L 3 U 976/71

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 976/71
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der Versicherungsschutz bei Gefälligkeitsfahrten hängt nicht von einem zuvor getätigten oder bald bevorstehenden Geschäftsabschluß sondern nur davon ab, ob ein unmittelbarer Zusammenhang mit einem konkreten geschäftlichen Vorgang besteht.
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a.M. vom 11. August 1971 und der Bescheid vom 4. Dezember 1969 aufgehoben.

II. Die Beklagte wird verurteilt, das Ereignis am 9. Mai 1968 als Arbeitsunfall zu entschädigen.

III. Die Beklagte hat die dem Kläger entstandenen außergerichtlichen Verfahrenskosten zu erstatten.

IV. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der im Jahre 1938 geborene Kläger ist einer der Geschäftsführer der Firma R. GmbH in F., die Edelstähle verkauft. Seit Ende 1969 ist er auch Gesellschafter. Er erlitt am 9. Mai 1968 gegen 2,30 Uhr in B. Dadurch einen Verkehrsunfall, daß er mit einem firmeneigenen Pkw auf einen parkenden Lkw auffuhr und sich dabei Kopfverletzungen zuzog. Nach seinen Angaben befand sich der Kläger auf der Fahrt von F. Nach F., wo er damals wohnte, nachdem er zuvor den Stahleinkäufer der Firma W., F., D. S., im Anschluß an ein Verkaufsgespräch, das in der Zeit von 18,30 Uhr bis 23,30 Uhr in einer Gastwirtschaft in F. Stattfand, zu dessen Wohnung in F. Gefahren hatte.

Nachdem die Beklagte den Angestellten S. Und den Kläger durch das Versicherungsamt F. Hatte vernehmen lassen und die polizeiliche Ermittlungsakte beigezogen hatte, derzufolge beim Kläger eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,6 ‰ festgestellt wurde, lehnte sie dessen Entschädigungsanspruch mit Bescheid vom 4. Dezember 1969 ab. Selbst wenn man unterstelle, daß die geschäftliche Besprechung des Klägers in F. Bis 23,30 Uhr gedauert habe, wäre diese spätestens in diesem Zeitpunkt beendet gewesen, während sich der Unfall weit nach Mitternacht zugetragen habe. Die Fahrt nach F. Sei als eine private Gefälligkeitsleistung zu werten, durch die dem Angestellten S. Lediglich eine Bahnfahrt habe erspart werden sollen.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 22. Dezember 1969 beim Sozialgericht Frankfurt a.M. Klage erhoben und erklärt, er könne sich sicher nur noch an die Fahrt bis F. Erinnern, von da ab habe er eine Erinnerungslücke.

Das Sozialgericht vernahm den Kaufmann D. S. Als Zeugen und holte von dem Leiter der Zweigniederlassung F. Der Firma W., G. H., eine Auskunft darüber ein, inwieweit S. Für diese Firma verhandlungsbefugt gewesen sei. Danach war S. Berechtigt für die Firma W. Einkaufs- und Verkaufsgespräche über Edelstähle zu führen. Die Zeit von 18,30 Uhr bis 23,30 Uhr halte er für das damalige Gespräch mit dem Kläger als nicht übersetzt.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 11. August 1971 abgewiesen. Zwar sei der Kläger am 8. Mai 1968 ab 18,30 Uhr in F. Geschäftlich tätig gewesen und habe in einer Gaststätte mit dem Zeugen S. Ein Verkaufsgespräch geführt. Wann diese Besprechung beendet gewesen sei, könne nicht mehr festgestellt werden. Da sie nur vorbereitenden Charakter für einen Geschäftsabschluß gehabt habe, habe es sich bei der anschließenden Fahrt nach F. Um eine nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehende Gefälligkeitsfahrt gehandelt. Außerdem sei im Unfallzeitpunkt um 2,30 Uhr eine Lösung vom Betrieb eingetreten gewesen, weil die Besprechung nach den Bekundungen des Zeugen S. Nur bis 23,30 Uhr gedauert und die Fahrtzeit von F. Nach F. Ca. ¾ Stunden betragen habe. Schließlich sei der Versicherungsschutz auch deshalb entfallen, weil nach der Erfahrung des täglichen Lebens nicht angenommen werden könne, daß auch ein nicht unter Alkoholeinwirkung stehender Kraftfahrer bei gleicher Sachlage verunglückt wäre.

Gegen das ihm am 2. September 1971 zugestellte Urteil hat der Kläger am 28. September 1971 Berufung eingelegt.

Er trägt u.a. vor, bei seiner Besprechung mit dem Zeugen S. In der Zeit von 18,30 bis 23,30 Uhr habe es sich um eine geschäftliche Zusammenkunft gehandelt, wobei die Nichtzustandekommen eines Geschäftsabschlusses versicherungsrechtlich unschädlich sei. Seine Fahrt mit dem Zeugen S. Nach F. Habe in einer konkreten und unmittelbaren Beziehung zu betrieblichen Zwecken gestanden, weil er mit S. Von dem Fehlen einer geeigneten Zugverbindung ausgegangen sei. Es könne auch nicht durch Zeitablauf zu einer Lösung vom Betrieb gekommen sein, weil nur ungefähre Zeitangaben vorlägen und bisher nicht aufgeklärt worden sei, wann er die Rückfahrt von F. Angetreten habe. Auch könne die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit nicht die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen sein, weil Zweifel an dem mit 5 Uhr angegebenen Zeitpunkt der Blutentnahme und damit an der Rückrechnung bei der Bestimmung der BAK bestünden und auch bei der Annahme eines Wertes von nur 0,6 ‰ keine Verkehrsuntüchtigkeit als alleinige Ursache in Betracht komme.

Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 4. Dezember 1969 und in Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Frankfurt a.M. vom 11. August 1971 die Beklagte zu verurteilen, ihm die gesetzlichen Leistungen aus der Unfallversicherung anläßlich des Unfalls vom 9. Mai 1968 in B. Zu gewähren,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie führt u.a. aus, selbst wenn davon ausgegangen werde, daß der Kläger vor Antritt der unfallbringenden Fahrt einer versicherten Tätigkeit nachgegangen sei, dient und der Kontaktpflege gegolten und keine konkrete geschäftliche Verrichtung dargestellt. Zur Frage des möglichen Alkoholgenusses werde angeregt, ein gerichtsmedizinisches Gutachten einzuholen.

In der mündlichen Verhandlung am 1. November 1972 ist der Kläger persönlich gehört und der Handlungsbevollmächtigte D. S. Als Zeuge vernommen worden. Auf ihre in die Sitzungsniederschrift aufgenommenen Angaben bzw. Aussagen wird ebenso Bezug genommen wie auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten, des Amtsgerichts B., Gesch. Nr. Cs , und der Gerichtsakte, der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden ist.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gegen die Beklagte aus Anlaß seines Verkehrsunfalls am 9. Mai 1968, weil es sich dabei um einen Arbeitsunfall handelte (§ 547 ff. Der Reichsversicherungsordnung – RVO).

Zunächst ist festzustellen, daß der Kläger am 8. Mai 1968 von 18,30 bis 23,30 Uhr in der Gaststätte R., F., T.str. , in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der Stahlfirma R. GmbH F. Mit dem Sachbearbeiter für Edelstähle D. S. Der Eigengroßhandlung W., F., Verhandlungen in Bezug auf eine geschäftliche Antrage eines Kunden dieser Firma führte. Nachdem sich der Kläger bereits am Nachmittag dieses Tages mit der Fa. W. In Verbindung gesetzt hatte, wurde zwischen ihm und S. Wegen Zeitknappheit vereinbart, das geschäftliche Gespräch um 18,30 Uhr in der genannten Gaststätte fortzusetzen. Etwa ¼ der Zeit bis 23,30 Uhr wurde für das Abendessen und eine persönliche Unterhaltung, die andere Zeit für die geschäftliche Besprechung verwandt. Dies sieht der Senat nach der zweimaligen Vernehmung des Kaufmanns D. S. Als Zeugen und der persönlichen Anhörung des Klägers als erwiesen an. Die Bekundungen des Zeugen S. Stimmen im wesentlichen auch mit dessen Angaben bei der polizeilichen Vernehmung im Verwaltungsverfahren am 11. Juni 1969 überein. Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger oder Seipp falsche Angaben bzw. Bekundungen gemacht haben, liegen nicht vor. Der Zweigstellenleiter der Fa. W., G. H., hat dem Sozialgericht am 24. Juni 1971 auch mitgeteilt, S. Sei zur Führung des Gesprächs mit dem Kläger befugt gewesen und er halte die Zeit von 18,30 bis 23,30 Uhr für ein derartiges geschäftliches Gespräch nicht für übersetzt. Aus der geringen Höhe der Bewirtungskosten von etwa 20,– DM sei zu ersehen, daß die Zusammenkunft geschäftlichen Charakter gehabt habe. Die Fa. R. GmbH legte der Beklagten die Gasthausrechnung vom 8. Mai 1968 über 19,50 DM für Speisen und Getränke in Fotokopie vor. Daraus, daß diese Rechnung von ihr bezahlt wurde, folgt ebenfalls, daß der Aufenthalt des Klägers in der Gaststätte betriebsbedingt war, zumal zwischen ihm und S. Vorher keine persönliche Kontakte bestanden hatten, wie der Kläger glaubhaft angegeben hat.

Eine Unterbrechung der versicherten Tätigkeit durch die Einnahme des Abendessens und eingestreute persönliche Gespräche führte zu keiner Lösung vom Betrieb, da diesen Verrichtungen nach der Bekundung des Zeugen S. Gegenüber der geschäftlichen Besprechung keine wesentliche Bedeutung zukam und sie auch nicht von einem bestimmten Zeitpunkt ab im Vordergrund standen oder den weiteren Aufenthalt in der Gaststätte bestimmten.

Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Sozialgerichts stand der Kläger auch während der Fahrt nach F. Und zurück nach F. Unter Versicherungsschutz. Es handelte sich zwar um eine Gefälligkeitsfahrt, die dem Unternehmen des Klägers fremd war. Sie fand jedoch nicht lediglich aus Anlaß einer auf Geschäftsbeziehungen beruhenden Bekanntschaft statt, vielmehr bestand ein enger Zusammenhang mit der vorausgegangenen geschäftlichen Besprechung zwischen dem Kläger und dem Zeugen S., wenn es auch später nicht zu einem Geschäftsabschluß aufgrund der Besprechung gekommen ist. Das Sozialgericht hat sich nach Auffassung des erkennenden Senats zu Unrecht auf BSG 1, 258 ff. Bezogen. Dort heißt es zwar u.a., bei unternehmensfremden Gefälligkeitshandlungen müsse zur Bejahung des Versicherungsschutzes die Gefälligkeit des Kundendienstes eng mit dem Geschäft zusammenhängen, insbesondere in unmittelbarer Verbindung zu bestimmten (kurz zuvor getätigten oder bald bevorstehenden) Geschäftsabschlüssen stehen. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, daß Versicherungsschutz bei einer Gefälligkeitsfahrt nur dann besteht, wenn ein Geschäftsabschluß entweder kurz zuvor getätigt wurde oder bald bevorsteht. Das Bundessozialgericht wollte offensichtlich nur besonders markante geschäftliche Situationen beispielhaft aufzeigen, ohne damit eine abschließende Wertung vorzunehmen. Nach Auffassung des erkennenden Senats steht ein Geschäftsmann, der einen potentiellen Geschäftspartner in seinem Pkw zu einem Besprechungspunkt und – oder – von dort nach Hause fährt, auch dann unter Versicherungsschutz, wenn es später nicht zu einem Geschäftsabschluß kommt. Der Versicherungsschutz bei Gefälligkeitsfahrten hängt nicht von einem bereits eingetretenen oder bevorstehenden Geschäftserfolg ab, sondern nur von dem unmittelbaren Zusammenhang mit einem konkreten geschäftlichen Vorgang. Ein solcher Zusammenhang bestand im vorliegenden Fall, nachdem sich die geschäftliche Besprechung des Klägers mit dem Zeugen S. Bis 23,30 Uhr hingezogen hatte. Wie S. bekundete, bot ihm der Kläger beim Verlassen der Gastwirtschaft an, ihn mit seinem Pkw nach Hause zu fahren. Der nächste Zug nach dem 34 km entfernten F. Ging erst um 0,42 Uhr in F. Ab und kam dort um 1,22 Uhr an.

Obwohl sich der Unfall des Klägers in B. Und damit auf dem direkten Weg von F. Nach F. ereignete, setzte das Fortbestehen des Versicherungsschutzes voraus, daß es im Unfallzeitpunkt nicht zu einer Lösung vom Betrieb gekommen war.

Nach der Bekundung des Zeugen S. Und den damit im wesentlichen übereinstimmenden Angaben des Klägers dauerte die gegen 23,30 Uhr in F. Angetretene Fahrt nach F. Etwa 45 Minuten. Nach ihren weiteren Angaben bzw. Aussagen haben beide sich anschließend noch etwa 20 bis 30 Minuten vor dem Haus des S. Im Wagen unterhalten. Während S. Den Zeitpunkt, in dem er sich von dem Kläger verabschiedete, mit etwa 0,45 Uhr angab, meint der Kläger, es können gegen 1,15 Uhr gewesen sein. Nach der in der beigezogenen Strafakte befindlichen Verkehrsunfallanzeige ereignete sich der Unfall des Klägers jedoch erst um 2,30 Uhr. Auch der polizeilich vernommene Kraftfahrer L. M., auf dessen geparkten Lastzug der Kläger auffuhr, gab als Unfallzeitpunkt 2,30 Uhr an. Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger früher verunglückte, sind nicht erkennbar. Da er für die Fahrt von F. Nach B. Etwa 30 Minuten benötigte, verbleibt eine Zeitspanne von etwa 1 bis 1 1/2 Stunden, in welcher über den Verbleib des Klägers nichts bekannt ist und für die er nach seinen Angaben trotz eingehenden Befragens eine Erinnerungslücke hat. In dem polizeilichen Protokoll und Antrag zur Feststellung des Alkohols im Blut vom 9. Mai 1968 heißt es, der Kläger habe am 8. Mai 1968 um 20 Uhr und am 9. Mai 1968 um 2 Uhr drei Glas Bier und eine Flasche Bier getrunken und außer einem Schnitzel am 8. Mai 1968 um 20 Uhr am 9. Mai 1968 zwischen 1 und 2 Uhr zwei belegte Brote gegessen. Ob die Flasche Bier am 8. Mai 1968 um 20 Uhr oder am 9. Mai 1968 um 2 Uhr getrunken wurde, geht aus dem Protokoll mit Sicherheit nicht hervor. Der hierzu gehörte Kläger hat angegeben, in der Gastwirtschaft in F. Apfelwein und allenfalls Bier im Glas aber kein Flaschenbier getrunken zu haben. Die ihm vorgehaltenen Protokollangaben konnte er nicht erklären. Möglicherweise ist der Kläger also, nachdem er sich von dem Zeugen S. Verabschiedet hatte, noch irgendwo eingekehrt und hat dort belegte Brote gegessen und eine Flasche Bier getrunken. Der Zeuge S. Hat auf ausdrückliches Befragen bekundet, der Kläger sei weder mit ihm irgendwo eingekehrt noch in seiner Wohnung in F. Gewesen. Eine weitere Beweiserhebung hierüber hielt der Senat nicht für erforderlich. Einmal verspricht sie keinen Erfolg. Selbst wenn der Polizeibeamte, der das Protokoll aufgenommen hat, bekunden würde, daß der Kläger tatsächlich die von ihm aufgezeichneten Äußerungen gemacht hat, wäre es nämlich möglich, daß der Kläger dabei unter der Wirkung eines Unfallschocks stand, zumal er sich eine nicht unerhebliche Kopfverletzung zugezogen hatte, so daß seinen damaligen Angaben u.U. kein Beweiswert zukommt. Zum anderen ist eine solche Beweiserhebung auch nicht zur Entscheidung dieses Rechtsstreites erforderlich. Es ist nämlich hierfür ohne rechtliche Bedeutung, ob der Kläger etwa zwischen 0,45 und 2 Uhr noch irgendwo eingekehrt ist und dabei etwas gegessen und getrunken hat. Hierdurch wäre lediglich eine Unterbrechung der versicherten Betriebsfahrt nach F., aber keine Lösung vom Betrieb eingetreten, weil aus dieser Handlungsweise und deren Dauer nicht hervorgeht, daß er die Verbundenheit mit dem betrieblichen Charakter der Fahrt aufgegeben hatte und sich anderen, betriebsfremden Zwecken widmen wollte. Jedenfalls liegen dafür keine Anhaltspunkte vor. Bei der in Frage stehenden Zeitspanne ist die Annahme gerechtfertigt, daß sich der Kläger wegen der vorgeschrittenen Zeit lediglich ausruhen und stärken wollte, ehe er sie Rückfahrt antrat. Es ist auch möglich, daß er sich lediglich in dem geparkten Pkw ausgeruht und u.U. dort geschlafen hat.

Da somit eine bloße Unterbrechung der versicherten Tätigkeit vorlag, die bereits vor dem Unfallzeitpunkt beendet war, blieb nur noch zu prüfen, ob der Unfall allein durch eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit verursacht wurde, wie das Sozialgericht meint. Insoweit ist dessen Urteil jedoch widersprüchlich. Es nennt als mögliche Unfallursachen nämlich eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit sowie Übermüdung, ohne daß die letztgenannte Unfallmöglichkeit erörtert wurde.

Gegen die mit 0,6 ‰ festgesetzte BAK bestehen keine Bedenken. Die Blutentnahme erfolgte dem ärztlichen Untersuchungsbericht des Dr. M. Zufolge erst am 9. Mai 1968 um 5 Uhr in der Universitäts-Augenklinik F., nachdem der Kläger zuvor im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus in F. Versorgt worden war. Bei der Blutuntersuchung ergab sich nach der Widmark- und Fermentmethode eine BAK von 0,38 ‰. Durch Rückrechnung auf die Unfallzeit um 2,30 Uhr ist dann eine BAK von 0,6 ‰ errechnet worden. In dem Gutachten des Prof. Dr. G. Vom 9. Mai 1968 heißt es, der Untersuchte sei möglicherweise nicht fähig gewesen, einen Pkw im Verkehr sicher zu lenken. Alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit ist nach der Rechtsprechung des BGH, der sich der erkennende Senat anschließt, erst bei einer BAK von 1,3 ‰ (vgl. Beschluss vom 9.12.1966, 45 R 119/66), nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG sogar erst bei einer BAK von 1,5 ‰ (vgl. BSG 3, 116) anzunehmen. Zwar kann davon ausgegangen werden, daß die psycho-psychische Leistungsfähigkeit eines Kraftfahrers bereits bei 0,3 ‰ meßbar gestört ist und Aufmerksamkeitsstörungen eintreten können (vgl. Urteil des BGH vom 24.10.1055, NJW 1956 S. 21). Im vorliegenden Fall kann der Unfall aber auch durch andere Umstände verursacht worden sein.

Da der Kläger gegen 2,30 Uhr verunglückte, besteht die Möglichkeit, daß er übermüdet war und seine Aufmerksamkeit dadurch zumindest im Unfallzeitpunkt beeinträchtigt wurde. Ferner ist es möglich, daß der Unfall durch erhöhte Geschwindigkeit verursacht worden ist. Der Fahrer des Lkw, auf den der Kläger auffuhr, der Kraftfahrer L. M., hat nämlich bei seiner polizeilichen Vernehmung am 9. Mai 1968 ausgesagt, der Pkw des Klägers schiene ziemlich schnell gefahren zu sein. Das ergibt sich auch aus dessen weiteren Aussage, durch den Zusammenstoß sei sein Lastzug trotz angezogener Bremse und eingelegtem Gang etwa 3 m nach vorn gedrückt worden.

Der am 15. Juli 1968 gegen den Kläger ergangene Strafbefehl ist auch nur damit begründet worden, dieser habe seine Fahrgeschwindigkeit nicht der Verkehrslage entsprechend eingerichtet. Fahren in alkoholbeeinflußtem Zustand wurde ihm dagegen nicht vorgeworfen. Schließlich besteht die Möglichkeit, daß der Kläger unmittelbar vor dem Unfall von einem entgegenkommenden Fahrzeug geblendet wurde. Er hatte der Amtsanwaltschaft F. Durch seinen damaligen Prozeßbevollmächtigten, den RA. R., F., nämlich am 27. Juni 1968 vorgetragen lassen, er sei durch Halogenscheinwerfer über einen größeren Zeitraum stark geblendet gewesen und habe deshalb nicht gemerkt, daß der Lastzug nicht fuhr sondern geparkt war. In der Unfallanzeige der Fa. R. Vom 16. September 1968 heißt es ebenfalls, der Kläger sei von einem entgegenkommenden Fahrzeug geblendet worden. Im sozialgerichtlichen Verfahren hat sich der Kläger dann zwar dahin eingelassen, er könne sich an eine Blendung nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich ist aber, daß er in der ersten Zeit nach dem Unfall noch ein besseres Erinnerungsvermögen hatte, was sich insbesondere daraus ergibt, daß er bei der Blutentnahme Angaben u.a. über eine Essensaufnahme vor dem Unfall gemacht hatte, woran er sich in der letzten mündlichen Verhandlung ebenfalls nicht mehr erinnern konnte.

Eine weitere Sachaufklärung zur Feststellung der Unfallursache ist nicht mehr möglich. Zu der Frage, ob der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls geblendet wurde, könnte allenfalls der Kraftfahrer L. M. vernommen werden. Dieser gab aber bei seiner polizeilichen Vernehmung an, er habe im Unfallzeitpunkt auf dem rechten Trittbrett des Motorwagens gestanden und gerade einsteigen wollen. Er konnte demnach aus seinem Blickwinkel nicht beobachten, ob der Kläger geblendet wurde. Selbst wenn aber M. oder ein anderer Zeuge bekunden würde, eine Blendwirkung könne nicht vorgelegen haben, bleibt es weiterhin möglich, daß der Unfall auf überhöhte Geschwindigkeit und Übermüdung zurückzuführen ist. Im Hinblick auf die verhältnismäßig geringe BAK und die Möglichkeit des Bestehens anderer Unfallgründe ist festzustellen, daß keine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit als alleinige Unfallursache vorlag.

Sofern man jedoch die Auffassung vertritt, daß hierüber weiterhin Ungewißheit besteht – eine weitere Sachaufklärung ist nicht mehr möglich – geht die Nichterweislichkeit der alkoholbedingten Verkehrsuntüchtigkeit nach einem allgemeinen Grundsatz des Prozeßrechts zu Lasten dessen, der sich auf die Tatsache beruft, hier also der Beklagten. Die Verkehrsuntüchtigkeit ist nämlich kein negatives Tatbestandsmerkmal sondern eine rechtshindernde Tatsache (vgl. Urteil des BSG 2 RU 281/55; Urteil des Hess. LSG vom 14.4.1971, L-3/U – 473/69, gegen das unter dem Az.: 2 ARU 157/71 ein Revisionsverfahren anhängig ist.)

Die Beklagte war daher zu verurteilen, das Ereignis vom 9. Mai 1968 als Arbeitsunfall zu entschädigen Eine Verurteilung nur dem Grunde nach war zulässig, weil dem Kläger wegen der erlittenen durchdringenden rechtsseitigen Augenverletzung sowie multipler Knochenbrüche im Bereich des Gesichtsschädels ein Anspruch auf eine der in § 547 RVO angeführten Leistungen, wenigstens in der Mindesthöhe, zusteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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