L 3 U 1113/68

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 1113/68
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Verrichtet ein als Arbeitnehmer bei einem Dritten beschäftigter Gemeindeeinwohner außerhalb seines Arbeitsverhältnisses freiwillig für seine Wohnortgemeinde gegen Vergütung dem Gemeindewohl dienende Arbeiten, so ist er weder als selbständiger Unternehmer noch als „Schwarzarbeiter”, sondern vielmehr wie ein in Erfüllung bürgerlicher Pflichten (§ 22 Hess. Gemeindeordnung – Verrichtung von Naturaldiensten –) Tätiger zu behandeln. Er genießt somit Unfallversicherungsschutz bei dem für diese Gemeinde zuständigen Gemeindeunfallversicherungsträger.
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 18. September 1968 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt gemäß § 1510 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Erstattung von für den Dachdeckergeselle M. R. (R.) erbrachter Leistung aus der Krankenversicherung in Höhe von 2.194,60 DM. Ausweislich der Unfallakten der Beklagten hatte R. von der Gemeinde S./Oberwesterwald den Auftrag erhalten, auf dem Feuerwehrgerätehaus Eternit-Wellplatten zu verlegen. Hierbei stürzte R. aus einer Höhe von etwa 3 m ab und zog sich nicht unerhebliche Verletzungen zu. Zwischen der Gemeinde S. und R. war ein Stundenlohn von 4,50 DM vereinbart. Die Arbeiten sollten nach Feierabend ausgeführt werden und hätten etwa 30–40 Stunden in Anspruch genommen. Mit Bescheid vom 24. Februar 1967 lehnte die Beklagte einen Entschädigungsanspruch des R. ab. Dieser sei gelernter Dachdecker und stehe als solcher in einem ständigen Beschäftigungsverhältnis bei dem Dachdeckermeister K. H. in F. R. habe in keinem Beschäftigungsverhältnis zur Gemeinde S. gestanden. Seine Tätigkeit sei Ausfluß eines zwischen ihm und der Gemeinde zustande gekommenen Werkvertrages gewesen, der die Anwendung des § 539 Abs. 1 RVO ausschließe. Auch § 539 Abs. 2 RVO komme nicht in Betracht, da die werkvertraglichen Bindungen es nicht zuließen, daß R. "wie ein Beschäftigter” tätig gewesen sein konnte. Auch § 657 Abs. 1 RVO könne nicht angewendet werden, da ebenfalls diese Bestimmung voraussetze, daß es sich bei dem Verletzten um einen nach § 539 Abs. 1 oder Abs. 2 RVO Versicherten handele. Der Bescheid wurde gegenüber R. rechtsverbindlich, da dieser kein Rechtsmittel eingelegt hatte.

Eine Ausfertigung dieses Bescheides wurde auch der Klägerin übersandt. Sie erhob hiergegen am 22. März 1967 Klage bei dem Sozialgericht Koblenz, das sich mit Beschluss vom 26. April 1967 für örtlich unzuständig erklärte und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Wiesbaden verwies. Zur Begründung der Klage wurde u.a. geltend gemacht: R. sei aufgrund seines Beschäftigungsverhältnisses als gelernter Dachdecker bei der Fa. K. H. in F. bei ihr pflichtversichert. Am Unfalltag sei R. sowie dessen Bruder von dem Bürgermeister der Gemeinde S. gebeten worden, das schadhafte Dach des gemeindeeigenen Feuerwehrhauses mit Eternit-Wallplatten bei einem vereinbarten Stundenlohn von 4,50 DM zu decken. Die Gemeinde S. müsse als Unternehmer i.S. des § 657 Abs. 1 Nr. 1 RVO angesehen werden. Bei R. habe es sich im Zeitpunkt des Unfalls um einen Versicherten i.S. des § 539 RVO gehandelt. Nach Auskunft des Bürgermeisters der Gemeinde S. sei kein Werkvertrag geschlossen worden. Die Arbeiten hätten so billig wie möglich gehalten werden sollen und seien aus diesem Grund nicht an einen Unternehmer vergeben worden. R. und sein Bruder, der ebenfalls Dachdecker sei, seien nicht als Unternehmer in Erscheinung getreten. Das zum Dachdecken benötigte Material sei von der Gemeinde zur Verfügung gestellt worden. Die Gebrüder R. hätten nicht die Gefahr für das Gelingen der Dachdeckerarbeiten übernommen gehabt. Es sei nicht vereinbart gewesen, daß R. für evtl. Mängel oder Schäden, die aus seiner Arbeit entstünden, persönlich hafte. Dafür habe die Gemeinde aufzukommen gehabt.

Die Beklagte hielt demgegenüber an ihrer in dem Bescheid vom 24. Februar 1967 vertretenen Auffassung fest.

Das Sozialgericht vernahm den Dachdeckergesellen R. und Bürgermeister G. als Zeugen und verurteilte am 18. September 1968 die Beklagte, an die Klägerin 2.194,60 DM zu zahlen. Auf die Entscheidungsgründe wird verwiesen.

Gegen das am 16. Oktober 1968 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 5. November 1968 Berufung eingelegt. Das Sozialgericht habe verkannt, daß R. gegenüber der Gemeinde nicht wie in einem Beschäftigungsverhältnis tätig geworden sei und daher gem. § 539 Abs. 1 und 2 RVO nicht unter der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden habe.

Sie beantragt,
1) das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 18. September 1968 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 24. Februar 1967 abzuweisen.

2) hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie stützt sich auf das – nach ihrer Ansicht – zutreffend Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 18. September 1968.

Auf den weiteren Inhalt der Unfall- und Gerichtsakten wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt hatten (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG–).

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und daher zulässige Berufung ist unbegründet.

Die Vorinstanz hat mit Recht die Beklagte verurteilt, der Klägerin die von dieser aus Anlaß des Unfallereignisses des R. erbrachten Leistungen zu erstatten (§ 1510 RVO). R. hat nämlich einen Arbeitsunfall erlitten. Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs. 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in § 539 RVO genannten Tätigkeit erleidet. Gem. § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO – die Nr. 2 bis 16 kommen nicht in Betracht und können unberücksichtigt bleiben – sind gegen Arbeitsunfall versichert die auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten. Der Senat hat sich der von der Vorinstanz vertretenen Auffassung, daß zwischen R. und der Gemeinde S. ein Arbeitsvertrag geschlossen worden sei, nicht angeschlossen da es an dem Erfordernis der persönlichen Abhängigkeit des R. von der Gemeinde S. fehlt. Diese Frage konnte jedoch im einzelnen dahin gestellt bleiben. Nach der Überzeugung des Senats war R. jedenfalls wie ein nach § 539 Abs. 1 RVO Versicherter tätig geworden, der nach § 539 Abs. 2 RVO den gesetzlichen Versicherungsschutz genießt. Bei der Anwendung dieser Regelung kommt es nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Bd. 1, 168 ff.) weder auf die persönliche noch auf die wirtschaftliche Abhängigkeit des die Arbeit Leistenden von dem Unternehmen an. Voraussetzung ist vielmehr für die Anwendung des § 539 Abs. 2 RVO, daß es sich um eine ernstliche, dem in Betracht kommenden Unternehmen dienende Tätigkeit handelt, daß sie dem mutmaßlichen Willen des Unternehmens entspricht und daß der vorgestellte Erfolg der Tätigkeit den Unternehmenszweck irgendwie gefördert hätte, wenn der Erfolg eingetreten wäre. Die hiernach für die Anwendung des § 539 Abs. 2 RVO geforderten Voraussetzungen sind, wie der Sachverhalt erkennen läßt, ebenso erfüllt wie die weiteren, daß eine Tätigkeit vorliegen muß, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden kann, die zu dem Unternehmen in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit stehen, und schließlich, daß die Tätigkeit unter solchen Umständen geleistet werden muß, daß sie einer Tätigkeit auf Grund eines Beschäftigungsverhältnisses (§ 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO) ähnlich ist und somit ein innerer ursächlicher Zusammenhang mit dem unterstützen Unternehmen hergestellt wird. Diese Ähnlichkeit ist vorwiegend aus dem Umstand zu folgern, daß für die geplanten Arbeiten eine gewisse Zahl von Arbeitsstunden vorgesehen und ein bestimmter Stundenlohn vereinbart waren.

Die Beklagte meint, R. habe auf eigene Rechnung im "Unternehmen” der Gemeinde S. die Dachdeckerarbeiten auszuführen gehabt. Offensichtlich vertritt sie damit den Standpunkt, daß R. als Unternehmer tätig gewesen sei. Gegen diese Auffassung spricht, daß R. berufsmäßiger Arbeitnehmer war und nach den von der Beklagten unwidersprochenen Angaben der Klägerin auch weiterhin noch ist. Es bestehen keine Anhaltspunkte, daß R. in seiner arbeitsfreien Zeit auch anderweit Dachdeckerarbeit ausgeführt hätte. Selbst wenn dies gelegentlich der Fall gewesen sein sollte, so kann er doch keineswegs als Unternehmer angesehen werden. Für die Frage, ob jemand als selbständiger Unternehmer oder als Arbeitnehmer anzusehen ist, kommt es auf die tatsächliche Gestaltung der Verhältnisse an. Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist die wirtschaftliche und berufliche bzw. gesellschaftliche Gesamtsituation des Betreffenden (vgl. Schroeder/Strich, Komm. zur UV., Anm. 2 zu § 633 RVO). Wenn keine wirkliche unternehmerische Planung erkennbar ist und auch kein echtes Unternehmerwagnis besteht sowie der Betreffender seiner Lebensstellung nach eher zu dem Kreis der gegen Entgelt Beschäftigten gehört, muß eine Unternehmereigenschaft verneint werden. Dies ist hier der Fall. R. war seinem Berufsbild nach eindeutig Arbeitnehmer. Es sind keine Anhaltspunkte vorhanden, daß R. nebenher eine selbständige gewerbliche Tätigkeit ausgeübt hat oder angestrebt hätte. Wie der Senat in dem Urteil vom 12. November 1969 (Az.: L – 3/U – 323/67) ausgesprochen hat, widerspricht es der Lebenserfahrung, diese Facharbeiter als selbständige Gewerbetreibende anzusehen. Sie bleiben vielmehr unselbständige Arbeitnehmer. Sie hätten nämlich – wie hier R. – in aller Regel keinerlei Unternehmerrisiko zu tragen, da ihnen keine Unkosten entständen. Sie befinden sich rechtlich in keiner anderen Situation als die Einwohner einer Gemeinde, die zur Verrichtung von Notdiensten, Hand- und Spanndiensten, verpflichtet werden. Verrichtet daher ein als Arbeitnehmer bei einem Dritten beschäftigten Gemeindeeinwohner außerhalb seines Arbeitsverhältnisses freiwillig für seine Wohnortgemeinde gegen Vergütung dem Gemeinwohl dienende Arbeiten – wie hier R. – so ist er weder als selbständiger Unternehmer noch als "Schwarzarbeiter”, sondern vielmehr wie ein in Erfüllung bürgerlicher Pflichten (§ 2 Hess. Gemeindeordnung – HGO – Verrichtung von Naturaldiensten –) Tätiger zu behandeln. Er genießt somit Unfallversicherungsschutz bei dem für diese Gemeinde zuständigen Gemeindeunfallversicherungsträger.

Auch wenn R. mit der Herstellung eines Werkes (Decken des Daches) beauftragt war und vielleicht ein Werkvertrag angenommen werden könnte, wurde R. dadurch nicht zum Unternehmer. Die gegenteilige Ansicht des Bayer. LSG (Breithaupt 1964 S. 194) hat der Senat in dem erwähnten Urteil bereits abgelehnt. Dafür, ob jemand Unternehmer ist, kommt es wesentlich auf dessen Gesamtsituation und nicht auf den Charakter des einzelnen Rechtsverhältnisses an. Die zwischen der Gemeinde S. und R. vereinbarten Geldleistungen sind unter Berücksichtigung der allgemeinen Arbeitnehmerstellung als "Vergütung” bzw. "Entschädigung” anzusehen, deren Höhe dem Ermessen der Gemeinde überlassen ist.

Nach allem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfrage die Revision zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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