L 3 U 351/72

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 351/72
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Träger der öffentlichen Fürsorge hat gegen eine Berufsgenossenschaft einen Anspruch auf Erstattung der Unterbringungskosten auch im Falle der Asylierung eines Unfallverletzten nach dem Hess. Freiheitsentziehungsgesetz, wenn durch die stationäre Behandlung eine Minderung der Beschwerden erreicht wird.
Auf die Berufung des Klägers wird unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Kassel vom 2. März 1972 die Beklagte verurteilt, ihm die Kosten der Unterbringung des R. M. im Psychiatrischen Krankenhaus H. seit dem 23. Januar 1969 zu erstatten.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten Kostenerstattung für die gemachten Aufwendungen aus Anlaß der zeitweise gewährten Anstaltspflege des R. M. (M.) im Psychiatrischen Krankenhaus (PKH) H. in dem Zeitraum vom 23. Januar 1969 bis zum 30. November 1972.

Der 1932 geborene und am 30. November 1972 nach Suicid verstorbene M. erhielt von der Beklagten wegen eines Arbeitsunfalls vom 4. November 1959 aufgrund der Folgen einer Commotio cerebri, einer Scheitelbeinfraktur mit Basisbeteiligung und verschiedener Schürfwunden zuletzt seit Juni 1965 eine Verletztenrente nach einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v.H. Nachdem sich M. wegen einer bestehenden Selbst- und Fremdgefährdung von Dezember 1960 bis Ende Mai 1961 freiwillig im PKH H. zur stationären Behandlung aufgehalten hatte, ordnete gemäß Beschluss vom 9. Juni 1961 das Amtsgericht B. nach dem Hessischen Freiheitsentziehungsgesetz (HFEG) die einstweilige Unterbringung in diesem Krankenhaus an. Sie dauerte mit Unterbrechungen bis zu seinem Tode. Die Unterbringung war spätestens seit dem 13. Februar 1969 wegen einer von ihm ausgesprochenen Morddrohung und der Möglichkeit eines Suicids nach § 1 Abs. 1 und 2 HFEG ausgesprochen worden.

Die Beklagte, die zunächst dem M. für die verschiedenen Aufenthalte im Psychiatrischen Krankenhaus H. Anstaltspflege gewährt hatte, lehnte die von dem Kläger geltend gemachte Erstattung der Kosten für die Unterbringung ab 23. Januar 1969 ab. Zur Begründung gab sie an: Sie habe ab diesem Zeitpunkt keine Heilanstaltspflege gewährt. M. habe einer solchen Maßnahme nicht zugestimmt.

Ein Ersatzanspruch bestehe nicht, da M. nicht aus Gründen der Heilbehandlung sondern der Gemeingefährlichkeit als Geisteskranker in eine Heilanstalt eingewiesen worden sei.

Hierauf hat der Kläger am 29. Mai 1970 bei dem Sozialgericht Kassel – SG – Klage erhoben und geltend gemacht, daß die stationäre Aufnahme des M. aufgrund der anerkannte Unfallfolgen erforderlich geworden sei.

Das SG hat mit Urteil vom 2. März 1972 die Klage abgewiesen und u.a. ausgeführt: Die Beklagte sei zur Kostenerstattung der Unterbringung des M. im PKH H. nicht verpflichtet, da mit ihr nicht eine Heilbehandlung i.S. des § 556 der Reichsversicherungsordnung – RVO–, nämlich die Beseitigung von durch Arbeitsunfall verursachten Körperverletzungen, Gesundheitsstörungen oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit bzw. die Verhütung der Verschlimmerung der Unfallfolgen verfolgt worden sei. M. sei in einer Heilanstalt nach dem HFEG auf richterliche Anordnung wegen einer auf einer Geisteskrankheit beruhende Gemeingefährlichkeit untergebracht worden. Es habe ein Fall der Asylierung vorgelegen. Die Asylierung eines Unfallverletzten falle aber grundsätzlich nicht unter die Heilbehandlung nach den Vorschriften des 3. Buches der RVO, wie sich aus der speziellen Vorschrift des § 856 Abs. 2 RVO, nach der ausnahmsweise die Berufsgenossenschaft bei asylierten Tuberkulosekranken Ersatz zu leisten hätten, ergebe.

Gegen das ihm am 13. März 1972 zugestellte Urteil hat der Kläger am 7. April 1972 Berufung eingelegt. Zu ihrer Begründung bringt er vor: Die Unterbringung nach dem HFEG schließe die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Heilanstaltspflege nach § 559 RVO nicht aus. Für den Bereich der Krankenversicherung habe das Bundessozialgericht – BSG – mehrfach entschieden, daß die Unterscheidung, ob sich ein Geisteskranker überwiegend aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder im eigenen Interesse in einer Anstalt aufhalte, weder möglich noch sinnvoll sei, da ein Geisteskranker, der die öffentliche Sicherheit und Ordnung störe, zugleich Kranker sei. Das SG habe übersehen, daß die Unterbringung wegen der anerkannten Unfallfolgen erforderlich geworden sei. Auch die Unterbringung eines Geistesgestörten diene der Heilung der Krankheit bzw. der Verhütung der Verschlimmerung von Unfallfolgen. Auf die fehlende Zustimmung des M. komme es nicht an. Im übrigen handele es sich bei der Vorschrift des § 556 Abs. RVO nicht um eine lex specialis; sie erweitere vielmehr den Kreis der berechtigten Personen auch auf Tuberkulosekranke, ohne daß die Zielsetzung der Heilbehandlung nach § 556 Abs. 1 Nr. 1 RVO gewährleistet sein müsse.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 2. März 1972 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen ihm die durch die Unterbringung des M. im Psychiatrischen Krankenhaus H. ab 23. Januar 1969 entstandenen Unterbringungskosten zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
ein Gutachten darüber einzuholen, ob durch die Unterbringung eine Verschlimmerung im Zustand der Unfallfolgen verhütet werden konnte.

Sie beruft sich auf den Inhalt des sozialgerichtlichen Urteils, das sie für zutreffend hält.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Streit- und Beklagtenakten sowie die Unterbringungsakten des Amtsgerichts (3 XIII 152/61 und 3 XIII 194/70) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist auch begründet. Das auf die zulässige Klage (§ 54 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG) ergangene sozialgerichtliche Urteil mußte aufgehoben werden, da das SG mit ihm zu Unrecht die Befriedigung eines Ersatzanspruches des Klägers wegen der für M. gemachten Aufwendungen aus Anlaß seiner Unterbringung im PKH H. seit dem 23. Januar 1969 abgelehnt hat.

Ein solcher Anspruch steht dem Kläger gegen die Beklagte zu, da die Voraussetzungen des § 1531 RVO erfüllt sind. Nach dieser Vorschrift kann der Kläger als Träger der öffentlichen Fürsorge Ersatz dafür verlangen, daß er einen Hilfsbedürftigen nach gesetzlicher Pflicht für eine Zeit unterstützt hat, für die er einen Anspruch nach der RVO hatte oder noch hat. Nach § 556 RVO hat der Unfallversicherungsträger Krankenbehandlung wegen eines Arbeitsunfalls insoweit zu gewähren, als eine dadurch verursachte Körperverletzung oder Gesundheitsstörung und Minderung der Erwerbsfähigkeit beseitigt und eine Verschlimmerung verhütet werden kann. Jedoch besteht eine solche Leistungspflicht der Berufsgenossenschaft dann nicht, wenn ein sogenannter Asylierungsfall vorliegt, d.h., der Erkrankte bei dem keine Heilung mehr zu erwarten ist, allein aus sicherheits-polizeilichen Gründen in einer Anstalt untergebracht wird. Dann kann nämlich sein durch den Unfall bedingter körperlicher Zustand nicht mehr entsprechend der Zielsetzung des § 556 RVO fühlbar verbessert werden (vgl. GE RVA in AN 1930 S. 438; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Auflage, Anm. 3 a zu § 1531 mit Anm. 16 zu § 556 RVO). Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 3. Februar 1965 (L-3/U – 449/63) entschieden hat, ist zu prüfen, ob für die stationäre Unterbringung im Vordergrund die Gewährung von Heilbehandlung im Sinne des § 556 RVO oder die Asylierung aus sicherheitspolizeilichen Gründen gestanden hat. Zu Unrecht hat das SG das Letztere angenommen.

Hierzu ist anhand der Unfall- und der beigezogenen Unterbringungsakten folgendes festzustellen: Bei dem verstorbenen M. war es infolge des schweren Arbeitsunfalls vom 4. November 1959 u.a. zu einer Substanzminderung des Gehirns, einer Wesensänderung und einer organischen Leistungsschwäche sowie im Sinne einer wesentlichen Mitverursachung zum Ausbruch einer paranoiden Fehlhaltung gekommen. Dies steht zur Überzeugung des Senats auf Grund der Gutachten des Dr. St. vom PKH H. vom 15. Mai 1961, des Prof. Dr. F. und des Dr. S. von der Universitäts-Nervenklinik F. vom 24. April 1962 sowie der Nervenfachärzte der Universitätsnervenklinik M. Priv. Doz. Dr. J. vom 12. Februar 1963, Priv. Doz. Dr. St. vom 7. April 1967 und Prof. Dr. P. vom 26. September 1967 fest. Die Beklagte, die diesen Zusammenhang zunächst unter Hinweis auf die Stellungnahmen des Dr. E. vom 11. Juli 1961 und vom 5. September 1962 verneint hatte, hat gegenüber M. den Ausbruch der paranoiden Fehlhaltung als Unfallfolge anerkannt und regelmäßig bis zum Januar 1969 im PKH H. Heilanstaltspflege gewährt. Im Bestehen dieses ursächlichen Zusammenhanges ist auch für den hier streitigen Zeitraum ab 23. Januar 1969 keine Änderung eingetreten.

Die Beklagte macht zu Unrecht geltend, daß für die Einweisung des M. in das PKH H. von diesem Zeitpunkt an allein die Asylierung im Vordergrund gestanden habe, da die Unterbringung wegen seiner Gemeingefährlichkeit nach dem HFEG erfolgt sei und keine Verschlimmerung im Zustand der Unfallfolgen verhütet habe. Zwar steht nach den Gutachten der beamteten Ärzte des PKH H. der Dres. St., H., F., L. und F. vom 7. Februar 1969, 26. September 1969, 23. Juni 1970, 17. September 1970, 5. September 1972 und 8. November 1972 fest, daß M. wegen aggressiver Handlungen teilweise mit Morddrohungen gegenüber Dritten in seiner näheren Umgebung nach § 1 Abs. 1 und 2 HFEG untergebracht werden mußte. Das bedeutet aber nicht, daß M. nicht auch im Sinne des § 556 Abs. 1 RVO gleichzeitig zum Zwecke der Verhütung einer Verschlimmerung der unfallbedingten paranoiden Fehlhaltung behandelt wurde. Zutreffend bezieht sich der Kläger auf die Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, daß die Unterscheidung, ob sich ein Geisteskranker überwiegend aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder im eigenen Interesse in einer Anstalt aufhält, weder möglich noch sinnvoll ist, und der Geisteskranke, der die öffentliche Sicherheit stört, nicht nur als Störer, sondern immer auch als Kranker angesehen und als solcher behandelt werden muß (vgl. BSG Urt. v. 9.8.1966, 1 RA 271/72; Urt. vom 16.3.1972, 10 RV 594/70). Hiernach genügt es, wenn Behandlungsmaßnahmen ergriffen werden, die die Krankheitserscheinungen, z.B. Unruhe- und Erregungszustände, mindern oder Verschlimmerungen verhindern können. Der Ersatzanspruch nach § 1531 RVO ist auch bei einer Unterbringung nach dem HFEG gegeben, wenn sie nicht nur der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung sondern auch der Heilbehandlung in diesem Sinne dient (vgl. Lauterbach, a.a.O., Anm. 3 a zu § 1531 RVO; RVO-Gesamtkommentar Anm. 6 zu § 1531 RVO). Das ist hier aber der Fall. Nach den in den Unterbringungsakten enthaltenen gutachtlichen Äußerungen der beamteten Ärzte des PKH H. kam es zu akuten Schüben der Paranoia hauptsächlich dann, wenn M. die ihm verordneten Medikamente nach vorübergehender Entlassung außerhalb der Anstalt nicht einnahm. Nach der jeweiligen Wiedereinweisung trat dann schon bald aufgrund einer antipsychischen medikamentösen Behandlung eine Beruhigung ein, die eine Kontaktaufnahme mit ihm ermöglichte. Es kam dann stets zu einer Besserung seines akuten Zustandes. Dies wird besonders deutlich aus den Gutachten der Dres. St. und F. vom 7. Februar 1969, 2. November 1970, 5. September 1972 und vom 8. November 1972. Gerade daraus, daß jeweils nach der Nichteinnahme der verordneten Medikamente im Krankheitszustand des M. eine akute Verschlimmerung eintrat, die nach der Einweisung stets gemildert werden konnte, folgt, daß die Unterbringung nicht nur der Asylierung sondern auch der Heilbehandlung gedient hat. Damit wird der Zielsetzung des § 556 Abs. 1 RVO voll entsprochen. Da dies nach den beigezogenen Unterbringungsakten erwiesen ist, brauchte der Senat insoweit auch nicht dem Hilfsantrag der Beklagten nachzugehen.

Die Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, M. habe der Heilbehandlung im PKH H. nicht zugestimmt. Aus den Akten ist nicht zu entnehmen, daß er widersprochen hat. Solange aber der Verletzte nicht widerspricht, ist seine Zustimmung als gegeben anzunehmen (vgl. Lauterbach, a.a.O. Anm. 4 zu § 559 RVO). Im übrigen war eine solche hier nicht erforderlich, da M. auf Grund richterlicher Anordnung nach dem HFEG untergebracht und im Rahmen dieser Unterbringung behandelt wurde. § 559 Abs. 2 RVO betrifft dem gegenüber die Fälle, in denen der Verletzte in der Lage ist, aus eigenem Entschluß einer bestimmten Heilbehandlungsmaßnahme zuzustimmen. Dieser Tatbestand lag hier nicht vor.

Nach alledem ist daher die Beklagte verpflichtet, dem Kläger als Sozialhilfeträger die vom 23. Januar 1969 bis zum 30. November 1972 entstandenen Krankenhauskosten im PKH H. zu erstatten. Der Senat konnte sich mit seinem Anspruch auf den Erlaß eines Grundurteils (§ 130 i.V.m. § 54 Abs. 5 SGG) beschränken, da die Beteiligten noch genau abzurechnen haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 5 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved