L 9 U 3714/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 3 U 1619/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 3714/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 20. Juli 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob beim Kläger eine Berufskrankheit (BK) Nr. 1302 (Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe), 1307 (Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen) oder 1310 (Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide) der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) oder eine sog. "Quasi-Berufskrankheit" vorliegt.

Der am 01.05.1946 geborene Kläger absolvierte von 1961 bis 1964 eine Lehre in der Landwirtschaft in der ehemaligen DDR. Anschließend war er Berufssportler in der Junioren-Biatlon-Nationalmannschaft. Nach einem Studium der Landwirtschaft von September 1965 bis 1968 schloss sich eine Ausbildung zum Flugzeugführer an (bis Ende 1969). Von 1970 bis Dezember 1982 war er, unterbrochen durch den Wehrdienst von November 1972 bis April 1974, als Pilot in der Landwirtschaft in der ehemaligen DDR eingesetzt. Der Kläger flog in den Jahren 1969 bis 1972 den Flugzeugtyp L-60 (kein Spezialflugzeug für Agrarflug und daher auch nicht mit einem Filtersystem ausgerüstet) und von 1974 bis 1982 die Z-37 (mit einem Kohleaktivfilter ausgerüstet). Hierbei war seine Aufgabe, verschiedene Pestizide, vor allem DDT und Lindan, sogenanntes Ditox ®, über die Felder zu verteilen und zwar etwa ein Drittel DDT, ein Drittel Lindan und ein Drittel andere Stoffe. Die Flüssigkeiten wurden aus großen Fässern am Rollfeld per Schlauch in das Flugzeug (etwa 750 l Volumen) gepumpt; danach versprühte der Kläger diese Substanzen im Flug über die Felder. Ausgesprüht wurden jeweils von Januar bis April Dünger, von April bis Juni Pestizide, von Juni bis Juli Düngemittel, von Juli bis September Pestizide, danach wurden sowohl Pestizide und Dünger als auch die Aussaat ausgebracht. Im Dezember/Januar fanden Weiterbildungsschulungen statt. Insgesamt war der Kläger während 5500 Flugstunden mit dieser Tätigkeit beschäftigt gewesen und wurde er auch gelegentlich zur Brandbekämpfung eingesetzt. Von Januar 1983 bis Dezember 1990 verrichtete er Berufstätigkeiten in einer Ferieneinrichtung: zuerst als Personalleiter, später als Heim- und Objektleiter und danach als Hoteldirektor. Ab Januar 1991 war der Kläger ca. 10 Jahre lang als LKW-Fahrer für verschiedene Speditionen tätig, zuletzt für die Firma Seifert. Er transportierte von Januar 1991 bis Ende April 1991 Düngemittel und Getreideprodukte in loser Schüttung sowie ab Juni 1991 in Tankfahrzeugen Natronsulfid, Natronlauge, Hydrocarbonat (sogenannte flüssige Kreide), "Acronal" (flüssiges latexähnliches Produkt), in Silofahrzeugen Styroporgranulat, Brandkalk, Steinmehl und andere Kalksorten, Asche, PVC-Granulat und -pulver, Kunstdünger, Sand sowie Zement, Gips- und Verputzprodukte, des Weiteren in Planenzügen Stückgut und Styroporgranulat.

Ende Juni/Anfang Juli 2000 trat bei dem Kläger Heiserkeit auf. Nach Überweisung zum HNO-Arzt und anschließend durchgeführter Biopsie (Bericht vom 21.08.2000 des Arztes für Pathologie Dr. G.) wurde bei dem Kläger ein Zungengrund- und Hypopharynx-Karzinom rechts diagnostiziert (Arztbrief des Facharztes für Radiologie Dr. L. vom 22.08.2000).

Im 29.08.2000 zeigte der HNO-Arzt Dr. H. der Beklagten an, dass beim Kläger der Verdacht auf eine Berufskrankheit - Rachenkrebs - bestehe. Die Ursache der Erkrankung werde in der Tätigkeit des Klägers als Agrarflieger mit Schädlingsbekämpfung vermutet. Er wies ferner auf die seit 1991 vom Kläger ausgeübte Tätigkeit als Kraftfahrer hin, bei welcher dieser ebenfalls mit Giftstoffen zu tun habe.

Unter dem 03.09.2000 gab der Kläger im von der Beklagten übersandten Fragebogen an, er führe seine Krankheit auf ca. zwölf Jahre Einsatz mit DDT- und Lindanhaltigen Schädlingsbekämpfungsmitteln sowie den Transport von Flüssigkeiten für die Papierherstellung (über sechs Jahre ) zurück. Als weiteres Schädlingsbekämpfungsmittel nannte er Zinep 60-90. Ferner sei er Stäuben (auch Getreidestäuben), Gasen oder Rauchen bei Verbrennungs- oder Verschwelungsprozessen (Diesel, Benzin im Flugzeug und LKW), Lösemitteln und Reinigungsmitteln ausgesetzt gewesen. Er habe keinen Umgang mit Asbest, quarzhaltigen Materialien oder künstlichen Mineralfasern gehabt.

Die Beklagte leitete hierauf ein BK-Ermittlungsverfahren ein. Sie zog von der Krankenkasse des Klägers, der AOK in Ehingen, Leistungsauszüge bei und holte von den behandelnden Ärzten des Klägers Dr. H. und A. G. (Schreiben vom 14.09. und 27.09.2000) sowie von den Arbeitgebern, bei welchen der Kläger als LKW-Fahrer beschäftigt war, Auskünfte ein (Schreiben der Firma S. Transport GmbH vom 13.10.2000, der Firma E. G. vom 17.11.2000 und der Firma L. S. vom 10.01.2001).

Nach Einholung einer arbeitsmedizinischen Stellungnahme des Dr. H. (vom 19.12.2000), der eine berufsbedingte Verursachung der Erkrankung für unwahrscheinlich hielt, und Beiziehung der Berichte des Dr. H. über die stationären Behandlungen des Klägers vom 30. bis 31.08. und 13.09. bis 27.09.2000 mit aufgeführter Laringohemiglossektomie in ITN mit Neck dissektion beidseits sowie Pharynxzungenrekonstruktion nahm der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten zur beruflichen Gefährdung des Klägers unter dem Datum vom 30.10.2001 Stellung. Hiernach bestand während der Tätigkeit des Klägers als Agrarflieger eine Belastung durch Pflanzenschutzmittel (PSM). Die damals verwendeten Flugzeuge hätten entweder über kein Filtersystem oder über eines mit nicht hinreichendem Wirkungsgrad verfügt. Neben der inhalativen Aufnahme und einer dermalen Exposition sei auch der orale Aufnahmepfad durch Ernährung mit verunreinigten Händen festzustellen. Die Rahmenbedingungen, unter denen diese Tätigkeit ausgeübt worden sei, seien durch mehrere BK-Ermittlungen bekannt. Wahrscheinlich habe der Kläger Kontakt mit folgenden Produkten bzw. Wirkstoffen gehabt:

&61485; Lindan (BK 1302) &61485; Chlorfenvinphos (BK 1307) &61485; Captan krebserzeugend (BK 1302) &61485; Chlormequatchlorid (BK 1302) &61485; Zinep (kein Listenstoff) &61485; Dimethoat (BK 1307) &61485; Ethephon (BK 1307) &61485; Dichlorvos (BK 1307) &61485; Camphechlor krebserzeugend (BK 1302) &61485; Diquat (BK 1302) &61485; Dichlorprop und MCPA (BK 1310 Listenstoffe) &61485; Endosulfan (BK 1302). Nach dem Bericht des Technischen-Aufsichts- Beamten (TAB) vom 21.06.2001 habe ein Produkt mit dem Wirkstoff Zinep im Vordergrund gestanden. Aus technischer Sicht sei insgesamt eine Gefährdung im Sinn der BK-Nrn. 1302, 1307 und 1310 festzustellen. Bei der Tätigkeit als LKW-Fahrer seien Stoffe transportiert worden, deren Stäube nach Inhalation akut zu Beeinträchtigungen der Atemwege führen könnten. Listenstoffe seien nicht transportiert worden. Des Weiteren seien keine krebserzeugenden Stoffe befördert worden (unter Hinweis auf die Stellungnahme des TAB vom 26.06.2001). In der ergänzenden Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdiensts vom 03.09.2002 wird ausgeführt, arsenhaltige Pflanzenschutzmittel seien bis längstens 1962 eingesetzt worden. Getreide sei mit Quecksilberverbindungen, die nicht als krebserzeugend gelten, gebeizt worden. Der Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdienstes lagen Auskünfte der biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft vom Juli 2002, des Landesinstituts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Potsdam vom Juli 2002, der Gartenbau-Berufsgenossenschaft vom Mai 2002 und der Sächsischen Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft zugrunde.

Anschließend veranlasste die Beklagte eine Begutachtung des Klägers durch Prof. Dr. N ... Dieser führte in seinem arbeitsmedizinischen Gutachten vom 22.10.2002 aus, ein Hinweis auf eine intrapulmonale oder pleurale Asbestose finde sich nicht. Bei dem Kläger bestehe fremddiagnostisch ein Zustand nach Zungengrund-Hypopharynxkarzinom. Im Vordergrund stehe die Belastung mit Pflanzenschutzmitteln. Den Hauptanteil der während der Tätigkeit als Agrarflieger vom Kläger ausgebrachten Pflanzenschutzmittel habe das "Bercema-Zinep 90" gebildet, welches in den Monaten August und September in ca. 120 bis 150 Flugstunden pro Pilot über Kartoffelkulturen ausgesprüht worden sei. Über eine eventuelle kanzerogene Wirkung des Produkts habe er keine Information erhalten können. Bei den im TAB-Bericht vom 30.10.2001 als krebserzeugend der Kategorie K3 aufgeführten Stoffen Captan und Camphechlor handle es sich um Stoffe, die wegen möglicher oder erwiesener krebserzeugender Wirkung Anlass zur Besorgnis gäben, aber aufgrund unzureichender Informationen nicht endgültig beurteilt werden könnten. Des Weiteren sei nicht bekannt, ob diese Stoffe ein Zungengrund-Hypopharynx-Karzinom verursachen könnten. Nach den vom TAD durchgeführten weiteren Ermittlungen habe kein Hinweis auf die Verwendung von Asbest als Füll- oder Ballaststoff gefunden werden können; auch sei der Verdacht auf Arsen- oder Asbestkontakte bei Agrarfliegern in keinem vorangegangenen BK-Verfahren bekannt geworden. Während der Arbeitszeit des Klägers seien zwar einige Quecksilberverbindungen eingesetzt worden, diese gelten aber nicht als krebserzeugend. Bei dem Stoff Zinep handele es sich um ein Fungizid aus einer Wirkstoffgruppe von Zinkethylen bis Dithocarbamat. Nach langjähriger Exposition komme es eventuell zu Schädigungen des Nervensystems; eine bei Menschen krebserzeugende Wirkung sei aber nicht bekannt. Bei carbamat-haltigen Pflanzenschutzmitteln (wie Zinep) komme es bei akuter Einwirkung zu Vergiftungserscheinungen. Der Kläger habe nach vorliegendem Kenntnisstand hierüber jedoch nicht geklagt. Unter Berücksichtigung der aktenkundigen Fakten könne kein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen der Erkrankung des Klägers und dessen beruflichen Tätigkeit festgestellt werden.

Mit Bescheid vom 23.01.2003 (Aktenzeichen BKS 203 90 014 H) lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab, weil eine Berufskrankheit nach den Nrn. 1302, Nr. 1307 oder Nr. 1310 nicht vorliege. Mit weiterem Bescheid (Aktenzeichen BKS 200 09 109 J) lehnte sie die Anerkennung der Zungengrundkrebserkrankung des Klägers als Berufskrankheit und als sog. "Quasi-Berufskrankheit" ab. Die Beklagte stützte sich zur Begründung auf das Gutachten des Prof. Dr. N ... Es bestehe kein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen der Zungenkrebserkrankung und der beruflichen Tätigkeit des Klägers. Krebserkrankungen gehörten auch nicht zu den Krankheitsbildern der genannten Berufskrankheiten. Nach den Ermittlungsergebnissen und den aktuellen arbeitsmedizinischen Erkenntnissen habe sich die Erkrankung auch nicht infolge von berufsbedingten Einwirkungen entwickelt, die nicht den Listennummern der BKV zuzuordnen seien.

Gegen beide Bescheide legte der Kläger am 30.01.2003 Widerspruch ein und machte geltend, nach Auffassung der behandelnden Ärztin Dr. K. (Gemeinschaftspraxis Dres. K./H.), die ihn wegen des Zungengrund-Hypopharynxkarzinoms rechts behandelt und operiert habe, bestehe ein Zusammenhang zwischen dem beruflichen Kontakt mit Düngemitteln und der Erkrankung. Eine andere Ursache komme nicht in Frage, da er weder rauche noch trinke. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Agrarflieger sei er mehrfach entsprechenden Giftstoffen ausgesetzt gewesen, zumal die Flugzeuge nicht mit ausreichenden Filtersystemen ausgerüstet gewesen seien und keine Klimaanlagen gehabt hätten, so dass hohe Temperaturen im Cockpit geherrscht hätten. Außerdem habe er die Mischung der auszubringenden Giftstoffe sowie das Beladen des Flugzeuges selbst vorgenommen. Unter anderem seien Asbestprodukte als Füll- und Ballaststoff enthalten gewesen. Auch seien die Giftstoffe Arsen und Quecksilber verwendet worden und auch das Mittel Bi 58 eingesetzt worden. Irgendwelche Schutzausrüstungen hätten nicht vorgelegen. Die Hygiene auf diesen Flugplätzen sei ebenfalls äußerst schlecht gewesen. Allein aufgrund der Angabe, dass Asbest und Arsen im fraglichen Zeitpunkt als Beizmittel verboten gewesen sein sollten, könne nicht ausgeschlossen werden, dass die entsprechenden Mittel nicht weiterhin auch eingesetzt worden seien.

Mit Widerspruchsbescheiden vom 24.06.2003 wies die Beklagte die Widersprüche zurück.

Gegen beide Widerspruchsbescheide erhob der Kläger am 09.07.2003 Klage zum Sozialgericht (SG) Ulm (S 3 U 1619/03 und S 3 U 1620/03). Das SG verband die Klagen mit Beschluss vom 20.07.2005 unter dem Aktenzeichen S 3 U 1619/03 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung.

Zur Begründung der Klagen wiederholte der Kläger sein Vorbringen im Widerspruchsverfahren. Ergänzend verwies er auf das vorgelegte Bordbuch der Agrarflug bei der Interflug, in welchem die Anwendungstechnologien für flüssige und feste Stoffe durch das Ausbringen von Flugzeugen beschrieben worden seien. Des Weiteren legte er eine Liste vor und gab an, ein Großteil der Mittel, mit denen er während seiner damaligen Tätigkeit in Kontakt gekommen sei und die von ihm ausgebracht worden seien (Verzeichnis aviochemischer Pflanzenschutzmittel), sei hierin enthalten. Außerdem sei er auch als LKW-Fahrer Dieselabgasen ausgesetzt gewesen, was ebenfalls mitursächlich für die Erkrankung sei.

Das SG hörte den HNO-Arzt Dr. H. und den Arzt für Allgemeinmedizin B. S. schriftlich als sachverständige Zeugen (Auskünfte vom 12.09.2003 und 30.10.2003). Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beauftragte das SG den Arzt für HNO-Heilkunde Dr. T., Bundeswehrkrankenhaus Ulm, mit der Erstattung eines Gutachtens. Dieser führte in seinem Gutachten vom 14.06.2004 (Gutachter: Prof. Dr. M., Dr. T.) aus, insbesondere aus den letzten drei bis fünf Jahren gebe es eine erhebliche Anzahl neuer epidemiologischer Studien, die eindeutig zeigten, dass in Abhängigkeit der Exposition gegenüber unterschiedlichen Insektiziden und Pestiziden das Risiko, eine bösartige Erkrankung des blutbildenden Systems zu bekommen, signifikant steige. Inwieweit dieses Risiko auch bezüglich des Auftretens von Plattenepithelkarzinomen des oberen Aerodigestivtraktes erhöht sei, sei Gegenstand aktueller Forschungen. Umfangreiche eigene Untersuchungen zum genotoxischen Potential unterschiedlicher Insektizide hätten jedoch gezeigt, dass diese sehr wohl in der Lage seien, die Erbsubstanz so zu schädigen, dass eine Tumorinitiation und Tumorpromotion vorstellbar seien. Aufgrund zwischenzeitlich publizierter Ergebnisse könne nicht ausgeschlossen werden, dass eine Langzeitexposition gegenüber den vom Kläger versprühten Insektiziden das Risiko an einem Plattenepithelkarzinom des Aerodigestivtraktes zu erkranken, ansteigen lassen könne. Trotz des seit Jahrzehnten bekannten Gefährdungspotentials durch die maßgeblichen Stoffe seien bislang keine epidemiologischen Studien zur Abklärung eines möglichen Zusammenhangs zwischen Krebserkrankungen der oberen Luftwege und einer Langzeitexposition durchgeführt worden. Dieses Informationsdefizit sollte nicht dem Kläger, der in der Tat eine massive Exposition gegenüber mehreren äußerst genotoxischen Arbeitsstoffen aufweise, zum Nachteil gereichen. Es werde eine Anerkennung gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII empfohlen. Die MdE werde vom Operationstag bis zum 31.12.2002 mit 100 v.H., danach bis auf Weiteres mit 70 v. H. eingeschätzt.

Die Beklagte holte hierauf von Prof. Dr. H., M.-L.-Universität H., das ärztlich-arbeitsmedizinische Fachgutachten vom 26.10.2004 nach Aktenlage ein. Dieser teilte mit, ihm sei aus den detaillierten Beschreibungen der Arbeitsplätze bei Untersuchungen von Kollegen des Klägers (Erkrankungen an chronischer Bronchitis, keine Krebserkrankungen) und den damaligen Ermittlungen des Technischen Aufsichtsdienstes bekannt, dass sehr schlechte Arbeitsbedingungen vorgelegen hätten, die zu einer erheblichen Belastung der Piloten mit den ausgebrachten Stoffen (Düngemittel, Pflanzenschutzmittel) geführt hätten. Insgesamt müsse davon ausgegangen werden, dass der Kläger mit Sicherheit eine grenzwertüberschreitende Exposition gegenüber den ausgebrachten Pflanzenschutzmitteln gehabt habe. Nach den Ermittlungen des TAD sei Hauptbestandteil das ausgebrachten PSM "Bercema-Zinep 90" gewesen, eine Zinkverbindung der Dithiocarbaminsäure, die zu den Carbamaten gehöre. Carbamate hemmten ein Enzym, das für die Nervenfunktion notwendig sei. Der Stoff könne nicht im Körper gespeichert werden, weshalb die akute Giftwirkung im Vordergrund stehe. Eine krebserzeugende Wirkung der Carbamate sei bisher nicht bekannt. Auch für die Substanzgruppe der Organophosphate (mit Exposition des Klägers gegenüber Chlorfeniphos, Dichlorphos, Dimethoad, Ethephon und Dichlorprop) gebe es keinen Hinweis auf ein krebserzeugendes Potential. Für das vom Kläger ausgebrachte Pflanzenschutzmittel Lindan lägen ebenfalls keine aussagefähigen epidemiologischen Studien vor, die einen möglichen krebserzeugenden Effekt untersuchten. Lindan sei in erster Linie ein Nervengift, wobei es bei manchen der durchgeführten Untersuchungen Hinweise auf eine erbgutschädigende Wirkung gebe. Die bei Tierversuchen aufgetretenen Tumore hätten in erster Linie die Leber, die Schilddrüse und das blutbildende System betroffen. Prof. Dr. Maier habe in der Zeit von 1990 bis 1995 Plattenepithelkarzinome des oberen Atmungs- und Verdauungstraktes unter Berücksichtigung auch von beruflichen Faktoren untersucht und habe bei den Pflanzenschutzmittel Exponierten gegenüber der Kontrollgruppe keine erhöhte Häufigkeit solcher Karzinome finden können. Allerdings sei die Zahl der Erkrankten sehr gering gewesen, was die Aussagefähigkeit beeinträchtigt habe. Zusammenfassend könne gesagt werden, dass es zwar deutliche Hinweise auf eine erbgutschädigende Wirkung von Lindan gebe, aber nicht wissenschaftlich ausreichend nachgewiesen sei, ob dies auch tatsächlich zu einer erhöhten Krebsrate führe und welche Tumore dann gegebenenfalls gehäuft aufträten. Auch für die weiteren Pflanzenschutzmittel, denen der Kläger ausgesetzt gewesen sei, habe bis heute kein eindeutig krebserregendes Potential beim Menschen nachgewiesen werden können. Bei seiner Tätigkeit nach 1990 als LKW-Fahrer habe der Kläger keine relevante Exposition gegenüber einem krebserzeugenden Arbeitsstoff gehabt. Hinzu komme, dass eine Latenzzeit von unter zehn Jahren zwischen Exposition und Erkrankung nur bei extrem hohen Belastungen denkbar wäre. Dies mache eine Verursachung der Erkrankung in der Zeit von 1990 bis 2000 allein aufgrund des zeitlichen Verlaufs sehr unwahrscheinlich.

Prof. Dr. Maier und PD Dr. T. nahmen ergänzend gutachterlich nach Aktenlage am 26.01.2005 zu dem Gutachten des Prof. Dr. H. Stellung. Sie wiesen darauf hin, dass die BKV und die hierzu erlassenen Ausführungsbestimmungen Erkrankungen dann als Berufskrankheit anerkennen würden, wenn hierzu gesicherte Erkenntnisse vorlägen. Dies sei in der vorliegenden Angelegenheit sicher nicht der Fall. Bezüglich gesundheitlicher Schäden, verursacht durch Insektizide, lägen aus den unterschiedlichsten Gründen nur wenige Daten in der Weltliteratur mit Untersuchungsergebnissen am Menschen vor. In der dortigen Klinik veröffentlichte Untersuchungsergebnisse reflektierten nicht, dass eine wie auch immer geartete Lindanexposition in jedem Falle zwangsläufig zum Auftreten bösartiger plattenepithelialer Neoplasien im oberen Aerodigestivtrakt führe. Sie schlössen jedoch andererseits einen diesbezüglichen Zusammenhang auch nicht mehr ausdrücklich aus. Dies stelle eine entscheidende Neuerkenntnis dar und könne weder medizinisch gutachterlich noch nach gängigem Rechtsverständnis zum Nachteil des Patienten ausgelegt werden. An der Einschätzung, dass die beim Kläger aufgetretene Erkrankung wie eine BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen sei, werde festgehalten.

Das Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung teilte dem SG mit Schreiben vom 15.04.2005 mit, die Pflanzenschutzmittel, denen der Kläger ausgesetzt gewesen sei, seien als Halogenkohlenwasserstoffe unter der BK-Nummer 1302 der Anlage zur BKV erfasst. Eine Stellungnahme zur Frage von neuen Erkenntnissen in der medizinischen Wissenschaft werde daher nicht abgegeben.

Mit Urteil vom 20.07.2005 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit nach den Nr. 1302, 1307 oder 1310 der Anlage zur BKV seien nicht erfüllt, da der Zusammenhang zwischen der beruflichen (gefährdenden) Tätigkeit und der Zungengrundkrebserkrankung des Klägers nicht hinreichend wahrscheinlich gemacht werden könne. Unbestritten sei, dass der Kläger in erheblichem Ausmaß während seiner Tätigkeit als Agrarflieger bei der Firma Interflug Kontakt mit den gefährdenden Stoffen dieser Listenkrankheiten gehabt habe. Sowohl die Tätigkeit des Klägers als LKW-Fahrer ab 1991 als auch die Tätigkeit als Agrarflieger sei nach dem derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Stand aber nicht als wahrscheinliche Ursache für die Krebserkrankung anzusehen. Nach der Fachliteratur seien Halogenkohlenwasserstoffe insbesondere geeignet, Schädigungen des Zentralnervensystems, der Bauchspeicheldrüse, der Leber und der Niere zu verursachen. Von diesen Gesundheitsstörungen liege beim Kläger keine vor, wie er in der mündlichen Verhandlung erläutert habe. Zwar seien einige Halogenkohlenwasserstoffe, mit denen der Kläger Kontakt gehabt habe, als krebserzeugend allgemein anerkannt. Nach dem bisherigen wissenschaftlich-medizinischen Kenntnisstand betreffe dies vorwiegend die Leber; gelegentlich seien auch Lungenkarzinome beobachtet worden. Nach einer Metaanalyse von 45 epidemiologischen Studien lägen allerdings keine neuen medizinisch-wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse zur Verursachung von Krebs der Mundhöhle, des Rachens, des Kehlkopfes, der Speiseröhre, der Leber, der Bauchspeicheldrüse, der Lunge oder anderer Organe durch Lindan vor. Auch sei bei den organischen Phosphorverbindungen (Berufskrankheit Nr. 1307) nach dem derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand kein erhöhtes Krebsrisiko für den Mund-/Rachenraum bekannt. Halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide (Berufskrankheit Nr. 1310) schädigten nach derzeitigem Erkenntnisstand vor allem Lungen, Bronchien und das Zentralnervensystem. Auch Dr. T. und Prof. Dr. M. seien der Auffassung, dass eine krebserzeugende Wirkung von Lindan bisher nicht nachgewiesen sei, da aussagefähige Studien nicht vorlägen. Aus demselben Grund komme eine Anerkennung als sogenannte "Quasi-Berufskrankheit" gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII nicht in Betracht.

Gegen das am 31.08.2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 06.09.2005 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und vorgetragen, da die Aufnahme von Halogenkohlenwasserstoffen beim Beladen der Flugzeuge, bei den auftretenden Dämpfen im Cockpit und auch beim Durchfliegen der Sprühnebel fast ausschließlich über die Atemwege erfolgt sei, liege es auf der Hand, dass die oberen Atemwege hierdurch zwangsläufig geschädigt werden hätten müssen. Es könne nicht zu seinen Lasten gehen, dass keine weitergehenden Studien vorlägen, die bei einer entsprechenden Exposition den Zusammenhang mit der bei ihm aufgetretenen Erkrankung belegten. Vielmehr reiche es vorliegend aus, dass nachweisbar Halogenkohlenwasserstoffe geeignet seien - neben den bekannten Schädigungen - auch die Erkrankung der Atemwege und Schleimhäute zu verursachen. Nach einer unter Leitung des Dr. B. und des Dr. D. erstellten Studie sei geklärt, welche Stoffe am Arbeitsplatz, in der Wohnung und in der Freizeit die Entstehung des Kehlkopfkrebses auslösten oder begünstigten. Außerdem seien Tests zu molekulargenetischen Aspekten der Entstehung von Geschwülsten und molekularbiologische Untersuchungen am Tumor durchgeführt worden, die Rückschlüsse darauf zuließen, ob der Patient krebsauslösenden Stoffen ausgesetzt gewesen sei.

Der Kläger hat eine Pressemitteilung des Krebsforschungszentrums (dkfz) des Klinikums H. Nr. 29/98 zu den Akten gereicht, wonach in einer geplanten Studie der Zusammenhang zwischen beruflichen Faktoren und der Bildung von Kehlkopfkrebs untersucht werde.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 20.07.2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2003, betreffend Aktenzeichen BKS 203 90 014 H aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Anerkennung seiner Zungengrundkrebserkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 1302 oder 1307 oder 1310 der Anlage zur BKV die gesetzlichen Leistungen zu gewähren, hilfsweise den Bescheid der Beklagten vom 23.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2003, betreffend das Aktenzeichen BKS 200 09 109 J aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Anerkennung seiner Zungengrundkrebserkrankung wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat beim dkfz den Abschlussbericht vom 30.07.2002 zu der sog. Rhein-Neckar-Larynxstudie beigezogen.

Der Senat hat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Hals-Nasen-Ohren-ärztlichen Fachgutachtens von Prof. Dr. D., Universitätsklinikum L. vom 19.12.2006. Der Sachverständige führt aus, sämtliche im Gutachtensauftrag genannten Stoffe, gegenüber denen der Kläger exponiert gewesen sei, seien bislang in der Literatur nicht im Zusammenhang mit der Entstehung von Plattenepithelkarzinomen des Zungengrundes beschrieben worden. Ein ursächlicher Zusammenhang sei nach der aktuellen Erkenntnislage also nicht zutreffend. Er berücksichtige hierbei, dass von dem Kläger ein Tabak- und Alkoholabusus verneint werde. Prinzipiell seien verschiedene, in den Beweisfragen aufgeführte Chemikalien imstande, Krebserkrankungen auszulösen (z.B. Lindan, Dichlorprop, Camphechlor), es werde jedoch in Anbetracht der spärlichen epidemiologischen Datenlage schwer sein, im Falle des Klägers einen Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber den genannten Chemikalien und der Entstehung des Zungengrundkarzinoms nachzuweisen, obwohl eine gewisse Plausibilität gegeben sei. Dem Sachverständigen seien ferner keine aktuellen Studien bekannt, welche die Ursächlichkeit der in den Beweisfragen genannten Stoffe für ein Plattenepithelkarzinom des Zungengrundes untersucht hätten.

Nachdem der Kläger ausgeführt hat, er sei im Anschluss an die Tätigkeit bei der Firma Interflug zehn Jahr lang als LKW-Fahrer tätig gewesen, sodass er insgesamt 26 Jahre lang schädigenden Stoffen exponiert gewesen sei, hat der Senat eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage von Prof. Dr. D. eingeholt. Unter dem Datum vom 13.02.2007 führt Prof. Dr. D. aus, auch wenn in der epidemiologischen Literatur ein Zusammenhang zwischen der Entstehung von Kehlkopfkrebs und Kraftfahrern hergestellt werde, bleibe jedoch der definitive Hinweis (gemeint wohl: Nachweis) der entsprechend hier herangezogenen Schadstoffe aus. Die Studienlage habe sich auch im Hinblick auf das besondere Umfeld eines LKW-Fahrers, insbesondere unter Berücksichtigung der transportierten Natronlauge, nicht verändert. Daher ändere sich die Aussage in seinem Gutachten vom 19.12.2006 auch nicht durch die besondere Berücksichtigung der Tätigkeit als LKW-Fahrer von 1991 bis 2000.

Der Kläger hat danach angeregt, von Prof. Dr. D. eine weitere ergänzende gutachterliche Stellungnahme zu folgenden Punkten einzuholen: Der Gutachter sei nicht darauf eingegangen, inwieweit die Feinstaubbelastung, der der Kläger sowohl als LKW-Fahrer als auch als Agrarflieger ausgesetzt gewesen sei, für das Krankheitsbild ursächlich sei. Der Gutachter merke an, dass es Hinweise in der Literatur gebe, dass aus dem Berufsfeld der Farmer, Bauern im Umgang mit Pflanzenschutzmitteln die Entstehung von Plattenepithelkarzinomen im Hals- und Kopfbereich durchaus in Betracht gezogen würden. Weshalb diese Untersuchungen und Feststellungen für ihn als Agrarflieger mit diesbezüglich stärkerer Belastung als bei Landwirten, keine Gültigkeit haben sollten, sei unverständlich.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, die Akten des SG S 3 U 1619/03 und S 3 U 1620/03 sowie auf diejenigen des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung des Klägers ist jedoch nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, da der Kläger (1.) weder einen Anspruch auf Feststellung seiner Zungengrundkrebserkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 1302 oder 1307 oder 1310 der Anlage zur BKV hat, (2.) noch auf Anerkennung dieser Erkrankung als "Quasi-Berufskrankheit" nach § 9 Abs. 2 SGB VII.

(1.) Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheit bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wurde ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten Berufskrankheiten gehören als durch chemische Einwirkungen verursachte Krankheiten Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe (BK Nr. 1302), Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen (BK Nr. 1307) und Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide (BK Nr. 1310). Diese Erkrankungen müssen durch die berufliche Tätigkeit verursacht oder verschlimmert worden sein.

Nach ständiger Rechtsprechung müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, zu denen neben der versicherten Tätigkeit die Dauer und Intensität der schädigenden Einwirkungen sowie die in der BKV bezeichnete Krankheit gehören, nachgewiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können. Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkungen und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSGE 19, 52; 32, 203, 207 bis 209; 45, 285, 287). Wahrscheinlich ist diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller - wesentlichen - Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSGE 45, 286); eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht (vgl. Mehrtens/Brandenburg, Berufskrankheitenverordnung, Kommentar, Stand November 2006, E § 9 SGB VII Rdnr. 26). Kommen mehrere Ursachen in Betracht, so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 91). Lässt sich eine Tatsache nicht nachweisen, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu Lasten dessen, der einen Anspruch aus der nicht erwiesenen Tatsache für sich herleitet (BSGE 19, 52, 53; 30; 121, 123; 43, 110, 112). Das gleiche gilt, wenn der für die haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität erforderliche wahrscheinliche Zusammenhang nicht nachweisbar ist.

Der Senat sieht es, wie die Beklagte in ihrer Stellungnahme vom 30.10.2001 und wie das SG, als nachgewiesen an, dass der Kläger bei seiner Tätigkeit als Agrarflieger gegenüber Stoffen exponiert war, die zu den Listenstoffen der Berufskrankheiten nach Nr. 1302, 1307 und 1310 gehören. Vom Technischen Aufsichtsdienst der Beklagten wurde in der Stellungnahme vom 30.10.2001 im Einzelnen aufgeführt, welche Pflanzenschutzmittel vom Kläger als Agrarflieger ausgebracht wurden und unter welche Nummer der Berufskrankheitenliste diese chemischen Stoffe einzuordnen sind.

Für die BK Nr. 1302 (Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe) werden in der TAD- Stellungnahme aufgeführt: Lindan, Captan, Chlormequatchlorid, Camphechlor, Diquat und Endosulphan, wobei die Mittel Captan und Camhechlor als krebserzeugend der Kategorie 3 bezeichnet wurden. Nach dem 1998 eingeführten Schema der Arbeitsstoffkommission zur Einstufung kanzerogener Substanzen (abgedruckt bei Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, Seite 1148) umfasst die Kategorie 3 Stoffe, die wegen möglicher krebserzeugender Wirkung beim Menschen Anlass zur Besorgnis geben, aber auf Grund unzureichender Informationen nicht endgültig beurteilt werden können. In die Kategorie 4 werden Stoffe mit krebserzeugender Wirkung eingestuft, bei denen genotoxische Effekte keine oder eine nur untergeordnete Rolle spielen. Zu der letzteren Kategorie zählt nach der im Jahr 2002 vorgenommenen Zuordnung der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der DFG Lindan (Schönberg/Mehrtens/Valentin, aaO Seite 1154). Von keinem der Stoffe ist aber bekannt, dass sie ursächlich für ein Zungengrund-Hypopharynxkarzinom sein können, wie schon Prof. Dr. Nowak dargelegt hat. Auch Prof. Dr. M. hat ausgeführt, dass es für Lindan bis dato noch keine einheitliche Aussage über eine genotoxische oder kanzerogene Wirkung gibt. Die epidemiologischen Verdachtsmomente begründen sich auf Einzelfälle von Leber-, Lungen- und Brustkarzinomen sowie Fälle von Leukämien. Schließlich hat auch der im Berufungsverfahren tätig gewordene Sachverständige Prof. Dr. D. darauf verwiesen, dass es keine epidemiologischen Arbeiten zur Zusammenhangsfrage Lindan und der weiteren in der Liste des TAD vom 30.10.2001 zur BK 1302 aufgeführten Stoffe und Kopf-Halskarzinome gebe und auch kein gehäuftes Auftreten von Kehlkopfkrebs bei vergleichbar schadstoffexponierten Arbeitnehmern beschrieben worden sei. Eine erneute Literaturrecherche habe keine aktuelleren abweichenden Erkenntnisse erbracht.

Entsprechendes gilt auch für die weiteren Stoffe, denen der Kläger während seiner Tätigkeit als Agrarflieger ausgesetzt war und die grundsätzlich als gefährdende Stoffe im Sinne der BK Nr. 1307 (Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen) und der BK Nr. 1310 in Betracht kommen. Nach der Aufstellung im TAD-Bericht vom 30.10.2001 handelt es sich um Chlorfenvinphos, Dimethoad, Ethephon und Dichlorvos bezüglich der BK Nr. 1307 und Dichlorphrob und MCPA bezüglich der BK Nr. 1310. Auch in Bezug auf diese Stoffe gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einer Ursache-Wirkung-Beziehung zu der beim Kläger aufgetretenen Zungengrundkrebserkrankung. Daher ist sie keine Berufskrankheit i.S.d. der Nr. 1302, Nr. 1307 oder Nr. 1310 BKV.

2.) Die Beklagte hat die Krankheit des Klägers auch nicht wie eine Berufkrankheit gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII zu entschädigen.

Gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Abs. 1 Satz 2 erfüllt sind. Zu diesen Voraussetzungen gehören sowohl der ursächliche Zusammenhang der Krankheit mit der versicherten Tätigkeit als auch die Zugehörigkeit des Versicherten zu einer bestimmten Personengruppe, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung Einwirkungen ausgesetzt ist, die nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft generell geeignet sind, Krankheiten der betreffenden Art zu verursachen. Damit soll allerdings nicht in der Art einer "Generalklausel" erreicht werden, dass jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Berufstätigkeit im Einzelfall nachgewiesen oder hinreichend wahrscheinlich ist, wie eine BK entschädigt wird. Sinn des § 9 Abs. 2 SGB VII ist es vielmehr, solche durch die versicherte Tätigkeit verursachten Krankheiten wie eine BK zu entschädigen, die nur deshalb nicht in die Liste der BKen aufgenommen worden sind, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personen in ihrer Arbeit bei der letzten Fassung der BK-Liste noch nicht vorhanden waren oder trotz Nachprüfung nicht ausreichten (BSG Urteil vom 14.11.1996, SozR 3-2200 § 551 Nr 9 mwN; Urteil vom 04.06.2002 B 2 U 16/01 R, juris.doc).

Für den Kehlkopfkrebs und dessen Entstehen durch die Einwirkung von Asbest (jetzt BK Nr. 4104 ) hat das BSG im Urteil vom 14.11.1996 dargelegt, dass eine für eine Entschädigung auch nach § 551 Abs. 2 RVO (jetzt § 9 Abs.2 SGB VII) erforderliche gruppenspezifische Risikoerhöhung nicht mit der im allgemeinen notwendigen langfristigen zeitlichen Überwachung derartiger Krankheitsbilder zum Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen belegt werden könne, da infolge der Seltenheit dieses Tumorleidens medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse durch statistisch abgesicherte Zahlen nicht erbracht werden könnten. In einem solchen Ausnahmefall könne die "generelle Geeignetheit" der Einwirkungen von Asbest für die Entstehung von Kehlkopfkrebs auf der Grundlage von Einzelfallstudien, Erkenntnissen und Anerkennungen in der ehemaligen DDR als gesichert angesehen werden.

Vergleichbare neuere Erkenntnisse liegen aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme durch den Senat für die Einwirkungen, denen der Kläger ausgesetzt war, und das Plattenepithelkarzinom des Zungengrundes nicht vor. Die von dem Sachverständigen Prof. Dr. D. als Projektleiter mitverantwortete Rhein-Neckar-Larynxstudie (Abschlussbericht vom 30.07.2002) erbrachte nach dessen gutachterlichen Ausführungen in der Zusammenhangsfrage nach Pestiziden, Insektiziden, Akariziden keinen Hinweis auf die Entstehung von Larynxkarzinomen. Das bei Landwirten, Gartenbauern und Winzern zunächst als signifikant gewertete Risiko, an einem Kehlkopfkrebs zu erkranken, sank nach Bereinigung möglicher Tabak- und Alkoholeffekte in den nicht signifikanten Bereich. Des weiteren entnimmt der Senat den unter 6.1 aufgelisteten Ergebnissen der klassischen Epidemiologie der Rhein-Neckar-Larynxstudie (Abschlussbericht S. 81 ff.), dass zwar als sehr interessant und neu die Hinweise auf ein erhöhtes Risikopotential von Getreidestaub und Düngerstaub seien, wobei aber die Zusammenhangsfrage Getreidestaub bzw. Düngerstaub generell nicht geklärt sei und Anlass für nähere toxische Untersuchungen gebe. Angesichts dieser Aussagen und des weiteren Forschungsbedarfs sah sich der Senat auch nicht veranlasst, beim Sachverständigen Prof. Dr. D. eine weitere Rückfrage wegen der Gefährdung von Landwirten zu halten. Nach den Darlegungen in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13.02.2007 hat sich die Studienlage auch im Hinblick auf das besondere Umfeld eines LKW-Fahrers nicht verändert. Es liegen demnach keine Hinweise für die Zusammenhangsfrage einer Tätigkeit als LKW-Fahrer und dem Auftreten eines Zungengrundkarzinoms vor. In der Rhein-Neckarlarynxstudie (Abschlussbericht Seite 26) wird insoweit auf sich widersprechende Studien zur Risikoerhöhung für LKW- und Traktorfahrer in Bezug auf die Dieselmotoremissionen hingewiesen und auch zu dieser Thematik weiterhin ein hoher Forschungsbedarf gesehen.

Der Auffassung von Prof. Dr. M. und Dr. T., es könne dem Kläger nicht zum Nachteil gereichen, dass trotz des seit Jahrzehnten bekannten Gefährdungspotentials der Substanzen, denen der Kläger ausgesetzt war, keine epidemiologischen Studien zur Abklärung eines möglichen Zusammenhangs zwischen Krebserkrankungen der oberen Luftwege und der Langzeitexposition durchgeführt worden seien, weshalb eine Anerkennung seiner Krankheit wie eine Berufskrankheit gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII zu erfolgen habe, kann sich der Senat auch nicht anschließen. Auch wenn man mit dem BSG (SozR 3-2200 § 551 Nr 9) wegen der Seltenheit des Kehlkopfkarzinoms ein herabgestuftes Maß an wissenschaftlicher Forschung für die Feststellung der generellen Geeignetheit von spezifischen Schadstoffexpositionen für die Verursachung von Kehlkopfkarzinomen ausreichend sein lassen würde, so verlangt auch dieses herabgestufte Maß noch ausreichende wissenschaftliche Hinweise auf einen ursächlichen Zusammenhang, die aber nach den Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. D. und den Ergebnissen der Rhein-Neckar-larynxstudie (noch) nicht gegeben sind.

Nach alledem konnte die Berufung des Klägers keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved