGG–), über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 SGG) ist nicht begründet, da das SG die Beklagte am 30. Juni 1994 zu Recht verurteilt hat, die Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers wie eine BK gemäß § 551 Abs. 2 RVO zu entschädigen.
Da die Krebserkrankung des Kehlkopfes in die Liste der BKen in der Anlage 1 zur BKVO in der Fassung der 2. Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 (BGBl. I, S. 2343) nicht aufgenommen wurde, kam eine Entschädigung des beim Kläger festgestellten Leidens nur in Betracht, weil er die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO erfüllt, wovon das SG richtigerweise ausgegangen ist.
Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der BKVO bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind. Eine abgrenzbare Personengruppe muß bei ihrer Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung bestimmten gesundheitsschädlichen Einwirkungen ausgesetzt sein, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft geeignet sind, Krankheiten der jeweiligen Art zu verursachen. Der ursächliche Zusammenhang der Krankheit mit der gefährdenden Arbeit muß zudem im konkreten Fall hinreichend wahrscheinlich sein. Sinn dieser Regelung ist es nicht, jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Berufstätigkeit im Einzelfall nachgewiesen oder hinreichend wahrscheinlich ist, wie eine BK zu entschädigen. Vielmehr sollen nur solche durch die versicherte Tätigkeit verursachte Krankheiten wie eine BK entschädigt werden, die nur deshalb nicht in die Liste der BKen aufgenommen worden sind, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die Gefährdung bestimmter Personengruppen in ihrer Arbeit bei der letzten Fassung der Anlage 1 zur BKVO noch nicht vorhanden waren, sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur BK-Reife verdichtet hatten, trotz Nachprüfung noch nicht ausreichten oder dem Verordnungsgeber noch nicht bekannt waren (BSGE 59, 295; 72, 303, 305; Urteil vom 25. August 1994, Az.: 2 RU 42/93; Bundessozialgericht – BSG in SozR 2200 Nr. 18 zu § 551 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 492 n ff.; Bereiter-Hahn u.a., Gesetzliche Unfallversicherung, Anm. 8 zu § 551 RVO), es sich somit um "neue Erkenntnisse” im Sinne der Bestimmung handelt.
Der Senat geht in Übereinstimmung mit der erstinstanzlichen Entscheidung und mittlerweile auch beiden Beteiligten davon aus, daß der Kläger die Anerkennungsvoraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO erfüllt.
Nach der abschließenden und für den Senat überzeugenden Stellungnahme des Prof. W. und des Dr. M. vom 9. August 1995 war die berufliche Asbeststaubbelastung des Klägers in einer Gesamtdosis von 426 Faserjahren in seiner Tätigkeit bei der Firma F. als Schreiner/Monteur von 1973 bis Mitte 1984 im Einzelfall wesentlich mitursächlich für das Entstehen der Krebserkrankung des Kehlkopfes im Jahre 1986. Der bis zu dieser Stellungnahme streitige Kausalzusammenhang wurde von den Sachverständigen aufgrund der Erkenntnisse des Fachgespräches vom 26. April 1993 einerseits und der exorbitanten Expositionshöhe andererseits für hinreichend wahrscheinlich angesehen auch angesichts der Tatsache, daß der Kläger als Raucher und Konsument von Alkohol Konkurrenzursachen aufwies, die allerdings wiederum das Erkrankungsrisiko bei stattgehabter Asbestexposition potenzierten.
Die nach § 551 Abs. 2 RVO im allgemeinen zu fordernde gruppenspezifische Risikoerhöhung ist im Falle der Kehlkopfkrebserkrankten nicht mit der im allgemeinen geforderten langfristigen zeitlichen Überwachung des Krankengutes zum Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsstörungen (dazu BSGE 59, 295; Urteile des BSG vom 12. Juni 1990, Az.: 2 RU 21/89 und vom 24. Januar 1990, Az.: 2 RU 20/89 sowie Beschluss des BSG vom 30. Juni 1993, Az.: 2 BU 212/92; Urteil des Senats vom 8. November 1995, Az.: L – 3/U – 143/95) zu erbringen, da infolge der Seltenheit dieses Tumorleidens statistisch abgesicherte Erkenntnisse im vorgenannten Sinne nicht zu erheben sind. In Übereinstimmung mit der Entschließung des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften im Rundschreiben VB 102/93 vom 11. November 1993 kann die "generelle Geeignetheit” in diesem Sinne als gesichert angesehen werden aus Einzelfallstudien, Erkenntnissen und Anerkennungen in der früheren DDR, deren BK-Nr. 93 asbestbedingte Karzinome allgemein und darunter das Kehlkopfcarzinom durch Asbest als BK entschädigte, und bisher nach § 551 Abs. 2 RVO ausgesprochene Anerkennungen entsprechender Erkrankungen in der BRD (dazu Blome, Bericht über die Dokumentation der Fälle des § 551 Abs. 2 RVO – Larynxcarzinom durch Asbest?, in: BK-Report 2/94, S. 19 ff.).
Diese medizinischen Erkenntnisse sind "neu” im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO, da sie sich erst nach Inkrafttreten der 2. Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 zum 1. Januar 1993 zur BK-Reife verdichtet haben. Der Verordnungsgeber konnte dieselben bei Neufassung der 1. und 2. Anderungsverordnung folglich nicht berücksichtigen und entgegen der Auffassung der Beklagten im Berufungsverfahren ist somit aus der Nichtaufnahme des Kehlkopfcarzinoms durch Asbest als BK in die Liste keine für den Kläger negative Folgerung zu ziehen. Die Erkenntnisse vertieften sich zunehmend nach der Wiedervereinigung, nachdem zunächst der ehemalige Vorsitzende der Obergutachtenkommission der DDR, Dr. K. im August 1992 ein Gutachten zur Frage erstellt hatte, welche medizinischwissenschaftlichen Erkenntnisse zur dortigen BK Nr. 93 bestanden, und sie gewannen schließlich die BK-Reife nach dem Fachgespräch in der Berufsgenossenschaftlichen Akademie für Arbeitssicherheit in Hennef vom 26. April 1993, anläßlich dessen die mit der Problematik befaßten namhaften Wissenschaftler den neuesten Wissensstand festgestellt und den Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften damit veranlaßt hatten, die Anerkennung entsprechender Fälle nach § 551 Abs. 2 RVO unter bestimmten Voraussetzungen zu empfehlen. Im Anschluß an das auf der Veranstaltung vorgetragene Referat des Prof. Deitmer zum Thema "Larynxcarzinom durch Asbest? – ein Bericht aus HNO-ärztlicher Sicht” (S. 87 f. im BK-Report 2/94) ist der Hauptverband im Rundschreiben vom 11. November 1993 dem dortigen Vorschlag beigetreten und hat die Anerkennung für den Fall empfohlen, daß neben einer isolierten Kehlkopfkrebserkrankung eines der "Brückensymptome” nach BK-Nr. 4104 der Anlage 1 zur BKVO besteht, u.a. also die Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaubdosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren. Der Senat geht davon aus, daß diese Erkenntnisse als herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft anerkannt sind und hat sie seiner Entscheidung als der aktuellen Sachlage entsprechende Erkenntnisse zugrunde gelegt (zu den Voraussetzungen zum Vorliegen gesicherter Erkenntnisse BSG in SozR 2200 § 551 Nr. 18; BSGE 59, 295, 301). Die zunehmende "Reifung” dieser medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur streitigen Zusammenhangsfrage wird am Falle des Klägers exemplarisch deutlich in der Abfolge der gutachtlichen Äußerungen des Prof. W. und des Dr. M. der selbst den Vorsitz beim Fachgespräch vom 26. April 1993 führte. Zu der den Kausalzusammenhang befürwortenden Auffassung gelangten sie erst im Verlauf des Berufungsverfahrens im August 1995, nachdem sie zuvor im Gutachten vom November 1992 und einer ergänzenden Stellungnahme vom November 1993 den Kausalzusammenhang noch nicht als hinreichend wahrscheinlich angesehen hatten.
Diese "neuen Erkenntnisse” hatte der Senat bei seiner Entscheidung in Anbetracht des 1986 erstmals aufgetretenen Kehlkopfkrebsleidens des Klägers seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Denn das SG hatte über eine vom Kläger erhobene verbundene Anfechtungs- und Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs. 4 SGG entschieden und die Beklagte zur Entschädigung dem Grunde nach gemäß § 130 SGG verurteilt. Im dagegen von der Beklagten eingeleiteten Berufungsverfahren war für die Entscheidung des Senats die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung – und da eine solche im Einverständnis der Beteiligten unterblieben ist – zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats am 13. Dezember 1995 zu beachten (zum maßgeblichen Zeitpunkt bei Verpflichtungs- und Leistungsklagen: Meyer-Ladewig, SGG mit Erläuterungen, Anm. 34 zu § 54 SGG m.w.N.). Werden neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen, ist es im allgemeinen geboten und bei Vorteilhaftigkeit für die Betroffenen unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes zudem unbedenklich, auch zurückliegende Sachverhalte nach diesen mittlerweile vorliegenden Erkenntnissen zu bewerten (ebenso die Rechtsprechung des BSG zur Frage absoluter Fahruntüchtigkeit bei Alkoholgenuß und einer Blutalkoholkonzentration von jetzt 1,1 ‰ gegenüber früher 1,3 ‰ im Urteil vom 25. November 1992, Az.: 2 RU 40/91, der sich der Senat angeschlossen hat). Dies hatte zur Folge, daß für den Senat die mittlerweile zur BK-Reife verdichteten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Frage des ursächlichen Zusammenhanges beruflicher Belastungen und der Entstehung von Kehlkopfkrebserkrankungen im allgemeinen wie auch konkret im Falle des Klägers entscheidungserheblich werden mußten.
Der Senat konnte der Berufung der Beklagten auch nicht im Hinblick auf die Entscheidung des BSG vom 22. Februar 1979, Az.: 8a RU 44/78 stattgeben, wonach bei Anerkennung einer Erkrankung wie eine BK nach § 551 Abs. 2 RVO wie bei allen Sozialversicherungsansprüchen die Anspruchsvoraussetzung im Zeitpunkt des Versicherungsfalles erfüllt sein müssen mit der Folge, daß die beim Kläger 1986 aufgetretene Krebserkrankung bei frühestens 1993 gesicherten medizinischen Erkenntnissen zur Anerkennungsfähigkeit nicht wie eine BK zu entschädigen gewesen wäre (ebenso BSGE 49, 148, 150; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15. Dezember 1987, Az.: L-15/BU – 40/86 sowie zuletzt Urteil des Senats vom 8. November 1995, Az.: L – 3/U – 143/95). Denn das BSG selbst folgt dieser Definition des Versicherungsfalles in anderen Entscheidungen nicht. Sie findet zudem berechtigterweise Widerspruch in Literatur und Rechtsprechung und steht weder mit der ratio legis des § 551 Abs. 2 RVO in Überstimmung noch ist sie frei von verfassungsrechtlichen Bedenken. In der Entscheidung im 52. Band, S. 273, 275, stellt das BSG fest, daß die medizinischen Erkenntnisse auch aus dem entschiedenen Sonderfall gewonnen und als solche im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO beachtlich sein können, womit sie zur Zeit des Versicherungsfalles noch nicht bereits gesichert vorgelegen haben konnten. Auch die Entscheidung des BSG in SozR 2200 Nr. 18 zu § 551 RVO geht davon aus, daß die neuen Erkenntnisse nicht im Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung bereits bestanden haben müssen. Der umfangreichen Rechtsprechung des BSG zum Umfang der Rückwirkungsvorschriften des Art. 2 Abs. 2 der 2. Änderungsverordnung zur BKVO in bezug auf § 551 Abs. 2 RVO hätte es nicht bedurft, wenn das BSG gefordert hätte, daß die neuen medizinischen Erkenntnisse zum Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung bzw. des Todes des Versicherten hätten vorliegen müssen. Denn die einschlägigen Rechtsstreite waren sämtlich dadurch geprägt, daß die neuen medizinischen Erkenntnisse zur BK-Ziffer 4104 (Urteile vom 25. August 1994, Az.: 2 RU 42/93 sowie vom 19. Januar 1995, Az.: 2 RU 14/94) bzw. zu den BK-Ziffern 2108–2109 (Urteile vom 19. Januar 1995, Az.: 2 RU 13/94 sowie Az.: 2 RU 20/94) in der Anlage 1 zur BKVO erst nach Inkrafttreten der 1. Änderungsverordnung zum 1. April 1988 gesichert vorlagen, während die Versicherten bereits vorher erkrankt oder verstorben und – soweit Wirbelsäulenerkrankungen im Streit waren – aus dem Berufsleben ausgeschieden waren, so daß der Versicherungsfall bei Anwendung der vorgenannten Definition des Versicherungsfalles zu verneinen gewesen wäre.
Die im Urteil vom 22. Februar 1979 geforderte Definition des Versicherungsfalles wird dem Gesetzeszweck des § 551 Abs. 2 RVO und der darin für den Versicherungsträger begründeten Risikozuweisung nicht gerecht. Er beachtet nicht hinreichend, daß der Begriff des Versicherungsfalles kein allgemeingültiger Gesetzesbegriff mit festgelegtem Inhalt ist, sondern im Hinblick auf die jeweilige Rechtsvorschrift und das darin versicherte Risiko zu definieren ist (Urteil des BSG vom 27. Juli 1989, Az.: 2 RU 54/88). Der Versicherungsfall einer Quasi-BK tritt ein, wenn sämtliche Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, die § 551 Abs. 2 RVO voraussetzt, um eine Erkrankung wie eine BK anerkennen zu können. § 551 Abs. 2 RVO fordert, eine Erkrankung wie eine BK zu entschädigen, wenn nach Ergehen der letzten Änderungsverordnung zur BKVO neue medizinische Erkenntnisse gewonnen wurden bzw. sich zur BK-Reife verdichtet haben, die eine Anerkennung des Leidens als BK generell und im gerade betroffenen Einzelfall rechtfertigen. Weder der Wortlaut des § 551 Abs. 2 RVO noch eine andere Bestimmung legen fest, daß nur die Einzelfälle entschädigt werden dürfen, bei denen die Erkrankung nach der Festigung neuer Erkenntnisse aufgetreten sind. Typischerweise wird es vielmehr so sein, daß zumindest eine Vielzahl von Erkrankungsfällen auftreten muß, um zu der von der Rechtsprechung im allgemeinen geforderten langfristigen zeitlichen Überwachung und eine statistisch relevante Vielzahl entsprechender Erkrankungen umfassenden Forschungsergebnissen zu gelangen, die eine Erkrankung erst zur BK qualifizieren. Folglich realisiert sich das nach § 551 Abs. 2 RVO versicherte Risiko erst zu dem Zeitpunkt, in dem entsprechende Erkenntnisse gesichert vorliegen und läßt sodann den Versicherungsfall eintreten (im Ergebnis ebenso: Koch, Die rechtlichen Voraussetzungen für die Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO aus Sicht der gesetzlichen Unfallversicherung, in: BG 93, S. 550, 553; Eilebrecht, Die Rückwirkungsklausel der 2. Verordnung zur Änderung der BKVO (2. ÄVO), in: BG 93, S. 187, 191). Das Gebot des § 551 Abs. 2 RVO, eine Erkrankung wie eine BK zu entschädigen, stellt jedenfalls solange eine originäre Anspruchsgrundlage für die Versicherten dar und gebietet eine Entschädigung auch für "Altfälle” – ggf. unter Beachtung der §§ 44 f. Sozialgesetzbuch 10. Band (SGB X) und der Verjährungsvorschriften – wie der Verordnungsgeber die neuen Erkenntnisse nicht durch Aufnahme der Erkrankung in die BK-Liste umgesetzt hat. Erst mit diesem Akt des Verordnungsgebers u.U. verbunden mit einer Rückwirkungsregelung sind Versicherungsträger und Gerichte an einer Entschädigung von außerhalb des Rückwirkungszeitraumes liegenden "Altfällen” auch im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO gehindert, wie das BSG in seiner ständigen Rechtsprechung zu diesen Fragen entschieden hat. Will man als Entschädigungsvoraussetzung die Existenzen neuer Erkenntnisse zum Zeitpunkt des Auftretens der Erkrankung fordern, wäre eine Entschädigung gerade der Fälle nicht möglich, die Anlaß für die Herausbildung neuer Erkenntnisse gewesen sind, was der Senat in Übereinstimmung mit der erstinstanzlichen Entscheidung und Koch (a.a.O.) im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO sowie unter Beachtung von dessen Normzweck für unvertretbar hält.
Allein diese Definition des Versicherungsfalles steht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung "neuer Erkenntnisse” im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO im Lichte des allgemeinen Gleichheitssatzes. Danach (Beschluss vom 22. Oktober 1981 in SozR 2200 Nr. 19 zu § 551 RVO) ist ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) auch dann anzunehmen, wenn Gerichte im Wege der Auslegung gesetzlicher Vorschriften zu einer dem Gesetzgeber verwehrten Differenzierung gleich zu behandelnder Gruppen gelangen. Im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz soll insoweit nicht einzusehen sein, warum der Umstand, daß die vom Verordnungsgeber nicht berücksichtigten wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Vorliegen einer BK etwas früher oder später (d.h. vor oder nach Erlaß der letzten BKVO-Fassung) gewonnen worden sind, zur Folge haben soll, daß der an einer BK leidende Versicherte in einem Fall Leistungen erhält und der andere nicht. Dasselbe muß zumindest im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO für die Frage gelten, ob die Erkrankung vor oder nach Eintritt der BK-Reife neuer Erkenntnisse ausgebrochen ist. Sofern der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber durch Rückwirkungsvorschriften für Ungleichbehandlungen sorgt, handelt er in originärer Kompetenz und muß sich der Überprüfung durch Fach- bzw. Verfassungsgericht stellen, was hinsichtlich der als BK zur Anerkennung gestellten Wirbelsäulenerkrankungen derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht geschieht.
Die in Art. 2 Abs. 2 der 2. Änderungsverordnung für die Asbesterkrankungen vom Verordnungsgeber getroffene Rückwirkungsregelung zum 1. April 1988 schließt die 1986 aufgetretene Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers nicht von einer Entschädigung wie eine BK aus, da sie weder unmittelbar – worüber kein Streit besteht – noch analog zur Anwendung zu bringen ist. Der Senat sieht die Lösung des Falles vielmehr in einer Anerkennung des Kehlkopfkrebsleidens ohne Beachtung einer fiktiven Rückwirkungsklausel (ebenso Eilebrecht, a.a.O., S. 192). Die von der Beklagten geforderte analoge Anwendung der Rückwirkungsvorschrift in Art. 2 der 2. Änderungsverordnung auf den Fall des Klägers im Gegenzug zur Anerkennung seiner Kehlkopferkrankung unter entsprechender Anwendung der in der 2. Änderungsverordnung für asbestbedingte Lungenerkrankungen in Variante 3 der Ziffer 4104 der Anlage 1 zur BKVO normierten Voraussetzungen berührt mit den Voraussetzungen für einen Analogieschluß rechtsmethodische Fragen. Larenz (Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., S. 350, 379) fordert die Existenz einer Gesetzeslücke, die es für das Gericht durch Analogie oder teleologische Reduktion zu schließen gilt. Eine Gesetzeslücke stellt eine dem Plan des Gesetzgebers widersprechende, also "planwidrige” Unvollständigkeit dar. Er unterscheidet offene von verdeckten Gesetzeslücken. Die "offene Gesetzeslücke” erfordert eine erweiternde Auslegung des Gesetzes, was im allgemeinen im Wege der Analogie geschieht, während die "verdeckte Gesetzeslücke” nach der immanenten Teleologie des Gesetzes zu einer einschränkenden Anwendung im Wege der teleologischen Reduktion führt, was die Beklagte ihrer Auffassung folgend erreichen will. Dies muß aber zum einen daran scheitern, daß die Regelung des § 551 Abs. 2 RVO keine derartige "planwidrige Unvollständigkeit” im Sinne einer verdeckten Gesetzeslücke aufweist und zum anderen es nicht Aufgabe der Rechtsprechung ist, sich im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO durch Fixierung von Rückwirkungszeitpunkten Kompetenzen anzueignen, die bei Aufnahme einer BK in die Liste allein der Rechtssetzungsautonomie des Verordnungsgebers unterliegen und die nach der neueren Rechtsprechung des BSG ab diesem Zeitpunkt auch auf die Regelung des § 551 Abs. 2 RVO durchschlagen. Derartige Kompetenzzuweisungen sind von der Rechtsprechung im Rahmen eines gewaltenteiligen Staatswesens gerade in Fragen analoger Rechtsanwendung in besonderer Weise zu beachten (dazu auch Larenz, a.a.O., S. 399–403). Bevor der Verordnungsgeber über die Aufnahme der BK in die Liste entschieden hat, stellt § 551 Abs. 2 RVO eine originäre Anspruchsgrundlage für den Versicherten dar, ohne daß in Rechtsprechung oder Literatur bisher eine durch Analogieschluß oder im Wege der teleologischen Reduktion zu behebende Unvollständigkeit der Regelung beklagt worden wäre. Die Bestimmung des § 551 Abs. 2 RVO wurde vielmehr durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963 (BGBl. I, S. 241) eingeführt. Nach dessen Art. IV § 2 gilt § 551 Abs. 2 RVO auch für BKen, die vor Inkrafttreten des Gesetzes zum 1. Juli 1963 eingetreten sind, so daß derartige Versicherungsfälle nach den allgemeinen Bestimmungen unter Berücksichtigung der §§ 44 f. SGB X und der Verjährungsvorschrift zu behandeln sind, ohne daß eine "Regelungslücke” zu erkennen wäre.
Der Senat sah sich durch die Tatsache, daß der Verordnungsgeber mit der Frage der Anerkennung des Kehlkopfkrebsleidens nach Asbesteinwirkung befaßt ist, an einer Entscheidung des Rechtsstreits nicht gehindert. Er ist in Übereinstimmung mit Stimmen in Rechtsprechung und Literatur (Urteil des LSG Niedersachsen vom 17. März 1994, Az.: L – 3/U – 131/92; Eilebrecht, a.a.O., S. 192 und Koch, a.a.O., S. 553) der Auffassung, daß laufende Ermittlungen des Verordnungsgebers jedenfalls solange keine "Entscheidungssperre” bewirken können, als Einzelheiten dieser Entscheidung beispielsweise in Form eines Verordnungsentwurfes nicht bekannt sind. § 17 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil verpflichtet die Leistungsträger und in gleicher Weise die deren Verwaltungshandeln überprüfenden Sozialgerichte die den Versicherten zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und schnell zu erbringen. Dem Beschluss des Bundesrates zum Entwurf der 2. Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 -(BR-Drucksache 773/92 – Beschluss) folgend wurde vor nunmehr drei Jahren von einer "baldmöglichsten” Prüfung und Ergänzung der BK-Liste zur Frage von Kehlkopfkrebs durch Asbest gesprochen, ohne daß bisher Ergebnisse bekanntgeworden waren, so daß die von Koch (a.a.O., S. 552) postulierte sozialverträgliche Übergangszeit, während der Entscheidungen nicht ergehen sollten, abgelaufen ist und ein weiteres Zuwarten gerade den von derartigen Krankheitsbildern betroffenen Versicherten nicht zugemutet werden kann. Daher kann das von Brackmann, a.a.O., S. 492 b und ihm folgend vom BSG im Urteil vom 31. Januar 1984, Az.: 2 RU 67/82, sehr pauschal und ohne auf die Besonderheiten des Einzelfalles eingehend geforderte "Vorgriffsverbot” jedenfalls zu Lasten des Klägers nicht Platz greifen. Auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 1 GG mußte die Entscheidung des Senats zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht unterbleiben. Denn der Gleichheitssatz ist nicht verletzt bei Anerkennung eines Leidens als Quasi-BK, wenn dieselben Leiden zu einem späteren Zeitpunkt nach Aufnahme in die BK-Liste wegen einer möglicherweise vom Verordnungsgeber ausgesprochenen begrenzten Rückwirkung abgelehnt werden müssen. Bei § 551 Abs. 2 RVO einerseits und Abs. 1 andererseits handelt es sich um unterschiedliche einer direkten Vergleichbarkeit nicht zugängliche Rechtsgrundlagen (BSGE 72, 303, 307; BSG, Urteil vom 19. Januar 1995, Az.: 2 RU 14/94; Ricke, in Anm. zum Urteil des BSG vom 25. August 1994, Az.: 2 RU 42/93, in: Sozialgerichtsbarkeit 95, 347, 351). Ob der allgemeine Gleichheitssatz zumindest in den Fällen verletzt sein könnte, in denen nach Vorliegen des Entwurfes einer Änderungsverordnung mit Rückwirkungsregelung kurz vor deren Verabschiedung ein danach nicht zu entschädigender Altfall noch nach § 551 Abs. 2 RVO zur Anerkennung gebracht wird, wobei insofern sicher das Vorgriffsverbot zu diskutieren wäre, stellt sich angesichts des mittlerweile dreijährigen Schweigens des Verordnungsgebers nicht (zu derartigen Konstellationen: Eilebrecht, a.a.O., S. 191).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Revision war zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Ziffer 1 SGG), da die Rechtssache diverse Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft, die einer revisionsgerichtlichen Klärung bedürfen, angefangen vom Versicherungsfall im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO, zum Vorliegen neuer Erkenntnisse im Sinne dieser Bestimmung, dem Verhältnis von Abs. 1 und 2 des § 551 RVO im Zeitraum vor der Entscheidung des Verordnungsgebers über die Aufnahme einer Erkrankung in die BK-Liste oder der analogen Anwendung von Rückwirkungsvorschriften bestehender Listen-BKen auf "artverwandte” nach § 551 Abs. 2 RVO zur Entschädigung anstehende Erkrankungen.
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