L 3 U 1260/69

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 1260/69
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die in § 43 StVZO enthaltene, für Unfallverhütungsvorschriften gültige Bestimmung, daß Zuggabeln von Mehrachsenanhängern „bodenfrei” sein müssen, ist nur dann gewahrt, wenn die Gabel beim Fallenlassen aus der Waagerechten nicht den – ebenen – Boden berührt.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Marburg/L. vom 4. November 1969 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Im landwirtschaftlichen Betrieb der Klägerin ereignete sich am 25. Februar 1967 dadurch ein Unfall, daß die Zuggabel eines zweiachsigen 5 1/2 t Welger-Schlepperanhänger seinem Sohn auf den rechten Fuß fiel, wodurch eine nicht unerhebliche Verletzung eintrat. Am 3. November 1967 besichtigte daraufhin der bei der Beklagten beschäftigte Technische Verwaltungs-Oberinspektor R. diesen Anhänger und stellte dabei fest, daß das Gestänge der Auflaufbremse so eingestellt war, daß sich die Zuggabel des Anhängers bei langsamen Herunterlassen bis etwa 5 cm über die Fahrbahn herabsenkte und dann stehen blieb beim Niederkippen aus der Waagerechten aber mit voller Wucht auf den Boden aufschlug.

Mit Bescheid vom 26. Januar 1968 setzte der Vorstand der Beklagten daraufhin eine Ordnungsstrafe in Höhe von 10,– DM gegen den Kläger wegen Nichtbeachtung des Abschnittes 24 § 1 Abs. 1 der Unfallverhütungsvorschriften (UVV) in Verbindung mit § 45 der Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO) fest. Dem hiergegen eingelegten Widerspruch half die Beklagte mit Bescheid vom 18. März 1968 nicht ab.

Hierauf hat der Kläger am 8. April 1968 beim Sozialgericht Marburg/L. Klage erhoben, das dem Verw.Oberinspektor R. und den Schmied L. als Zeugen vernahm. Mit Urteil vom 4. November 1969 hat es dann "die Bescheide vom 18. und 26.3.1968” aufgehoben. Am Tag der Ortsbesichtigung durch den Techn. Verw.Oberinspektor R. am 3. November 1967 sei zwar die Bremseinstellung an dem Schlepperanhänger des Klägers und die Bodenfreiheit der Zuggabel nicht ausreichend gewesen. Dieser habe den Landmaschinenhändler K. in der "fraglichen Zeit” aber telefonisch gebeten, nach der Auflaufbremse am Anhänger zu schauen. Deshalb liege weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit in Bezug auf einen Verstoß gegen die UVV vor.

Gegen das ihr am 18. November 1969 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 17. Dezember 1969 Berufung eingelegt und ausgeführt, das Sozialgericht habe die Frage, ob die Zuggabel des Schlepperanhängers des Klägers bodenfrei gewesen sei, überhaupt nicht geprüft. Nach der Bekundung des Zeugen R. sei dies jedoch am 3. November 1967 einwandfrei nicht der Fall gewesen, da die Mindesthöhe nicht 15 cm betragen habe, so daß die Straffestsetzung zu Recht erfolgt sei.

Sie beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg/L. vom 4. November 1969 aufzuheben und die Klage gegen den Straffestsetzungs-Bescheid vom 26. Januar 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 1968 abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.

Er trägt unter anderem vor, es sei nicht ersichtlich, daß er gegen die für den Welger-Schlepperanhänger gültige Bedienungsanweisung verstoßen habe. Der Schlepperanhänger sei ständig durch den Zeugen L. überprüft worden. Es sei erwiesen, daß der Unfall seines Sohnes auf einer unrichtigen Einstellung der Zugvorrichtung beruht habe, worauf es von der Beklagten weitgehend abgestellt worden sei.

Im übrigen wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Gerichtsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist form und fristgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist auch begründet. Das Sozialgericht hat den angefochtenen Bescheid vom 26. Januar 1968 – nicht 18.3.1968, wie es im Urteilstenor heißt – und den Widerspruchsbescheid vom 18. März 1968 zu Unrecht aufgehoben. Die Beklagte war nämlich berechtigt, gegen den Kläger eine Ordnungsstrafe wegen der Verletzung ihrer UVV zu verhängen.

Gemäß § 710 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat der Vorstand der Berufsgenossenschaft gegen Mitglieder oder Versicherte, die vorsätzlich oder grob fahrlässig gegen nach §§ 708, 709 erlassenen Unfallverhütungsvorschriften verstoßen, Ordnungsstrafen bis zu 10.000,– DM festzusetzen; bei sonstigen fahrlässigen Verstößen kann der Vorstand solche Ordnungsstrafen festsetzen. Nach Abschnitt 24 § 1 Abs. 1 der seit 1. Oktober 1958 gültigen UVV der Beklagten gelten die Bestimmungen der StVZO u.a. über Einrichtungen zur Verbindung von Fahrzeugen und Lenkvorrichtungen auch für die Fahrzeuge, die nicht auf öffentlichen Wegen verwendet werden. Absatz 2 bestimmt ferner, daß sich jeder so zu verhalten hat, daß niemand gefährdet, geschädigt oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. Hierzu schreibt § 43 Abs. 1 StVZO u.a. vor, daß Einrichtungen zur Verbindung von Fahrzeugen so ausgebildet und befestigt sein müssen, daß die nach dem Stand der Technik erreichbare Sicherheit – auch bei der Bedienung der Kupplung – gewährleistet ist, und die Zuggabel von Mehrachsanhängern bodenfrei sein muß. Gegen diese Bestimmung hat der Kläger verstoßen, denn die Zuggabel seines 5 1/2 t Welger-Schlepperanhängers war am 3. November 1967, dem Tag der Besichtigung durch den Technischen Verw.Oberinspektor R., nicht bodenfrei eingestellt.

In § 43 a.a.O. ist zwar nicht bestimmt, was unter "bodenfrei” zu verstehen ist. Während es in dem Kommentar zur StVZO von Belke-Bosselmann-Liegel (10. Auflage, Anm. 8) hierzu nur heißt, diese Vorschrift gelte grundsätzlich und sei nicht von der Art des verwendeten Bremssystems abhängig. Bodenfreiheit sei auch erforderlich, weil nach Mitteilung der Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen eine außerordentlich große Zahl von Fußverletzungen durch heruntergefallene Zuggabeln zu verzeichnen war, ist in dem Kommentar zur StVZO von Jagusch (11. Auflage) zu der Frage, was unter bodenfrei zu verstehen ist, überhaupt nicht Stellung genommen worden. Aus Sinn und Zweck dieser Bestimmung ergibt sich jedoch, daß die Zuggabel beim Herunterfallen den – ebenen – Boden nicht berühren darf, weil sonst insbesondere Fußverletzungen vorkommen können und die Bremsen nicht richtig eingestellt sind. In der von der Fa. W. beigezogenen Bedienungsanweisung für Zweiachsfahrzeuge heißt es daher auch zutreffend, daß die Zugöse in Fallstellung etwa 15 cm über dem Boden stehen bleiben muß. In ihrer Stellungnahme vom 27. Oktober 1970 weist diese Firma ergänzend darauf hin, daß ein Aufschlagen der Zuggabel auf den Boden mit voller Wucht die Folgen einer ungenügenden Radbremseinstellung sei.

Diese erforderliche Bodenfreiheit bestand bei dem Schlepperanhänger des Klägers am 3. November 1967 jedoch nicht. Der Technische Verw.Oberinspektor R. hat als Zeuge vor dem Sozialgericht Gießen nämlich bekundet, daß die Deichsel an diesem Tage aus der Waagerechten mit voller Wucht auf den Erdboden aufgeschlagen sei, der nur Unebenheiten von 1 bis 2 cm aufgewiesen habe. Wenn er weiter feststellte, daß sie beim langsamen senken etwa 5 cm über dem Boden stehen blieb, so war dadurch die vorgeschriebene Bodenfreiheit nicht gewahrt, denn Unfälle entstehen durch die Zuggabel in der Regel nur, wenn sie bis auf den Boden herunterfällt. Der Kläger hat diese Bekundungen des Zeugen R. nicht bestritten, obwohl er bei dessen Vernehmung zugegen war, und im Berufungsverfahren sogar erklärt, diese Aussage sei glaubwürdig. Auch das Sozialgericht ist davon ausgegangen, daß am 3. November 1967 die Bremsvorrichtung und die Bodenfreiheit bei dem Schlepperanhänger des Klägers nicht ausreichend waren.

Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts hatte der Kläger diesen betriebswidrigen Zustand der Anhängervorrichtung auch fahrlässig verursacht. Durch die obengenannte Betriebsanweisung, die an allen Zweiachsfahrzeugen der Fa. W. angebracht ist, wußte der Kläger oder mußte er jedenfalls wissen, daß die Zugöse der Deichsel beim Herunterfallen nicht auf den Boden aufschlagen, sondern in einiger Entfernung – etwa 15 cm – darüber stehen bleiben muß. Er hat dies auch nicht bestritten.

Die Ausführungen des Sozialgerichts zur Frage des schuldhaften Verhaltens des Klägers gehen fehl. Ob der Unfall des Sohnes des Klägers mit der Besichtigung des Anhängers durch den Zeugen R. am 3. November 1967 "in hinreichende Verbindung” gebracht werden kann, ist ohne Bedeutung, denn die Beklagte hat die Ordnungsstrafe nur verhängt, weil sich die Zuggabel des Anhängers am 3. November 1967 in einem verkehrswidrigen Zustand befand. Das Sozialgericht meint auch zu Unrecht, seine Ordnungsstrafe könne nicht verhängt werden, weil der Kläger nach der schriftlichen Mitteilung des "Zeugen” K. diesen "in der fraglichen Zeit” telefonisch gebeten habe, nach der Auflaufbremse am Anhänger zu schauen. Der Kläger habe daher weder vorsätzlich noch fahrlässig gehandelt.

Der Landmaschinenhändler K. war vom Sozialgericht als Zeuge geladen, erschien jedoch nicht und nahm lediglich schriftlich zu der Beweisfrage dahin Stellung, er habe "in der fraglichen Zeit” nach einer telefonischen Aufforderung des Klägers die Einstellung der Auflaufbremse überprüft und dabei festgestellt, daß die Einstellung gestimmt habe. Wann diese Überprüfung stattfand, steht jedoch nicht fest. Unter Umständen geschah dies bereits unmittelbar nach dem Unfall am 25. Februar 1967. Außerdem hat K. aber u.a. mitgeteilt: "Betr.: Vernehmung: Anhängerkupplung an Schlepper, wegen hinreichender Bodenfreiheit, davon ist mir nichts bekannt”. Das Sozialgericht konnte also aus dieser schriftlichen Stellungnahme nicht folgern, K. habe die Bodenfreiheit der Zugstange des Schleppers überprüft. Nach der Vernehmung des Zeugen R. steht jedenfalls fest, daß am 3. November 1967 keine Bodenfreiheit bestand. Das konnte der Kläger auch selbst feststellen und mußte für Abhilfe sorgen, wenn er nicht in der Lage war, dies nach der Bedienungsanweisung selbst zu tun. Jedenfalls ist nicht erwiesen, daß er den Landmaschinenhändler K. oder den Zeugen L. damit beauftragt und sich von der richtigen Bremseinstellung und Bodenfreiheit der Zuggabel unmittelbar vor dem 3. November 1967 selbst überzeugt hatte. Letzterer konnte dies ebenfalls nicht bekunden.

Danach hat der Kläger fahrlässig gegen die UVV verstoßen. Selbst wenn nur ein leicht fahrlässiger Verstoß angenommen wird, ist die Beklagte berechtigt, eine Ordnungsstrafe festzusetzen (§ 710 Abs. 1 letzter Halbsatz RVO). Ein Ermessensfehlgebrauch ist der Beklagten hier nicht nachzuweisen.

Es ist auch nicht zu beanstanden, daß die Beklagte von der Möglichkeit des § 70 Abs. 2 RVO keinen Gebrauch gemacht und nicht von der Festsetzung einer Ordnungsstrafe abgesehen hat, weil die Schuld des Klägers und die durch den Verstoß verursachte Gefährdung, die von der falsch eingestellten Zuggabel ausging, nicht gering waren. Nach dem Unfall seines Sohnes hatte der Kläger nämlich alle Veranlassung dafür zu sorgen, daß von der Zuggabel keine Gefahr ausgehen konnte. Dies hat er jedoch offensichtlich unterlassen, wie das Ergebnis der Besichtigung durch den Zeugen R. am 3. November 1967 beweist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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