L 5 V 995/69

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 995/69
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 4. Juli 1969 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Beigeladene wird verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 1. April 1945 als Arbeitsunfall zu entschädigen.

Die Beigeladene hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

Tatbestand:

Die 1922 geborene Klägerin beantragte am 3. August 1967 beim Versorgungsamt F. Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen der Folgen eines am 1. April 1945 erlittenen Unfalls, nachdem die Hessen-Nassauische landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft (BG) die bei ihr entstandenen Vorgänge mit dem Hinweis dorthin übersandt hatte, es handele sich nach der Schilderung der Klägerin um einen versorgungsrechtlichen Anspruch. Sie habe zusammen mit ihrem Bruder das Scheunendach des elterlichen Anwesens ausbessern wollen, das beim Einmarsch der amerikanischen Truppen durch Artilleriebeschuß am 31. März 1945 beschädigt worden sei, um Heu- und Strohvorräte vor dem Verderb zu schützen. Hierbei sei sie von einen beschädigten Balken abgestürzt und habe sich die Wirbelsäule und das Becken verletzt.

Das Versorgungsamt zog die BG gemäß § 11 VfG (KOV) zum Verfahren bei und lehnte alsdann den Antrag mit Bescheid vom 2. Oktober 1967 ab. Zur Begründung führte es aus, der Unfall der Klägerin sei nicht durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung, sondern durch eine auf Abwendung ihrer Folgen gerichtete Handlung verursacht worden.

Hiergegen erhoben die Klägerin und die BG Widerspruch, dem mit Bescheid vom 20. November 1967 nicht abgeholfen wurde.

Das Sozialgericht Fulda hat die BG mit Beschluss vom 23. Februar 1968 zum Verfahren beigeladen, den Bruder der Klägerin, J. H. als Zeugen vernommen und ein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt, das der Medizinalassistent Dr. F. am 6. Dezember 1968 erstattet hat und mit dem der Chefarzt der Medizinischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses F., Facharzt für Chirurgie Prof. Dr. R., einverstanden war. Sie haben eine Fraktur mit einem oberen und einem unteren Wirbeldeckplatteneinbruch mit genügender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall vom 1. April 1945 zurückgeführt. Die hierdurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei zur Zeit mit 30 v.H. zu veranschlagen.

Mit Urteil vom 4. Juli 1969 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, wegen dieser Fraktur und ihrer Folgen Rente nach einer MdE um 30 v.H. nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu zahlen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der Unfall der Klägerin sei auf unmittelbare Kriegseinwirkungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Buchstabe a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. d und c BVG zurückzuführen. Seine Folgen seien von den medizinischen Sachverständigen zweifelsfrei festgestellt worden und gäben Anlaß zu der getroffenen Entscheidung.

Gegen dieses Urteil, das dem Beklagten am 18. September 1969 zugestellt worden ist, richtet sich seine am 25. September 1969 beim Hess. Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung führt er aus, das Sozialgericht sei auf die Vorschrift des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG nicht eingegangen. Der dort geforderte ursächliche Zusammenhang zwischen kriegerischen Vorgängen und den gesundheitlichen Schäden der Klägerin liege nicht vor, weil nicht der Artilleriebeschuß selbst, sondern Aufräumungsarbeiten die Gesundheitsschädigung herbeigeführt hätten. Hierzu verweise er auf die einschlägige Rechtsprechung.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 4. Juli 1969 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Beigeladene zur Anerkennung und Entschädigung des Unfalls vom 1. April 1945 zu verurteilen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf das von ihr geschilderte Unfallgeschehen, das in erster Linie für einen von Bestimmungen den BVG erfassten Sachverhalt spreche.

Die Beigeladene beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung setzt sie sich mit der Rechtsprechung zu § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG auseinander, welche ihres Erachtens die Begründetheit des klägerischen Anspruches ergebe. Es sei infolge der kriegseigentümlichen Begleitumstände beim Einmarsch der Amerikaner in den Heimatort der Klägerin nicht möglich gewesen, bis zum Unfall am 1. April 1945 den gefährlichen Zustand vom Tage zuvor zu beseitigen. Auch müsse von den Feindtruppen als gewollt angesehen werden, daß die in der Scheune lagernden Erntevorräte dem Verderb ausgesetzt werden und bleiben sollten.

Der Senat hat die Klägerin persönlich angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung des J. H. als Zeugen. Wegen der Angaben der Klägerin und der Bekundungen des Zeugen wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 5. August 1970 verwiesen.

Die Akten des Versorgungsamtes F. mit der Grdl. Nr. sowie die Vorgänge der Beigeladenen über die Klägerin haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt wurden (§§ 143, 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Sie ist auch begründet.

Der Senat vermochte sich der Auffassung des Vordergerichts nicht anzuschließen. Denn der Unfall, den die Klägerin am 1. April 1945 erlitten hat, ist nicht zugleich eine gesundheitsschädigende Einwirkung oder eine Schädigung im Sinne des § 54 BVG in der Fassung des 2. und 3. Neuordnungsgesetzes (NOG).

Rechtsgrundlage ist § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG, nicht § 1 Abs. 1 dieser Vorschrift, wie im angefochtenen Urteil angegeben worden ist, in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG. Ein Vorgang, der unter § 5 Abs. 1 Buchst. c BVG zu subsumieren wäre, liegt entgegen den Zitat auf Seite 1 der Entscheidungsgründe des sozialgerichtlichen Urteils nicht vor. Sollte es sich dabei nicht nur um einen übersehenen Schreibfehler handeln, dann ist das Urteil insoweit von vornherein sachlich unrichtig. Denn von einer Flucht, auf der schädigende Einwirkungen erfolgt sind, haben die Klägerin und die Beigeladene nichts vorgetragen.

Für das Vorliegen eines unter § 5 Abs. 1 Buchst. d fallenden Sachverhaltes, den der Vorderrichter ferner als gegeben erachtet hat, sind gleichfalls keine Hinweise ersichtlich. Schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind, umfassen solche, die für die Besetzung und anschließende Besatzungszeit charakteristisch und eigentümlich sind. Hierzu rechnen außer Gewalttätigkeiten und Willkürakten gegen Einzelne alle allgemeinen Maßnahmen der Besatzungsmacht, welche die einheimische Bevölkerung an Leib und Leben bedrohten. Das ist vorliegend jedoch nicht relevant. Zwar kann nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. z.B. BSGE 16, 195) darüber hinaus auch ein Mangelzustand für Deutsche wegen Vernichtung von Lebens- und Heilmittelvorräten von § 5 Abs. 1 Buchst. d erfaßt sein, ebenso wie die ungenügende Versorgung zurückgebliebener deutscher Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten durch Maßnahmen der Besatzungsmacht. Hiervon unterscheidet sich der vorliegende Fall indessen in jeder Hinsicht. Denn der erst für die zukünftige Zeit erwartete allmähliche Verderb von Heu- und Strohvorräten durch Witterungseinflüsse hätte weder für die Klägerin noch für ihre Familie zu einer Hungersnot oder einer anderen besonderen Gefahr geführt, die überdies infolge von Besatzungsmaßnahmen unabwendbar gewesen wäre. In Bezug auf die Bestimmung des § 5 Abs. 1 Buchst. d ist das angefochtene Urteil mithin ebenfalls nicht zu halten.

Das gleiche gilt aber auch im Hinblick auf die Beantwortung der Frage, ob nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge vorlagen, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen hatten (§ 5 Abs. 1 Buchst. e). Nach Auffassung des Senats mangelt es nämlich zunächst bereits an dem Vorliegen eines "kriegseigentümlichen Gefahrensbereiches”. Obwohl die Zerstörungen am Dach der Scheune durch das eigentliche Kriegsgeschehen – Artilleriebeschuß und Einnahme des Dorfes durch die amerikanische Armee im Kriege – verursacht worden sind, so war dadurch doch keine für die Kriegsereignisse typische und unmittelbare, wenn auch erst nachträgliche Gefahr für Leben und Gesundheit der Hofbewohner oder anderer Personen geschaffen worden. Sie würde bestanden haben, wenn die Scheune wegen des teilzerstörten Daches einzustürzen und Menschen zu verletzen gedroht hätte. Das war aber weder nach den Akten noch in Wertung der Beweisaufnahme der Fall. Es ging vielmehr nach den Angaben der Klägerin, welche die Beigeladene sich zu eigen gemacht hat und nach den Bekundungen des Zeugen H. nur darum, in der Scheune lagerndes Heu und Stroh vor künftigem Verderb zu schützen. Der Zustand des Gebäudes selbst bildete keine allgemeine Gefahrenquelle. Damit war der schädigende Vorgang – Absturz beim Abdecken der Vorräte – einer anderen Gefahrenquelle entsprungen, der keine unmittelbare Verbindung mit einem typischen Kriegsgeschehen mehr zu eigen war (vgl. BSGE 6, 102; Urteil v. 14.5.1968 – Az.: 11/9 RV 984/55 –), wobei so betrachtet, dem Umstand keine wesentliche Bedeutung zukommt, daß ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Dachzerstörung und Schutz der Vorräte einerseits sowie dem Unfall andererseits gegeben war. Denn die kriegerische Vorgänge müssen mit dem Gesundheitsschaden in erster Linie in einem kausalen Zusammenhang stehen (vgl. Wilke, Kommentar zum BVG, Anm. V zu § 5 BVG). Ein solcher liegt aber nicht vor, weil § 5 Abs. 1 Buchst. e nicht nur voraussetzt, daß die Kriegsereignisse einen Gefahrenbereich geschaffen haben, der in kriegseigentümlicher Weise entstanden ist, sondern auch einen solchen, der nach der Entstehung fortwirkend kriegseigentümlich geblieben ist (vergl. hierzu BSG in Soz. Gerichtsbarkeit 1968 Seite 245). Das trifft für ein teilzerstörtes Scheunendach ohne durch die Zerstörung bedingte unmittelbare Gefährdung von Personen aber nicht zu. Die Vorschrift des § 5 Abs. 1 Buchst. e könnte grundsätzlich nur einschlägig sein, wenn die Klägerin zur Abwendung des drohenden Einsturzes oder zur Beseitigung anderer vom Zustand des Gebäudes ausgehender und andauernder kriegseigentümlicher Gefahren tätig geworden und verletzt worden wäre. Die beabsichtigte Abwendung mittelbarer Schäden in Form von Verderb der Scheunenvorräte ist dem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich vorliegend nicht mehr zuzurechnen.

An diesem Ergebnis änderte sich auch dann nichts, wenn der Senat dem Vorbringen der Beigeladenen folgen und annehmen würde, daß der Beschuß des Heimatortes der Klägerin durch die Amerikaner vor seiner Einnahme gleichzeitig die Vernichtung von Erntevorräten zur Absicht gehabt habe. Denn der vom BSG entschiedene Fall, daß Hungersnot in einem vom Feind eingeschlossenen Gebiet durch Vernichtung der notwendigen Vorräte an Nahrungs- und Heilmitteln durch Kampfmaßnahmen auch eine nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge sein kann (s. BSGE 2, 99), ist auf die zu entscheidende Streitsache nicht zu übertragen. Selbst bei Unterstellung, das eingelagerte Heu und Stroh wäre ohne Abdecken restlos unbrauchbar geworden, obwohl es tatsächlich durch Umstapeln auf mindestens ebenso gute und noch dazu gefahrlose Weise hätte geschützt werden können, hätte ein kriegseigentümlicher Gefahrensbereich aufgrund kriegerischer Vorgänge nicht bestanden. Die Zeit von April bis zur neuen Ernte hätte sich im vorliegenden Fall nämlich ohne weiteres überbrücken lassen, sei es durch Ausleihe oder Ankauf neuer Futtermittel. Zu einer Hungersnot wäre es jedenfalls nicht gekommen, sondern allenfalls zu einer gewissen wirtschaftlichen Einbuße, die nicht unter § 5 Abs. 1 Buchst. e zu subsumieren gewesen wäre. Auf die sich anknüpfende Frage, ob drohende Hungersnot zum unbedingten Handeln, wie am 1. April 1945 geschehen, gezwungen hätte, war daher auch als Hilfserwägung nicht mehr einzugehen.

Ein anderes Ergebnis zeigt sich auch nicht bei weiter Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmung in die Richtung, daß das Abdecken der Erntevorräte deshalb unter einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich gefallen sei, weil es zwingend mit dem Betreten und Besteigen von beschädigten Scheunenbalken verknüpft war. Denn es ist nicht hinreichend wahrscheinlich, geschweige denn erwiesen, daß der Unfall der Klägerin infolge eines durch Artilleriebeschuss angebrochenen Balkens verursacht worden ist. Weder sie noch ihr Bruder vermochten nämlich zu belegen, daß der Grantdurchschuss durch das Dach auch den tiefer liegenden Bohlen- oder Stangenaufsatz in Mitleidenschaft gezogen hat, der als eine Art von Zwischenboden diente und auf dem das abzudeckende Stroh lagerte. Beide nehmen das nur an, ohne daß der Balken, der durch Feindbeschuss beschädigt worden sein soll, untersucht worden ist. Da dieser Balken oder die betreffende Stange noch mit Stroh bedeckt gewesen war, ist diese Annahme aber unwahrscheinlich. Denn ein Granteinschlag, der den Zwischenboden ebenfalls getroffen hätte, würde das leichte Stroh hinweggefegt haben. Dann hätte aber an dieser Stelle auch kein Anlaß zum Abdecken des Vorrates mehr bestanden, weshalb unerfindlich wäre, weshalb die Klägerin sich gerade dort aufgehalten hat, um Planen oder Decken auszubreiten. Bei dem tatsächlichen Geschehensablauf, wie er sich durch ihre Anhörung und die Vernehmung ihres Bruders ergeben hat, ist es allenfalls möglich, daß der Absturz in die Tenne wegen eines zerschossenen oder auf andere Weise in Zusammenhang mit dem Granattreffer beschädigten Balkens (oder einer Bohle oder Stange) erfolgt ist. Zwingend oder auch nur wahrscheinlich ist eine solche Annahme nicht. Daß der Zwischenboden an dieser Stelle infolge des Alters der Scheune oder wegen Witterungseinflüssen oder Ungezieferfrasses morsch gewesen war und beim Betreten gebrochen ist, bietet sich als Erklärung des Geschehens viel eher an, zumal die Absturzstelle rein äußerlich nicht als Gefahrenquelle zu erkennen war. Ein durch Granatbeschuss beschädigter Balken hätte aber mit Sicherheit Anzeichen ergeben. Denn es ist ganz einfach nicht möglich, daß ein Einschlag keine Spuren hinterlässt. Allein schon die Luftdruckeinwirkung würde den Zwischenboden freigelegt und die Zerstörung sichtbar gemacht haben. Nach Angaben der Klägerin und des Zeugen soll jedoch kein auf Beschuss hindeutendes äußeres Merkmal vorhanden gewesen sein. Nicht auszuschließen ist auch, dass der Unfall durch eine Ungeschicklichkeit der Klägerin oder durch einfaches Ausrutschen verursacht wurde. In Wertung des Ergebnisses der Beweisaufnahme kann daher selbst bei weitester Auslegung nicht von einem nach dem BVG zu entschädigenden Vorgang ausgegangen werden. Der Unfall stellt sich vielmehr als Arbeitsunfall eines mithelfenden Familienmitgliedes in der Landwirtschaft dar, der nach den einschlägigen Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung zu entschädigen ist. Bei dieser Sachlage bestand für den Senat Veranlassung, auf den Hilfsantrag der Klägerin hin von der Vorschrift des § 75 Abs. 5 i.V.m. § 130 S. 1 SGG Gebrauch zu machen.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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