S 14 SO 90/07 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
14
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 14 SO 90/07 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 SO 105/07 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Verfassungsgemäßheit des Regelsatzes nach § 28 SGB XII
1. Der Antrag auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz vom 10.07.2007 wird abgelehnt.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

( ...) Die von der Antragstellerin begehrte einstweilige Anordnung ist nicht zu treffen. Das Gericht kann auf Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1); es kann eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Satz 2). Neben dem Anordnungsgrund, das ist: der Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, setzt die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz nach herrschender Meinung (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O., Randnr. 26c zu § 86b) den Anordnungsanspruch, das ist: der materiell-rechtliche Anspruch auf die Leistung, voraus, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System gegenseitiger Wechselbeziehung: Ist etwa die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund (wie vor, Randnr. 29). Alle Voraussetzungen des einstweiligen Rechtsschutzes sind – unter Beachtung der Grundsätze der objektiven Beweislast – glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO -); die richterliche Überzeugungsgewissheit in Bezug auf die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes erfordert insoweit eine lediglich überwiegende Wahrscheinlichkeit (Meyer-Ladewig, a.a.O., Randnr. 16b). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, wenn die grundrechtlichen Belange des Antragstellers berührt sind, weil sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen müssen. Sind Grundrechte tangiert, ist die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005 -1 BvR 569/05). - Die gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen sind vorliegend nicht glaubhaft gemacht.

Zunächst fehlt es am Anordnungsgrund der Eilbedürftigkeit der begehrten Gerichtsentscheidung. Es spricht nach summarischer Prüfung im Eilverfahren nicht mehr dafür als dagegen, dass die Antragstellerin in unzumutbarer Weise, insbesondere unter existenzieller Bedrohung, leben muss.
(Wird ausgeführt.) ( ...)

Sodann ist der Anordnungsanspruch auf zusätzliche SGB XII-Leistungen in Höhe von zusätzlich monatlich 330,45 Euro monatlich entsprechend einem Gesamt-Bedarf von monatlich 675,45 nicht glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin bezieht aktuell SGB XII Leistung in Höhe von monatlich XXX,YY Euro (Zahlbetrag) aufgrund des mit Widerspruch vom 18.06.2007 angefochtenen Bescheides vom 18.05.2007. Es handelt sich um Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die unter anderem gemäß § 42 Nr. 1 und 2 SGB XII den für den Leistungsberechtigten maßgebenden Regelsatz nach § 28 SGB XII sowie die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung entsprechend § 29 SGB XII umfassen. Die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von XXX,YY Euro monatlich sowie andere Leistungsarten sind hier nicht zweifelhaft. Der Regelbedarf für Alleinstehende gemäß § 28 SGB XII i.V.m. der hessischen Verordnung zur Festsetzung der Regelsätze nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vom 22.06.2007 (GVBl. S. 375) mit Wirkung ab 01.07.2007 beträgt 347,00 Euro monatlich. Die Antragsgegnerin hat ihrem Bescheid vom 18.05.2007 einen Regelsatz in Höhe von 345,00 Euro monatlich entsprechend der hessischen Regelsatz-Verordnung vom 19.12.2006 (GVBl. I S. 764) zugrunde gelegt, was im Zeitpunkt der Bescheiderteilung korrekt war. Die Bescheidlage wird nun in Bezug auf die monatliche Regelsatzerhöhung von 2,00 Euro monatlich anzupassen sein. Im Eilverfahren stellt ein Leistungsbetrag von 2,00 Euro eine geringfügige und also nicht entscheidungserhebliche Größe dar (vgl. zum Anordnungsgrund bei streitbefangenen 1,38 Euro: Hessisches Landessozialgericht vom 07.11.2005 – L 9 AS 66/05 ER).

Ob die Hessische Landesregierung den Regelsatz aufgrund der tatsächlichen, statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten in unteren Einkommensgruppen auf der Datengrundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe bemessen hat, wie § 12 Abs. 3 S. 3 und 4 SGB XII festlegt, ist in dem vorliegenden Eilverfahren nach Auffassung des Gerichts nicht in Zweifel gezogen. Die Vorlage einer Marktpreis-Erhebung der "H. e. V." vermag schon deshalb keine Zweifel an der Gesetzeskonformität des Verordnungsrechts zu begründen, weil die Validität dieser Erhebung für das Gericht nicht nachprüfbar ist und weil es sich jedenfalls nicht um die allein maßgebliche "Einkommens- und Verbrauchsstichprobe" i.S. des Gesetzes handelt.

Ob der wie vorstehend bemessene Regelsatz den gesamten Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts außerhalb von Einrichtungen mit Ausnahme von Leistungen für Unterkunft und Heizung und der Sonderbedarfe abdeckt, wie § 28 Abs. 1 S. 1 SGB XII festlegt, ist in der Folge jedenfalls nicht anhand der Marktpreis-Erhebung der "H. e. V." zu überprüfen, weil diese nicht dem methodischen Ansatz des Gesetzes folgt.

Ob die Regelsatzbemessung nach Methode wie Ergebnis der Lebenswirklichkeit Rechnung trägt, muss im vorliegenden Eilverfahren auch nicht unter verfassungsrechtlichen Aspekten geprüft werden, weil die Antragstellerin nach Aktenlage die Möglichkeiten einer abweichenden Bedarfsfestlegung noch nicht ausgeschöpft hat und so lange eine Bedarfsdeckung allein durch eine Regelsatzerhöhung nicht fordern kann. Bedarfe werden gemäß § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Insoweit hat die Antragstellerin jedoch nach Aktenlage im Verwaltungsverfahren keine individuellen unabweisbaren Bedarfe dargetan bzw. im Eilverfahren glaubhaft gemacht. Auch insoweit gilt, dass die vorgelegten Marktpreis-Erhebungen den Bedarf nicht individualisieren und eine Notlage auch auf eine andere Weise nicht glaubhaft gemacht ist (siehe die Ausführungen oben). Die Öffnungsklausel des § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII lässt die Verweisung einer Rechtsverfolgung mit verfassungsrechtlichen Gründen auf ein derzeit nicht anhängiges Klageverfahren nicht unzumutbar erscheinen.

Schließlich sind auch die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens und eine Einholung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht erfüllt. Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist gemäß Artikel 100 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung des Grundgesetztes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Das Bundesverfassungsgericht legt an die Entscheidungserheblichkeit einer Verfassungswidrigkeit einen strengen Maßstab an. Insbesondere bei Zwischenentscheidungen fordert der Justizgewährungsanspruch nach Möglichkeit eine Behandlung des Rechtsstreits ohne seine Verzögerung durch die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts, was im einstweiligen Rechtschutzverfahren zu beachten ist (vgl. etwa Hessisches Landessozialgericht vom 11.04.2006 – L 9 AS 43/06 ER). Vorliegend spricht die Öffnungsklausel des § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII gegen eine Einholung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Eilverfahren.

Das Sozialgericht hat darüber hinaus keine Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des Regelsatzes nach § 28 SGB XII und macht sich die Gründe des Urteils des Bundessozialgerichts vom 23.11.2006 (B 11b AS 1/06 R) zur Regelleistung nach § 20 Abs 2 SGB II in entsprechender Abwandlung zu eigen. In der Entscheidung ist ausgeführt, dass die vom Gesetzgeber gewählte Art der Bedarfsermittlung und deren Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden seien. Denn es sei grundsätzlich zulässig, Bedarfe gruppenbezogen zu erfassen und eine Typisierung bei Massenverfahren vorzunehmen. Es sei insoweit berücksichtigt, dass eine vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt erhobene Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 1998 mit Hochrechnung auf den Stand 1. Juli 2003 maßgebend für die Leistungshöhe sein solle. Bei der Vertretbarkeitsprüfung sei bedacht worden, dass die gegenwärtige Situation durch die Zunahme niedrig entlohnter Tätigkeiten und durch Einkommenseinbußen in breiten Bevölkerungskreisen geprägt sei, weshalb dem Gesichtspunkt des Lohnabstandsgebotes maßgebliche Bedeutung zukommen müsse. Diesem Gebot entspreche, dass der Hilfeempfänger in der Konsequenz der Festlegung der Regelleistung weniger konsumieren könne als die untersten 20 % der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Haushalte der EVS ohne Einbeziehung der Hilfeempfänger. Angesichts der offenkundigen Schwierigkeiten, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein auch unter Einbeziehung eines soziokulturellen Existenzminimums sachgerecht zu bestimmen, könnten Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Angemessenheit und der Gewichtung einzelner Größen jedoch keine entscheidende Rolle spielen. Der Bestimmung der Regelleistung lägen ausreichende Erfahrungswerte zu Grunde, und der dem Gesetzgeber zuzubilligende Einschätzungsspielraum sei nicht in unvertretbarer Weise überschritten.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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