Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 641/69
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 10. April 1969 wird als unzulässig verworfen.
Der Tenor des erstinstanzlichen Urteils wird mit der Maßgabe geändert, daß der Beklagte verurteilt wird, an die Rechtsnachfolger des verstorbenen Klägers Pflegezulage der Stufe I vom 1. Juli 1965 an bis zu dessen Tode zu gewähren.
Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu tragen.
Tatbestand:
Der 1897 geborene und am 1969 verstorbene Kläger hatte als Teilnehmer am 1. Weltkrieg mit Umanerkennungsbescheid nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 24. September 1951 wegen, Erheblicher Muskelschwund der ganzen re. Beinmuskulatur, Deformierung und Versteifung des Kniegelenkes, Versteifung am oberen und unteren Sprunggelenk in Spreizfußstellung, Durchblutungs- und Gefühlsstörungen im Unterschenkel und Fußbereich mit Stauungserscheinungen nach Oberschenkelsteckschuß mit Schlagaderverletzung und späterem Unfall” als Schädigungsfolgen Rente nach einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 v.H. erhalten. Auf einen Erhöhungsantrag vom Juni 1954 hin, mit dem er gleichzeitig erstmalig Pflegezulage beantragt hatte, war der Neufeststellungsbescheid vom 26. Februar 1955 ergangen, durch den die Rente unter Neubenennung der Schädigungsfolgen mit, Versteifung des re. Fußgelenkes in extremer Spitzfußstellung, Deformierung und praktische Versteifung des re. Kniegelenkes in ungünstiger Stellung mit Durchblutungs-, Stauungs- und Gefühlsstörungen am Unterschenkel und Fuß nach Verletzung der Oberschenkelschlagader und späterem Schienbeinkopfbruch” auf 80 v.H. erhöht worden war. Die Gewährung von Pflegezulage war mangels Hilflosigkeit abgelehnt worden. Nachdem der Kläger im Februar 1965 auf sein rechtes Bein gestürzt war und sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatte, hatte er abermals Neufeststellung und am 26. Juli 1965 Pflegezulage beantragt.
Hierauf hatte das Versorgungsamt D. ihn am 15. Oktober 1965 durch den Facharzt für Chirurgie Dr. M. begutachten lassen. Dieser hatte ausgeführt, unter den gegebenen Umständen infolge der mittelbaren Schädigung durch den Schenkelhalsbruch schätze er die MdE auf 90 v.H. ein. Er sei geneigt, auch die Voraussetzungen eines Pflegegeldes als erfüllt anzusehen. Zu mehreren regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen werde fremde Hilfe in Anspruch genommen, ohne die der Kläger in seiner Existenz bedroht oder gefährdet wäre. Seine Angaben seien überzeugend und könnten schon anläßlich des Untersuchungsvorganges weitgehend bestätigt werden. Sicherlich wirke sich die körperliche Konstitution zusammen mit dem Alterungsvorgang ungünstig aus. Wesentlich hierbei sei aber auch die erhebliche Schädigungsfolge. In einem Prüfvermerk vom 29. November 1965 hatte der Ärztliche Dienst des Versorgungsamtes Hilflosigkeit im Sinne des BVG als Voraussetzung für die Gewährung einer Pflegezulage verneint, worauf mit Neufeststellungsbescheid vom 3. Dezember 1965 eine Erhöhung der MdE auf 90 v.H. vorgenommen, die Schädigungsfolgen in
"Versteifung des re. Fußgelenkes in extremer Spitzfußstellung, Deformierung und praktische Versteifung des re. Kniegelenkes in ungünstiger Stellung, mit Durchblutungs-, Stauungs- und Gefühlsstörungen am Unterschenkel und Fuß nach Verletzung der Oberschenkelschlagader und späterem Schienbeinkopfbruch und Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk” umbenannt worden waren, die Gewährung von Pflegezulage jedoch abgelehnt worden war. Zur Begründung war ausgeführt worden, die fachärztliche Untersuchung und Begutachtung habe ergeben, daß der Kläger nur für einzelne Verrichtungen des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sei und ihrer nicht dauernd bedürfe.
Das Widerspruchsverfahren war erfolglos geblieben. Durch Widerspruchsbescheid vom 21. September 1966 war der angefochtene Bescheid auch in Bezug auf die Entscheidung über die Pflegezulassung bestätigt worden.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt, in dessen Verlauf der Kläger seinen Anspruch nach Erteilung eines Neufeststellungsbescheides vom 27. Februar 1967, durch den der Grad der MdE auf 100 v.H. erhöht worden war, auf die Gewährung von Pflegezulage beschränkt hatte, wurde Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens. Die Fachärztin für Orthopädie Dr. St. hat in ihrem Gutachten vom 17. Februar 1968 zur Frage der Hilflosigkeit, die im Beweisbeschluß vom 14. November 1967 im einzelnen erläutert worden war und zu deren Beantwortung ihr Orientierungspunkte aus dem Vorbringen des Klägers gegeben worden waren, ausgeführt, nach ihren Beobachtungen und Untersuchungsergebnissen sei der Kläger tatsächlich in überwiegendem Maße auf fremde Hilfe angewiesen. Er benötige diese für die meisten gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens und sei nur noch in der Lage, die gewöhnlich sitzend am Tisch zu verrichtenden Arbeiten zu erledigen. Erschwerend falle ins Gewicht, daß ihn das in ungünstiger Stellung versteifte rechte Bein mehr behindere als es eine technisch ausgereifte Prothese zu tun vermöchte. Sie halte die Gewährung einer Pflegezulage nach Stufe I für gerechtfertigt.
In seiner Stellungnahme hierzu hat der Beklagte vorgetragen, die Gutachterin sei auf die ihr vom Gericht gestellten präzisen Fragen nicht eingegangen. Überdies habe sie auch nicht bewiesen, daß die Erschwernisse des Klägers größer seien als die eines Oberschenkelamputierten ohne Prothese. In Anbetracht der noch voll erhaltenen Funktion beider Arme und des linken Beines sowie einer Teilbeweglichkeit des rechten Hüftgelenkes beschränke sich die Inanspruchnahme dritter Personen nur auf Einzelverrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens.
Mit Urteil vom 10. April 1969 hat das Sozialgericht den Beklagten unter teilweiser Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, ab 1. Juli 1965 Pflegezulage der Stufe I zu gewähren. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des § 35 BVG seien erfüllt, da ständig eine Hilfskraft für den Kläger bereit sein müsse. Ob ein Zustand der Hilflosigkeit vorliege, sei keine reine medizinische, sondern Tatfrage. Der Facharzt für Chirurgie Dr. M. habe die Voraussetzungen für eine Pflegezulage als erfüllt angesehen. Auch die Gerichtsgutachterin habe die Gewährung einer solchen bejaht, wenn der Wert ihres Gutachtens zur Beurteilung dieser Frage auch gering sei, weil sie die präzisen Fragen des Gerichts nicht beantwortet habe. Den Kläger erneut ärztlich in Bezug auf das Ausmaß seiner Hilfsbedürftigkeit untersuchen zu lassen, sei nicht sinnvoll erschienen. Die Kammer sei mehr oder weniger auf den Sachverhalt und die Angaben des Klägers angewiesen gewesen, die insgesamt glaubhaft seien. Hiernach sei er nach seinem Schenkelhalsbruch so hilflos, daß er für die gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe oder Hilfsbereitschaft dauernd bedürfe. Sie besitze auch einen wirtschaftlich meßbaren Wert.
Gegen dieses Urteil, das dem Beklagten am 20. Mai 1969 zugestellt worden ist, richtet sich seine am 18. Juni 1969 beim Hess. Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung rügt er das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels. Da das Sozialgericht selbst den Beweiswert des gerichtlichen Gutachtens als gering bezeichnet habe, wäre von seinem Standpunkt her eine ergänzende Beweisaufnahme dringend geboten gewesen. Dieser Mangel sei erkannt worden. Dennoch habe sich das Gericht auf den Akteninhalt zurückgezogen. Seine Erwägung, ein weiteres Gutachten sei nicht sinnvoll, könne die Verpflichtung zu weiterer Beweisaufnahme nicht aufheben. Die notwendige Beweiserhebung sei durch das Berufungsgericht nachzuholen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 10. April 1969 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Witwe des Klägers,
die den Rechtsstreit als seine Rechtsnachfolgerin aufgenommen hat, beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil in der Sache für zutreffend. Ein wesentlicher Verfahrensmangel liege nicht vor.
Die Akten des Versorgungsamtes D. mit der Grdl. Nr ... haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) frist und formgerecht eingelegte Berufung ist im übrigen nicht zulässig. Denn Streitgegenstand ist vorliegend die Neufeststellung der Pflegezulage, so daß § 148 Ziff. 3 SGG zum Zuge kommt, ohne daß die dort geregelten Ausnahmetatbestände Platz greifen. Auch § 150 Ziff. 3 SGG ist nicht angesprochen, da der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG nicht streitig ist.
Unbeschadet des § 148 Ziff. 3 SGG könnte die Berufung daher nur zulässig sein, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und auch vorliegt. Hierfür hat sich der Beklagte darauf berufen, daß das Vordergericht seine Verpflichtung zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts i.S. der §§ 103, 106 SGG verletzt habe. Es habe nämlich die Voraussetzungen für die Gewährung der beantragten Leistung als gegeben angesehen obwohl es den Beweiswert des von ihm eingeholten medizinischen Sachverständigengutachtens als gering bezeichnet und kein anderes Gutachten beigezogen habe. Diese Rüge geht nach Überzeugung des Senats fehl.
Rechtsgrundlage ist vorliegend § 35 Abs. 1 BVG, wonach eine Pflegezulage gewährt wird, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf. Nach zutreffender herrschenden Rechtsansicht sind die einzelnen Tatbestände dieser Vorschrift nur zu einem Teil medizinisch zu beurteilen. Im übrigen handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die nach richterlichem Ermessen ohne Zuhilfenahme eines ärztlichen Sachverständigen als Tatfrage in jedem Einzelfall gesondert zu prüfen und zu werten sind. So betrachtet wäre der Vorderrichter nicht gehalten gewesen, ein medizinisches Gutachten einzuholen, insbesondere nachdem der Facharzt für Chirurgie Dr. M. den in sein Fachgebiet fallenden Teil der zu beantwortenden Frage bejaht hatte.
Er hat den Kläger auf Veranlassung des Beklagten untersucht und sich während des Untersuchungsvorganges eine eigene Vorstellung von seinem Zustand und den Bewegungsmöglichkeiten verschafft. Wenn Dr. M. seine Beurteilung alsdann auch vorsichtig dahin formuliert hat, er sei geneigt, die Voraussetzungen eines Pflegegeldes als erfüllt anzusehen, so hat er in den nachfolgenden Sätzen doch eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß der Kläger in seiner Existenz bedroht oder gefährdet wäre, wenn ihm keine Fremdhilfe zur Verfügung stehe. Hiernach hat er – medizinisch gesehen – die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 BVG bejaht. Wenn der Vorderrichter nun unbeschadet der Tatsache, daß er ein medizinisches Gutachten von Gerichts wegen eingeholt hat, Dr. M. Auffassung gefolgt ist und das erkennbar zum Ausdruck gebracht hat, dann war er aus seiner Sicht auch nicht gehalten, noch weiteren Beweis über medizinische Fragen zu erheben. Ein Verstoss gegen §§ 103, 106 SGG könnte nur vorliegen, wenn er sich mit dem Gutachten des Dr. M. nicht auseinandergesetzt, sondern seine Urteilsfindung allein auf das Gutachten der Orthopädin Dr. St. gestützt hätte, dessen Beweiswort nach seiner Meinung nur gering sein soll. Erhebt ein Richter Beweis ohne gegebene zwingende Veranlassung und erkennt den Fehler nach Abschluss der Beweisaufnahme, so widerspricht es den Regeln des Prozeßrechts und der Prozeßökonomie, ihn im Hinblick auf §§ 103, 106 SGG dazu anzuhalten, diesen Fehler durch weitere Beweiserhebung weiterwirken zu lassen und zu vergrößern. § 128 Abs. 1 SGG kann insoweit dann ebenfalls nicht verletzt sein, wenn er das seiner Meinung nach nicht erschöpfende Gutachten nicht zur Grundlage seiner Entscheidung macht, sondern auf ein anderes – die Beweisfrage aus seiner Sicht bejahendes – Gutachten stützt. Der Umstand, daß auch dieses Gutachten die dem Rechtsstreit zugrundeliegende Vorschrift nur zu einem Teil berührt oder ausfüllt, weil Tatfragen im Vordergrund stehen, ist im Hinblick auf das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels unbeachtlich. Er ist allein unter den Gesichtspunkt des "error in iudicando” zu sehen.
Soweit der Vorderrichter die in § 35 Abs. 1 BVG enthaltenen weiteren Tatbestände geprüft hat, liegt weder ein Verstoss gegen §§ 103, 106 noch gegen § 128 Abs. 1 SGG vor. Ihr durfte die Angaben des Klägers und den Inhalt der ihm vorliegenden Akten in Bezug auf die Beantwortung der Frage werten, ob dieser so hilflos war, wie in der einschlägigen Vorschrift vorausgesetzt wird. Hält ein Richter Angaben eines Beteiligten für glaubhaft und erschöpfend, dann ist er nicht gehalten, Beweis über das Vorliegen von Tatumständen zu erheben. Begründet er seine dahingehende richterliche Überzeugung ausreichend, dann ist auch § 128 Abs. 1 SGG nicht angesprochen. Beides ist aber vorliegend geschehen. Ob das Ergebnis der vorderrichtlichen Überprüfung so, wie es in dem angefochtenen Urteil zum Ausdruck gekommen ist, der Rechtslage entspricht, war vom Senat nicht zu entscheiden. Denn das gehört zum sachlichen Gehalt des Urteils, mit dem sich das Berufungsgericht im Hinblick auf § 148 Ziffer 3 SGG nicht befassen durfte, zumal wesentliche Verfahrensmängel, die auch ohne Rüge von Amtswegen zu beachten sind, nicht ersichtlich waren.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Der Tenor des erstinstanzlichen Urteils wird mit der Maßgabe geändert, daß der Beklagte verurteilt wird, an die Rechtsnachfolger des verstorbenen Klägers Pflegezulage der Stufe I vom 1. Juli 1965 an bis zu dessen Tode zu gewähren.
Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu tragen.
Tatbestand:
Der 1897 geborene und am 1969 verstorbene Kläger hatte als Teilnehmer am 1. Weltkrieg mit Umanerkennungsbescheid nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 24. September 1951 wegen, Erheblicher Muskelschwund der ganzen re. Beinmuskulatur, Deformierung und Versteifung des Kniegelenkes, Versteifung am oberen und unteren Sprunggelenk in Spreizfußstellung, Durchblutungs- und Gefühlsstörungen im Unterschenkel und Fußbereich mit Stauungserscheinungen nach Oberschenkelsteckschuß mit Schlagaderverletzung und späterem Unfall” als Schädigungsfolgen Rente nach einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 v.H. erhalten. Auf einen Erhöhungsantrag vom Juni 1954 hin, mit dem er gleichzeitig erstmalig Pflegezulage beantragt hatte, war der Neufeststellungsbescheid vom 26. Februar 1955 ergangen, durch den die Rente unter Neubenennung der Schädigungsfolgen mit, Versteifung des re. Fußgelenkes in extremer Spitzfußstellung, Deformierung und praktische Versteifung des re. Kniegelenkes in ungünstiger Stellung mit Durchblutungs-, Stauungs- und Gefühlsstörungen am Unterschenkel und Fuß nach Verletzung der Oberschenkelschlagader und späterem Schienbeinkopfbruch” auf 80 v.H. erhöht worden war. Die Gewährung von Pflegezulage war mangels Hilflosigkeit abgelehnt worden. Nachdem der Kläger im Februar 1965 auf sein rechtes Bein gestürzt war und sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatte, hatte er abermals Neufeststellung und am 26. Juli 1965 Pflegezulage beantragt.
Hierauf hatte das Versorgungsamt D. ihn am 15. Oktober 1965 durch den Facharzt für Chirurgie Dr. M. begutachten lassen. Dieser hatte ausgeführt, unter den gegebenen Umständen infolge der mittelbaren Schädigung durch den Schenkelhalsbruch schätze er die MdE auf 90 v.H. ein. Er sei geneigt, auch die Voraussetzungen eines Pflegegeldes als erfüllt anzusehen. Zu mehreren regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen werde fremde Hilfe in Anspruch genommen, ohne die der Kläger in seiner Existenz bedroht oder gefährdet wäre. Seine Angaben seien überzeugend und könnten schon anläßlich des Untersuchungsvorganges weitgehend bestätigt werden. Sicherlich wirke sich die körperliche Konstitution zusammen mit dem Alterungsvorgang ungünstig aus. Wesentlich hierbei sei aber auch die erhebliche Schädigungsfolge. In einem Prüfvermerk vom 29. November 1965 hatte der Ärztliche Dienst des Versorgungsamtes Hilflosigkeit im Sinne des BVG als Voraussetzung für die Gewährung einer Pflegezulage verneint, worauf mit Neufeststellungsbescheid vom 3. Dezember 1965 eine Erhöhung der MdE auf 90 v.H. vorgenommen, die Schädigungsfolgen in
"Versteifung des re. Fußgelenkes in extremer Spitzfußstellung, Deformierung und praktische Versteifung des re. Kniegelenkes in ungünstiger Stellung, mit Durchblutungs-, Stauungs- und Gefühlsstörungen am Unterschenkel und Fuß nach Verletzung der Oberschenkelschlagader und späterem Schienbeinkopfbruch und Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk” umbenannt worden waren, die Gewährung von Pflegezulage jedoch abgelehnt worden war. Zur Begründung war ausgeführt worden, die fachärztliche Untersuchung und Begutachtung habe ergeben, daß der Kläger nur für einzelne Verrichtungen des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sei und ihrer nicht dauernd bedürfe.
Das Widerspruchsverfahren war erfolglos geblieben. Durch Widerspruchsbescheid vom 21. September 1966 war der angefochtene Bescheid auch in Bezug auf die Entscheidung über die Pflegezulassung bestätigt worden.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt, in dessen Verlauf der Kläger seinen Anspruch nach Erteilung eines Neufeststellungsbescheides vom 27. Februar 1967, durch den der Grad der MdE auf 100 v.H. erhöht worden war, auf die Gewährung von Pflegezulage beschränkt hatte, wurde Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens. Die Fachärztin für Orthopädie Dr. St. hat in ihrem Gutachten vom 17. Februar 1968 zur Frage der Hilflosigkeit, die im Beweisbeschluß vom 14. November 1967 im einzelnen erläutert worden war und zu deren Beantwortung ihr Orientierungspunkte aus dem Vorbringen des Klägers gegeben worden waren, ausgeführt, nach ihren Beobachtungen und Untersuchungsergebnissen sei der Kläger tatsächlich in überwiegendem Maße auf fremde Hilfe angewiesen. Er benötige diese für die meisten gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens und sei nur noch in der Lage, die gewöhnlich sitzend am Tisch zu verrichtenden Arbeiten zu erledigen. Erschwerend falle ins Gewicht, daß ihn das in ungünstiger Stellung versteifte rechte Bein mehr behindere als es eine technisch ausgereifte Prothese zu tun vermöchte. Sie halte die Gewährung einer Pflegezulage nach Stufe I für gerechtfertigt.
In seiner Stellungnahme hierzu hat der Beklagte vorgetragen, die Gutachterin sei auf die ihr vom Gericht gestellten präzisen Fragen nicht eingegangen. Überdies habe sie auch nicht bewiesen, daß die Erschwernisse des Klägers größer seien als die eines Oberschenkelamputierten ohne Prothese. In Anbetracht der noch voll erhaltenen Funktion beider Arme und des linken Beines sowie einer Teilbeweglichkeit des rechten Hüftgelenkes beschränke sich die Inanspruchnahme dritter Personen nur auf Einzelverrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens.
Mit Urteil vom 10. April 1969 hat das Sozialgericht den Beklagten unter teilweiser Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, ab 1. Juli 1965 Pflegezulage der Stufe I zu gewähren. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des § 35 BVG seien erfüllt, da ständig eine Hilfskraft für den Kläger bereit sein müsse. Ob ein Zustand der Hilflosigkeit vorliege, sei keine reine medizinische, sondern Tatfrage. Der Facharzt für Chirurgie Dr. M. habe die Voraussetzungen für eine Pflegezulage als erfüllt angesehen. Auch die Gerichtsgutachterin habe die Gewährung einer solchen bejaht, wenn der Wert ihres Gutachtens zur Beurteilung dieser Frage auch gering sei, weil sie die präzisen Fragen des Gerichts nicht beantwortet habe. Den Kläger erneut ärztlich in Bezug auf das Ausmaß seiner Hilfsbedürftigkeit untersuchen zu lassen, sei nicht sinnvoll erschienen. Die Kammer sei mehr oder weniger auf den Sachverhalt und die Angaben des Klägers angewiesen gewesen, die insgesamt glaubhaft seien. Hiernach sei er nach seinem Schenkelhalsbruch so hilflos, daß er für die gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe oder Hilfsbereitschaft dauernd bedürfe. Sie besitze auch einen wirtschaftlich meßbaren Wert.
Gegen dieses Urteil, das dem Beklagten am 20. Mai 1969 zugestellt worden ist, richtet sich seine am 18. Juni 1969 beim Hess. Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung rügt er das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels. Da das Sozialgericht selbst den Beweiswert des gerichtlichen Gutachtens als gering bezeichnet habe, wäre von seinem Standpunkt her eine ergänzende Beweisaufnahme dringend geboten gewesen. Dieser Mangel sei erkannt worden. Dennoch habe sich das Gericht auf den Akteninhalt zurückgezogen. Seine Erwägung, ein weiteres Gutachten sei nicht sinnvoll, könne die Verpflichtung zu weiterer Beweisaufnahme nicht aufheben. Die notwendige Beweiserhebung sei durch das Berufungsgericht nachzuholen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 10. April 1969 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Witwe des Klägers,
die den Rechtsstreit als seine Rechtsnachfolgerin aufgenommen hat, beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil in der Sache für zutreffend. Ein wesentlicher Verfahrensmangel liege nicht vor.
Die Akten des Versorgungsamtes D. mit der Grdl. Nr ... haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) frist und formgerecht eingelegte Berufung ist im übrigen nicht zulässig. Denn Streitgegenstand ist vorliegend die Neufeststellung der Pflegezulage, so daß § 148 Ziff. 3 SGG zum Zuge kommt, ohne daß die dort geregelten Ausnahmetatbestände Platz greifen. Auch § 150 Ziff. 3 SGG ist nicht angesprochen, da der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG nicht streitig ist.
Unbeschadet des § 148 Ziff. 3 SGG könnte die Berufung daher nur zulässig sein, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und auch vorliegt. Hierfür hat sich der Beklagte darauf berufen, daß das Vordergericht seine Verpflichtung zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts i.S. der §§ 103, 106 SGG verletzt habe. Es habe nämlich die Voraussetzungen für die Gewährung der beantragten Leistung als gegeben angesehen obwohl es den Beweiswert des von ihm eingeholten medizinischen Sachverständigengutachtens als gering bezeichnet und kein anderes Gutachten beigezogen habe. Diese Rüge geht nach Überzeugung des Senats fehl.
Rechtsgrundlage ist vorliegend § 35 Abs. 1 BVG, wonach eine Pflegezulage gewährt wird, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf. Nach zutreffender herrschenden Rechtsansicht sind die einzelnen Tatbestände dieser Vorschrift nur zu einem Teil medizinisch zu beurteilen. Im übrigen handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die nach richterlichem Ermessen ohne Zuhilfenahme eines ärztlichen Sachverständigen als Tatfrage in jedem Einzelfall gesondert zu prüfen und zu werten sind. So betrachtet wäre der Vorderrichter nicht gehalten gewesen, ein medizinisches Gutachten einzuholen, insbesondere nachdem der Facharzt für Chirurgie Dr. M. den in sein Fachgebiet fallenden Teil der zu beantwortenden Frage bejaht hatte.
Er hat den Kläger auf Veranlassung des Beklagten untersucht und sich während des Untersuchungsvorganges eine eigene Vorstellung von seinem Zustand und den Bewegungsmöglichkeiten verschafft. Wenn Dr. M. seine Beurteilung alsdann auch vorsichtig dahin formuliert hat, er sei geneigt, die Voraussetzungen eines Pflegegeldes als erfüllt anzusehen, so hat er in den nachfolgenden Sätzen doch eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß der Kläger in seiner Existenz bedroht oder gefährdet wäre, wenn ihm keine Fremdhilfe zur Verfügung stehe. Hiernach hat er – medizinisch gesehen – die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 BVG bejaht. Wenn der Vorderrichter nun unbeschadet der Tatsache, daß er ein medizinisches Gutachten von Gerichts wegen eingeholt hat, Dr. M. Auffassung gefolgt ist und das erkennbar zum Ausdruck gebracht hat, dann war er aus seiner Sicht auch nicht gehalten, noch weiteren Beweis über medizinische Fragen zu erheben. Ein Verstoss gegen §§ 103, 106 SGG könnte nur vorliegen, wenn er sich mit dem Gutachten des Dr. M. nicht auseinandergesetzt, sondern seine Urteilsfindung allein auf das Gutachten der Orthopädin Dr. St. gestützt hätte, dessen Beweiswort nach seiner Meinung nur gering sein soll. Erhebt ein Richter Beweis ohne gegebene zwingende Veranlassung und erkennt den Fehler nach Abschluss der Beweisaufnahme, so widerspricht es den Regeln des Prozeßrechts und der Prozeßökonomie, ihn im Hinblick auf §§ 103, 106 SGG dazu anzuhalten, diesen Fehler durch weitere Beweiserhebung weiterwirken zu lassen und zu vergrößern. § 128 Abs. 1 SGG kann insoweit dann ebenfalls nicht verletzt sein, wenn er das seiner Meinung nach nicht erschöpfende Gutachten nicht zur Grundlage seiner Entscheidung macht, sondern auf ein anderes – die Beweisfrage aus seiner Sicht bejahendes – Gutachten stützt. Der Umstand, daß auch dieses Gutachten die dem Rechtsstreit zugrundeliegende Vorschrift nur zu einem Teil berührt oder ausfüllt, weil Tatfragen im Vordergrund stehen, ist im Hinblick auf das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels unbeachtlich. Er ist allein unter den Gesichtspunkt des "error in iudicando” zu sehen.
Soweit der Vorderrichter die in § 35 Abs. 1 BVG enthaltenen weiteren Tatbestände geprüft hat, liegt weder ein Verstoss gegen §§ 103, 106 noch gegen § 128 Abs. 1 SGG vor. Ihr durfte die Angaben des Klägers und den Inhalt der ihm vorliegenden Akten in Bezug auf die Beantwortung der Frage werten, ob dieser so hilflos war, wie in der einschlägigen Vorschrift vorausgesetzt wird. Hält ein Richter Angaben eines Beteiligten für glaubhaft und erschöpfend, dann ist er nicht gehalten, Beweis über das Vorliegen von Tatumständen zu erheben. Begründet er seine dahingehende richterliche Überzeugung ausreichend, dann ist auch § 128 Abs. 1 SGG nicht angesprochen. Beides ist aber vorliegend geschehen. Ob das Ergebnis der vorderrichtlichen Überprüfung so, wie es in dem angefochtenen Urteil zum Ausdruck gekommen ist, der Rechtslage entspricht, war vom Senat nicht zu entscheiden. Denn das gehört zum sachlichen Gehalt des Urteils, mit dem sich das Berufungsgericht im Hinblick auf § 148 Ziffer 3 SGG nicht befassen durfte, zumal wesentliche Verfahrensmängel, die auch ohne Rüge von Amtswegen zu beachten sind, nicht ersichtlich waren.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Login
HES
Saved