L 3 U 1426/80

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 45/79
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 1426/80
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 9. Oktober 1980 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Entschädigung eines Arbeitsunfalles vom 27. März 1978.

Der im Jahre 1925 geborene Kläger, der bei der Beklagten als selbständiger landwirtschaftlicher Unternehmer gegen Arbeitsunfall versichert ist, bezieht von dem Versorgungsamt nach dem Bundesversorgungsgesetz eine Beschädigtenrente nach einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit – MdE – um 30 v.H. wegen Verdauungsbeschwerden nach Blinddarm- und Darmverschlußoperation sowie reizloser Weichteilstecksplitter und Narben im rechten Oberschenkel. Unter dem 25. April 1978 zeigte er der Beklagten förmlich an, daß er als Fahrer eines Lastkraftwagens – LKW – von einem anderen LKW von hinten angefahren und durch diesen Stoß mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geschleudert worden sei. Dazu berichteten der Chirurg Dr. S. (Bad ) und der Neurologe Dr. G. (Bad H.) unter dem 29. März und 8. Mai sowie 31. Oktober 1978, daß es sich um eine Commotio cerebri (Gehirnerschütterung) und die Prellung des rechten Ellenbogengelenks gehandelt habe. Der Kläger habe nach dem Zusammenstoß die Fahrt mit dem LKW fortgesetzt. Unter dem 22. Juni 1978 und 27. Februar 1979 gaben Prof. Dr. P. und Dr. R. (Neurologische Universitätsklinik ) und Dr. S. (Marburg) ihre Beurteilung dahin ab, daß auf neurologisch und psychopathologischem Fachgebiet keine Unfallfolgen vorlägen. Die durch die Schädelprellung hervorgerufene allenfalls leichte Commotio cerebri sei längst abgeklungen. Eine beschriebene ängstlich-depressive Symptomatik könne nicht mehr festgestellt werden; sie stehe nicht in ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfallereignis. Hierauf gestützt stellte die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 26. April 1979 für die Zeit nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung ab dem 1. Juli 1978 bis zum 31. Oktober 1978 wegen der durch die Schädelprellung mit höchstens leichter Gehirnerschütterung bestandenen Beeinträchtigungen die vorläufige Verletztenrente mit einem Grad der MdE um 20 v.H. fest. Unfallfolgen würden danach nicht mehr bestehen.

Gegen diesen am 26. April 1979 mit Einschreiben an ihn abgesandten Bescheid hat der Kläger bei dem Sozialgericht Fulda – SG – Klage erhoben und geltend gemacht, daß in der Zeit vom 1. Juli 1978 bis zum 31. Oktober 1978 die unfallbedingte MdE mit 100 v.H. und ab dem 8. November 1978 mit einer MdE um 50 v.H. bewertet werden müsse. Er hat dazu das fachchirurgische Gutachten des Dr. S. vom 16. Mai 1978 vorgelegt, in dem ausgeführt ist, daß der Kläger immer noch über Schmerzen über der Stirn und im Bereich des Nackens mit Verspannung der Nackenmuskulatur klage. Er könne als selbständiger Viehhändler seinem Beruf nicht mehr vollkommen nachgehen; es bestünden bei Anstrengungen anhaltende Kopfschmerzen und Schwindelanfälle. Das SG hat nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG – von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. (Hanau) das nervenfachärztliche Gutachten vom 1. Februar 1980 eingeholt, in dem darauf hingewiesen ist, daß auf diesem Fachgebiet keine Unfallfolgen vorlägen. Es habe sich um ein HWS-Schleudertrauma gehandelt, das orthopädisch zu beurteilen sei. Dazu hat die Beklagte von dem Chefarzt der Orthopädischen Abteilung des St.-Johannis-Krankenhauses Prof. Dr. H. das Gutachten vom 11. April 1980 vorgelegt. Darin vertritt der Gutachter die Auffassung, daß es sich bei dem Unfall um ein Schleudertrauma 1. Grades gehandelt habe; die Halswirbelsäulendistorsion sei folgenlos abgeheilt. Mit Urteil vom 9. Oktober 1980 hat sodann das SG die Klage aus den Gründen des angefochtenen Bescheides abgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird auf die sozialgerichtliche Entscheidung verwiesen.

Gegen dieses an ihn am 11. November 1980 zugestellte Urteil hat der Kläger schriftlich bei dem Hessischen Landessozialgericht – HLSG – am 8. Dezember 1980 Berufung eingelegt.

Es ist im Berufungsverfahren nach § 109 SGG das orthopädische Gutachten des Prof. Dr. K. (Orthopädische Universitätsklinik ) vom 4. September 1981 eingeholt worden. Der Sachverständige hat ausgeführt, daß vorbestandene degenerative HWS-Veränderungen durch das Schleudertrauma im Sinne einer Lockerung von Bewegungssegmenten verschlimmert worden seien, so daß ab dem 27. März 1978 eine unfallbedingte MdE um 30 v.H. anzunehmen sei.

Der Kläger bringt zur Begründung der Berufung vor: Für die Beurteilung der MdE bei Schleudertraumen der HWS komme es, wie der Sachverständige Prof. Dr. K. zutreffend ausgeführt habe, maßgebend auf das subjektive Beschwerdebild des Verletzten an. Der Sachverständige habe dieses als glaubhaft bezeichnet und darauf hingewiesen, daß lediglich für die Dauer der stationären Behandlung in Bochum eine vorübergehende Besserung eingetreten sei. Hieraus folge, daß die von ihm vorgenommene Einschätzung der MdE mit 30 v.H. nicht ganz konsequent sei. Diese müsse vielmehr auf Dauer mit 50 v.H. bewertet werden.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 9. Oktober 1980 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. April 1979 abzuändern und diese zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 27. März 1978 die Verletztenrente für die Zeit vom 1. Juli bis zum 31. Oktober 1978 nach einem Grad der MdE um 100 v.H. und ab dem 1. November 1978 auf Dauer nach einem Grad der MdE um 50 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und macht geltend, daß das Gutachten des Prof. Dr. K. nicht schlüssig sei; die von ihm erhobenen Befunde sprächen gegen eine MdE.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Unfall- und Streitakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt (§§ 143, 145, 150 Nr. 3, 151 Abs. 1 SGG).

Sie ist indessen unbegründet. Das auf die zulässige Klage ergangene sozialgerichtliche Urteil konnte nicht aufgehoben werden, da das SG diese zu Recht abgewiesen hat. Der angefochtene Bescheid ist nicht rechtswidrig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine höhere und auf Dauer zu gewährende Verletztenrente, als wie diese ihm in dem angefochtenen Bescheid vom 26. April 1979 zuerkannt worden ist (§§ 548, 580, 581 der Reichsversicherungsordnung – RVO –).

Zunächst sieht der Senat aufgrund der förmlichen Unfallanzeige des Klägers, der Berichte der Dres. S. G., Prof. Dr. P. mit Dr. R. sowie der Gutachten des Dr. S. und der Professoren H. und K., die sich auch auf das glaubhafte Vorbringen des Klägers gestützt haben, als erwiesen an, daß der Kläger am 27. März 1978 auf der Fahrt mit seinem LKW nach Heidelberg auf der Bundesautobahn von einem anderen LKW von hinten angefahren worden ist. Er wurde dabei mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geschleudert. Er hat hierbei eine Commotio cerebri und eine Prellung des rechten Ellenbogengelenkes erlitten, wie der Bericht des Dr. S. vom 29. März 1978 ergibt. Ferner ist es dabei, wie von den ärztlichen Gutachten und Sachverständigen überzeugend dargelegt ist, zu einem Schleudertrauma der HWS gekommen. Außerdem ist, wie der Kläger wiederholt zur eigenen Vorgeschichte, zuletzt bei Prof. Dr. K., angegeben hat, davon auszugehen, daß er nach Erledigung der Unfallformalitäten mit seinem LKW weiter gefahren ist und erst im Verlaufe der Weiterfahrt nach Verlassen der Autobahn infolge schlechten Straßenpflasters durch die Rüttelbewegungen plötzlich starke Kopfschmerzen und Beschwerden am rechten Arm verspürte. Aus dem Bericht des Dr. S. vom 29. März 1978 ergibt sich ferner, daß ein Zustand der Bewußtseinstrübung und Benommenheit bestanden hat. Der Kläger war ansprechbar und orientiert; Erinnerungslücken bestanden nicht. Verneint sind auch die Fragen nach einer Ohnmacht, einem Erbrechen und Blutungen. Atmung und Reflexe waren unauffällig. Es kann vorliegend offenbleiben, ob der Kläger, wie er gegenüber Dr. G. wiederholt angegeben hat, tatsächlich vorübergehend bewußtlos gewesen ist. Für das Vorliegen einer nachhaltigen Traumatisierung des Gehirns, etwa im Sinne einer Kontusion (Gehirnquetschung) ergeben sich keine Anhaltspunkte. Die Initialsymptome sind zu unbedeutend. Der Kläger war auch in der Lage, die Fahrt mit dem LKW nach Regelung der Formalitäten mit der Polizei fortzusetzen. Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn Dres. S. und G. und S. lediglich das Vorliegen einer Gehirnerschütterung angenommen haben. Es ist aber allgemein anerkannt, daß sich Gehirnerschütterungen regelmäßig ohne Hinterlassen von weiteren Folgen innerhalb von einem Jahre zurückbilden (vgl. HLSG, Urteil vom 28. Oktober 1974 – L-3/U – 438/72 –; Liniger-Molineus, Der Unfallmann, 9. Aufl., S. 191 ff.; Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Ausgabe 1973, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, S. 128).

Ferner ist erwiesen, daß bei dem Kläger zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalles im HWS-Bereich deutliche degenerative Veränderungen vorgelegen haben. Dies wird übereinstimmend von den Professoren H. und K. in ihren Gutachten dargelegt. Entgegen der Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. ist es aber durch das Schleudertrauma der HWS nicht zu einer so nachhaltigen Verschlimmerung dieser degenerativen, unfallunabhängigen Veränderungen gekommen, daß deswegen auf Lauer eine MdE angenommen werden könnte. Auch hinsichtlich der Verschlimmerungen gilt im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung die Ursachenlehre von der wesentlich mitwirkenden Bedingung. Im Falle der kausalen Konkurrenz einer äußeren Einwirkung mit einer bereits vorhandenen Krankheitsanlage ist der ursächliche Zusammenhang nämlich nur dann anzunehmen, wenn beide Umstände in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs annähernd gleichwertig sind (vgl. BSG, Urteil vom 1. Dezember 1960 – 5 RKn 66/59 – in E 13, 176; Lauterbach-Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 8 und 28 zu § 548 RVO mit weiteren Nachweisen). Ist die Gesundheitsstörung aber nur bei Gelegenheit einer versicherten Tätigkeit hervorgetreten und wäre sie nach menschlichem Ermessen auch bei jedem anderen nicht zu vermeidenden Anlaß außerhalb dieser Tätigkeit oder ohne besonderen Anlaß im Ablauf des täglichen Lebens zum Ausbruch gekommen, so handelt es sich nur um eine sogenannte Gelegenheitsursache, bei der es an dem notwendigen Ursachenzusammenhang fehlt. Dabei ist es rechtlich ohne Bedeutung, ob die äußere Einwirkung nur geringfügig oder erheblich war (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 1960 – 2 RU 240/59 – in BG 1961, 222; Urteil vom 26. September 1961 – 2 RU 209/59 – in SozR Nr. 47 zu § 542 RVO a.F.; Urteil vom 30. Oktober 1974 – 2 RU 50/73 –; Lauterbach-Watermann a.a.O., Anm. 10 zu § 548 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Bd. II S. 84 k II und 488 k ff.). Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung dient nicht dazu, bei betrieblichen Tätigkeiten augenscheinlich werdende Gesundheitsstörungen zu entschädigen (vgl. BSG, Urteil vom 27. November 1980 – 8 a RU 12/79 –). Für die Annahme des ursächlichen Zusammenhangs muß eine Wahrscheinlichkeit bestehen, d.h., bei vernünftiger Abwägung aller für und gegen den Zusammenhang sprechenden Umständen müssen die für den Zusammenhang sprechenden Erwägungen so stark überwiegen, daß die dagegen sprechenden billigerweise für die Bildung und Rechtfertigung der richterlichen Überzeugung außer Betracht bleiben können (vgl. BSG, Urteil vom 2. Juni 1959 – 2 RU 158/56 – SozR Nr. 20 zu § 542 RVO a.F.; Lauterbach-Watermann a.a.O., Anm. 17 zu § 548 RVO). Von der Wahrscheinlichkeit ist die bloße Möglichkeit zu unterscheiden, die zur Annahme des ursächlichen Zusammenhangs in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht ausreicht. Hierzu sieht der Senat ferner aufgrund der klinisch wie röntgenologisch erhobenen Befunde durch die Dres. S., G. Prof. Dr. P. und Dres. R., S. und die Professoren H. und K. als erwiesen an, daß es sich bei dem Schleudertrauma der HWS allenfalls um eine leichte Distorsion im Nackenbereich gehandelt hat. Zwar kann ein Auffahrunfall mit einem solchen Schleuderhalswirbelsäulentrauma zu schwereren Verletzungen führen. Hierfür müssen aber deutliche Befunde erhoben werden. Über 80 % aller Schleudertraumen sind leichter Natur, d.h., die Unfallfolgen führen nicht zu einer Rente auf Dauer. Die leichteste Form ist die HWS-Distorsion, deren Folgen in längstens 2–4 Wochen überwunden werden. Am Ende der Schwereskala steht die vollständige Ruptur von Bewegungssegmenten, das Nichtwidererlangen der Stabilität und die nicht reponierte Luxationsfraktur. Nur die hierdurch entstandenen Unfallfolgen können zu schwersten Dauerschäden führen (vgl. im einzelnen Liniger-Molineus a.a.O., S. 161; HLSG, Urteile vom 24. Oktober 1979 – L-3/U – 173/79 – und 10. Dezember 1980 – L-3/U – 38/80). Nach den eigenen Angaben des Klägers und insbesondere auch im Hinblick auf die erhobenen Erstbefunde ist es vorliegend nicht zu einem schwereren HWS-Trauma gekommen, was insbesondere daraus erhellt, daß der Kläger die Unfallformalitäten an der Unfallstelle mit der Polizei regelte und dann mit dem LKW die Fahrt fortsetzte. Störungen im Bereich der HWS sind befundmäßig bei der Erstuntersuchung durch Dr. S. und den in zeitlicher Nähe zum Unfallgeschehen nachfolgenden Untersuchungen durch Dr. G. nicht gesichert worden. Demgegenüber stehen unverkennbar die degenerativen Vorschädigungen im HWS-Bereich. In zutreffender Anwendung der Lehre vom Ursachenzusammenhang nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung hat der Gutachter Prof. Dr. H. dessen Gutachten der Senat im Rahmen des Rechts der freien Beweiswürdigung nach § 128 SGG mit auszuwerten hatte, dargelegt, daß dem HWS-Schleudertrauma in Abwägung zu den vorgefundenen Vorschädigungen keine besondere Bedeutung zugemessen werden kann. Eine solche Abwägung läßt das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K., der allein auf das von dem Kläger abgegebene Beschwerdebild abhebt, vermissen. Auch sein MdE-Vorschlag ist nicht überzeugend, es fehlt für ihn jegliche Begründung. Der Senat schließt sich vielmehr nach eigener Überprüfung der Sach- und Rechtslage dem überzeugenden Gutachten des Prof. Dr. H. an.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.
Rechtskraft
Aus
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