L 9 U 820/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 7 U 3085/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 820/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 11. Januar 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer unfallbedingten Verletztenrente.

Die 1940 geborene Klägerin - eine ehemals mithelfende Familienangehörige in der in einer Größe von mehr als 6 ha bewirtschafteten Nebenerwerbslandwirtschaft ihres Ehemanns und Mutter von sechs Kindern - zog sich am 18. Juni 1993 beim Steuern ihres Pkw bei einer Einkaufsfahrt für den Haushalt des landwirtschaftlichen Betriebes Verletzungen der Halswirbelsäule zu, als ein anderes Fahrzeug auf ihren, an einem Fußgängerüberweg anhaltenden Wagen auffuhr. Anlässlich des Unfalls erlitt die Klägerin keinen Bewussteinsverlust; sie konnte ihr Fahrzeug ihren Angaben zufolge auch rasch aus eigener Kraft verlassen. Die Klägerin zeigte den Unfall der Beklagten zunächst nicht an.

Mehr als ein Jahr später, am 8. September 1994 meldete die Krankenversicherung unter Vorlage eines von der Klägerin unter dem 27. August 1994 ausgefüllten Unfallfragebogens bei der Beklagten Erstattungsansprüche an. Daraufhin holte die Beklagte sachverständige Auskünfte der die Klägerin behandelnden Ärzte ein. Daraus ergab sich, dass die Klägerin allgemeinmedizinisch (Dr. S.) und chirurgisch (Prof. Dr. G., Ev. Diakonissenkrankenhaus F.) erstmals am Unfallstag (18. Juni 1993), orthopädisch (Dr. K.) erstmals am 14. März 1994 und neurologisch-psychiatrisch (Dr. H.-K.) erstmals am 5. April 1994 behandelt wurde.

Unter dem 6. Februar 1995 zeigte der Ehemann der Klägerin der Beklagten den von seiner Frau am 18. Juni 1993 erlittenen Unfall an.

Im Folgenden veranlasste die Beklagte die orthopädische Untersuchung und Begutachtung der Klägerin. Das Gutachten erstattete Prof. Dr. W., Universitätsklinik F., unter dem 13. Juni 1996, 4. Dezember 1996 und 13. Februar 1997. Er kommt darin zu dem Ergebnis, die Halswirbelsäulensymptomatologie unmittelbar nach dem Unfall sei als vergleichsweise geringfügig zu beurteilen. Dies schließe eine unfallbedingte schwerwiegende Verletzung der Halswirbelsäule aus. Die Klägerin habe sich bei dem Unfall nur eine Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule im Sinne einer Zerrung zugezogen, die keine bleibenden Folgen hinterlassen habe. Am wahrscheinlichsten seien die nach wie vor vorhandenen Bewegungseinschränkungen der Halswirbelsäule auf Verschleißerscheinungen im Sinne einer Osteochondrose und Spondylose sowie auf psychische Ursachen zurückzuführen. Das umfangreiche Beschwerdebild der Klägerin stehe im Gegensatz zu den objektiv geringgradigen pathologischen Befunden. Die Unfallfolgen seien bei der Klägerin nach etwa drei Monaten abgeklungen gewesen; unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit könne höchstens sechs Wochen lang bestanden haben. Über die 13. Unfallwoche hinaus sei keine unfallbedingte messbare Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) anzunehmen.

Daraufhin erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 26. März 1997 den Unfall als Arbeitsunfall an, stellte als Unfallfolge eine "Zerrung (Distorsion) der Halswirbelsäule als leichteste Form einer so genannten Beschleunigungsverletzung" fest und lehnte die Gewährung von Verletztenrente ab. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit werde für die Dauer von sechs Wochen anerkannt.

Den dagegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. März 1998 als unbegründet zurück. Die von der Klägerin sodann am 3. April 1998 zum Sozialgericht Freiburg erhobene und auf Gewährung von Verletztenrente gerichtete Klage - S 7 U 1011/98 - wies das Sozialgericht nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 23. Juli 1998 als unbegründet ab, nachdem die Klägerin die Klage weder begründet noch eine vom Gericht angeforderte Erklärung über die Entbindung der behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht vorgelegt hatte.

Im darauf von der Klägerin unter Hinweis darauf, dass die knöchernen und weichteildichten Veränderungen im Hals-Wirbelsäulen-Bereich unfallbedingt seien und sie unter den Folgen eines schweren Hals-Wirbelsäulen-Schleudertraums leide, angestrengten Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 10 U 3111/98 - legte die Klägerin u.a. Bescheinigungen ihrer behandelnden Ärzte Dr. S. vom 19. Juli 1993 und 20. Oktober 1993 und Dr. K. vom 17. April 1994 und vom 5. Dezember 1994 vor. Daraufhin holte der 10. Senat gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein radiologisches Gutachten (Dr. F., K.) und vom Amts wegen ein orthopädisches (Prof. Dr. R., H.) und ein neurologisches (Prof. Dr. M., H.) Gutachten ein.

Dr. F. kam im unter dem 21. Juli 1999 erstellten Gutachten zur dem Ergebnis, dass bei der Klägerin zwar eindeutig degenerative Veränderungen mit Spondylosen, Uncovertebralarthrosen und Chondrosen der mittleren und unteren Halswirbelsäule vorliegen würden, aber die zusätzlich bestehende, durch Funktions-Computertomographie nachgewiesene schwere funktionelle Kopfgelenksstörung in den Gelenken zwischen der Schädelbasis und dem Atlas im Sinne eines cervico-encephalen Syndroms mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückzuführen sei. Anhaltspunkt dafür liefere der Beschwerdeverlauf nach dem Unfall. Die aktiv und passiv eingeschränkte Beweglichkeit des Kopfes sei von Übelkeit, Schwindel, Taumeligkeit und in unregelmäßigen Abständen auftretendem Tinnitus begleitet gewesen sei. Entgegen der Auffassung von Prof. Dr. W. sei eine Diskrepanz zwischen objektiv erhobenen Befunden und dem Beschwerdebild nicht festzustellen gewesen. Die Unfallfolgen bewerte er mit einer MdE von 30 v.H.

Hiergegen wandte sich die Beklagte unter Vorlage einer Stellungnahme von Prof. Dr. W. vom 11. Oktober 1999.

In dem von Amts wegen eingeholten Gutachten vom 2. März 2000 kam der Orthopäde Prof. Dr. R. zu dem Ergebnis, dass keine der vorgefundenen Gesundheitsstörungen auf den Unfall zurückzuführen seien. Gegen einen Zusammenhang sprächen zum Unfallzeitpunkt bereits vorliegende degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule und die zeitabhängige Verschlechterung des Befundes mit zunehmendem Abstand vom Unfallereignis bei relativ geringer Symptomatik am Unfalltag. Insgesamt habe eine MdE um 20 v.H. nur bis zum Ablauf der sechsten Woche nach dem Unfall bestanden. Die Aussagekraft der von Dr. F. radiologisch gewonnenen Befunde sei fraglich, da er im klinischen Befund eine deutlich bessere Beweglichkeit der gesamten Halswirbelsäule bei aktiv assistierter Bewegung festgestellt habe. Es sei nicht zulässig allein von einem Röntgenbild auf ein Schmerzsyndrom zu schließen und andere Ursachen zu vernachlässigen.

Prof. Dr. M. gelangte in seinem unter dem 29. November 2000 erstattetem Gutachten zu dem Ergebnis, die bei seiner Untersuchung der Klägerin erhobenen Befunde ergäben keine Hinweise für eine neurologische Erkrankung. Die Klägerin habe infolge des Unfallereignisses keine gravierenden Verletzungen der Halswirbelsäule erlitten. Die pseudoneurologische Symptombildung weise angesichts des langen Zeitintervalls, der quantitativen Zunahme und qualitativen Ausweitung der Beschwerden sowie der groben Inkonsistenzen auf eine psychogene und relativ bewusstseinsnahe Störung hin. Den gutachtlichen Feststellungen von Prof. Dr. W. und Prof. Dr. R. stimme er zu. Die von Dr. F. ermittelte hochgradige Bewegungseinschränkung des cranio-cervikalen Übergangs lasse von vornherein keinen Rückschluss auf deren Ursache zu. Auf neurologischem Gebiet seien keine peripher-neurogenen, radikulären oder zentralen Defizite organischer Genese zu attestieren. Sollte weiterer Klärungsbedarf bestehen, sei ein psychosomatisches Zusatzgutachten empfehlenswert.

Auf der so ermittelten Tatsachengrundlage wies das Landesozialgericht die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 20. März 2001 unter Hinweis auf die gutachtlichen Feststellungen von Prof. Dr. R. und Prof. Dr. M. als unbegründet zurück. Weiterer Klärungsbedarf auf psychosomatischem Gebiet sei angesichts des aggravatorischen und demonstrativen Verhaltens der Klägerin und des Umstands, dass sie sich nicht fachärztlich behandeln lasse, nicht erkennbar. Das Urteil wurde rechtskräftig.

Drei Jahre später, am 1. April 2004, beantragte die Klägerin, die aufgrund eines vor dem Sozialgericht Freiburg im Verfahren S 4 RJ 275/00 abgegebenen Anerkenntnisses von der LVA Baden-Württemberg seit dem 1. Februar 1999 Erwerbsunfähigkeitsrente bis zum Eintritt der Altersrente bezog (Bescheid vom 13. Februar 2002), bei der Beklagten, den Bescheid vom 26. März 1997 in der Gestalt der Widerspruchbescheids vom 5. März 1998 zurückzunehmen und ihr Verletztenrente aufgrund der Folgen des am 18. Juni 1993 erlittenen Arbeitsunfalls zu gewähren. Zur Begründung des Antrags legte die Klägerin medizinische Unterlagen aus dem Verfahren S 4 RJ 275/00 vor. Insbesondere bezog sie sich auf ein von den Dres. B. und v. B., Klinik in den Z. GmbH, unter dem 13. Dezember 2001 verfasstes psychiatrisches Gutachten, mit dem ihr eine anhaltende undifferenzierte somatoforme Schmerzstörung und eine chronische Major Depression attestiert worden waren. Weiter hieß es in diesem Gutachten, es sei zu erwägen, ob der im Juni 1993 erlittene Unfall die Somatisierungsstörung ausgelöst habe. Wahrscheinlicher sei aber, dass das Unfalltrauma der Tropfen gewesen sei, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe. Denn ohne die zugehörige Persönlichkeitsdisposition hätte der Unfall jedenfalls zu diesem Zeitpunkt keine Somatisierungsstörung auslösen können. Ob es zu einer solchen Störung ohne Unfall überhaupt und wann und wodurch hätte kommen können, sei nicht zu sagen.

Mit Bescheid vom 6. Mai 2004 lehnte die Beklagte es unter Hinweis auf die Ergebnisse der Beweiserhebung des Landessozialgerichts im Verfahren L 10 U 3111/98 ab, den Bescheid vom 26. März 1997 zurückzunehmen. Der neue Vortrag der Klägerin gebe keinen Anlass zu der Annahme, die gerichtlich in zwei Instanzen bestätigte Entscheidung vom 26. März 1997 könnte falsch sein.

Den dagegen am 27. Mai 2004 unter Hinweis darauf, der Unfall vom 18. Juni 1993 habe ihr Leben zerstört und sie von einer bis dahin tatkräftigen Frau zur rentenversicherungsrechtlich anerkannten erwerbsunfähigen Invalidin gemacht, erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 2004 als unbegründet zurück. Der Widerspruchsbescheid wurde am 30. Juli 2004 zur Post gegeben.

Die von der Klägerin dagegen am 30. August 2004 zum Sozialgericht Freiburg erhobene Klage - S 7 U 3085/04 - wies das Sozialgericht nach schriftlicher Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 11. Januar 2005 unter Hinweis darauf als unbegründet zurück, dass auch die Dres. B. und v. B. das Unfalltrauma als nicht hinreichend ursächlich für die chronifizierte depressive Entwicklung angesehen hätten. Der Gerichtsbescheid wurde dem damaligen Bevollmächtigten der Klägerin am 17. Januar 2005 zugestellt.

Am 15. Februar 2005 hat die Klägerin Berufung gegen den Gerichtsbescheid eingelegt.

Die Klägerin ist unter Berufung auf die gutachtlichen Ausführungen der Dres. B. und v. B. weiterhin der Auffassung, dass ihr zu Unrecht die Gewährung von Verletztenrente versagt worden sei. Der medizinische Sachverhalt sei vom Sozialgericht nicht aufgeklärt worden; dies müsse im Berufungsverfahren nachgeholt werden.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 11. Januar 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Juli 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Rücknahme des Bescheides vom 26. März 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. März 1998 eine posttraumatische Belastungsstörung (somatoforme Schmerzstörung) als weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 18. Juni 1993 anzuerkennen und ihr hieraus dem Grunde nach Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat Prof. Dr. W., G., mit der neurologisch-psychiatrischen Untersuchung und Begutachtung der Klägerin beauftragt. Im unter dem 4. Mai 2006 erstatteten Gutachten hat Prof. Dr. W. folgende Diagnosen gestellt: - auf neurologischem Fachgebiet: keine und - auf psychiatrischem Fachgebiet: somatoforme Schmerzstörung und chronische Depression mittelgradiger Ausprägung. Die neurologische Befunderhebung beruhe neben der klinischen Untersuchung auf einem Elektroencephalogramm, somatosensibel-evozierten Potentialen, magnetisch-evozierten Potentialen und einer Ultraschalluntersuchung der hirnversorgenden Arterien. Des Weiteren sei die Klägerin testpsychologisch untersucht worden. Die Klägerin simuliere nicht, eine Aggravation sei jedoch nicht sicher auszuschließen. Die bei der Klägerin bestehende Schmerzsymptomatik beruhe auf multifaktoriellen, nicht unfallbedingten Ursachen. Wesentlich seien vor allem die degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule, die bereits am Unfalltag durch die bildgebende Diagnostik nachgewiesen worden seien, sowie psychogene Faktoren. Eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung sowie eine Schmerztherapie seien bei der Klägerin indiziert. Eine solche Behandlung stehe aber in keinem Zusammenhang mit dem am 18. Juni 1993 erlittenen Unfall. Eine unfallbedingte MdE liege deshalb nicht vor. Den Ausführungen und Feststellungen der Vorgutachter Prof. Dr. W., Prof. Dr. R. und Prof. Dr. M. sei aus neurologisch-psychiatrischer Sicht im Wesentlichen zuzustimmen. Den Ergebnissen und Schlussfolgerungen von Dr. F. werde widersprochen. Dr. F. habe seine abweichende Beurteilung allein auf eine so genannte Funktions-Computertomographie gestützt. Allein durch bildgebende Verfahren könnten jedoch keine klinischen Diagnosen gestellt und schon gar nicht der ursächliche Zusammenhang mit einem Unfallereignis nachgewiesen werden. Soweit Dr. F. das Vorliegen eines cervikoencephalen Syndroms diskutiert habe, sei festzustellen, dass ein solches Krankheitsbild in der internationalen Klassifizierung von Krankheiten (ICD) nicht aufgeführt werde. Im Übrigen bewege sich Dr. Friedburg bei der Diskussion möglicher Ursachenketten im Bereich unbewiesener Hypothesen. Mit dem Gutachten der Dres. B. und v. B. bestehe in Bezug auf die Diagnosestellung Übereinstimmung. Die von diesen Gutachtern darüber hinaus gezogenen Folgerungen zur Entstehung der somatoformen Schmerzstörung als multifaktoriellem Geschehen auf dem Boden der Persönlichkeitsstruktur der Klägerin und des Unfallereignisses seien möglich, aber nicht bewiesen. Insbesondere sei ein wesentlich ursächlicher Anteil des Unfallereignisses an der psychiatrischen Gesundheitsstörung der Klägerin nicht zu beweisen.

Mit der von der Klägerin daraufhin beantragten wahlärztlichen Begutachtung hat der Senat den von der Klägerin als Gutachter benannten Psychiater Prof. Dr. T., B.hospital S., beauftragt. Mit Gutachten vom 30. September 2006 hat Prof. Dr. T. ausgeführt, dass sich auf psychiatrischem Fachgebiet eine eigentliche klassifizierbare Diagnose nicht stellen lasse. Es bestehe aber eine fehlgesteuerte Verarbeitung des 1993 erlittenen Unfalls und seiner Folgen mit so genannten Somatisierungsbeschwerden, die verhaltens- und psychotherapeutischer ebenso wie medikamentöser Behandlung zugänglich seien. Die Somatisierungs- und dissoziativen Tendenzen erfüllten aber nicht den Grad einer fassbaren psychiatrischen Erkrankung. Da auf psychiatrischem Fachgebiet keine Diagnose habe gestellt werden können, bestehe aus psychiatrischer Sicht auch keine MdE. Die Ergebnisse der orthopädischen Gutachten der Prof. Dres. W. und R. seien nachvollziehbar und schlüssig. Auch mit den Gutachten der Prof. Dres. M. und W. bestehe in wesentlichen Punkten Übereinstimmung. Abweichend von Prof. Dr. W. habe eine chronische Depression mittelgradiger Prägung bei der Klägerin nicht festgestellt werden können; darüber hinaus sei anzumerken, dass der von Prof. Dr. W. angenommene Begriff der "somatoformen Schmerzstörung" keine Krankheitsentität darstelle, sondern sich auf der beschreibenden Ebene bewege. Das Gutachten von Dr. F. sei entsprechend der zutreffenden Ausführungen von Prof. W. nur wenig nachvollziehbar. Die Gutachter Dres. B. und v. B.h hätten versucht in teilweise spekulativen Ausführungen darzulegen, dass das Unfallereignis von 1993 keinen ursächlichen, sondern im Hinblick auf die vor bestehende Disposition der Klägerin allenfalls einen auslösenden Charakter gehabt haben könnte. Dies stimme mit seiner Einschätzung überein, dass es sich auf keinen Fall um eine so genannte posttraumatische Belastungsstörung, also eine direkt und unmittelbar auf ein unfallbedingtes Trauma zurückzuführende Störung, handele. In der Gesamtzusammenschau bestehe also nach dem Ergebnis der Untersuchung keine psychiatrische Erkrankung als Folge des Unfalls vom 18. Juni 1993.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestands wird auf die Akten der Beklagten, die Akten des Sozialgerichts Freiburg (S 4 RJ 275/00 und S 7 U 3085/04) sowie auf diejenigen des 10. Senats (L 10 U 3111/98) und die des erkennenden Senats (L 9 U 820/05) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist nach den §§ 143, 144 Abs. 1 S. 1 SGG zulässig.

Die Berufung ist aber nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 11. Januar 2005 ist rechtmäßig. Das Sozialgericht hat die Klage im Ergebnis zurecht als unbegründet abgewiesen, weil die Folgen des am 18. Juni 1993 erlittenen Arbeitsunfalls von der Beklagten zutreffend anerkannt worden sind und diese über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im Berufungsverfahren nicht rechtfertigen. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).

Die Beweisaufnahme im Berufungsverfahren hat in vollem Umfang bestätigt, dass die Beklagte schon beim Erlass des Bescheids vom 26. März 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. März 1998 von einem richtigen Sachverhalt ausgegangen ist und das Recht richtig angewandt hat. Damit liegen die von der Klägerin geltend gemachten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts - wegen unrichtiger Sachverhaltserfassung oder unrichtiger Rechtsanwendung - nach § 44 Abs. 1 SGB X nicht vor.

Im vorliegenden Fall sind, wie in der Ausgangsentscheidung der Beklagten (Bescheid vom 26. März 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. März 1998), auch im Überprüfungsverfahren gemäß § 44 SGB X die bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuwenden. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Bescheid vom 26. März 1997 erst nach Inkrafttreten des SGB VII am 1. Januar 1997 ergangen ist, denn § 214 Abs. 3 Satz 1 SGB VII ordnet die Anwendung des neuen Rechts auf vor dem 1. Januar 1997 eingetretene Versicherungsfälle nur an, wenn "diese Leistungen (Renten, Beihilfen Abfindungen und Mehrleistungen) nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erstmals festzusetzen sind". Mit dem Begriff "erstmals festzusetzen sind" ist nicht die tatsächliche Festsetzung der Leistung (die auch eine Ablehnung sein kann) gemeint, sondern der Zeitpunkt, in dem die materiellen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs erfüllt sind (so auch BSG Urteil vom 19. August 2003 - B 2 U 9/03 R - JURIS.doc). Dies war im vorliegenden Fall angesichts des am 18. Juni 1993 eingetretenen Arbeitsunfalls und des am 6. Februar 1995 gestellten Antrags vor dem 1. Januar 1997 der Fall. Die Verzögerung in der Erteilung des Bescheides vom 26. März 1997, die auf die mehrfach erforderliche Ergänzung des Gutachtens von Prof. Dr. W. zurückzuführen ist, ist insoweit unbeachtlich.

Gemäß §§ 580, 581 Abs. 1 RVO gewährt der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung bei Vorliegen eines - hier anerkannten - Arbeitsunfalls Verletztenrente, solange infolge des Arbeitsunfalls die Erwerbsfähigkeit des Verletzten über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus um wenigstens ein Fünftel gemindert ist, in Höhe des Teils der Vollrente, der dem Grad seiner Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht. Zur Feststellung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung "infolge des Arbeitsunfalls" muss zwischen dem - nachgewiesenen - Unfallereignis und den geltend gemachten und nachzuweisenden Unfallfolgen entweder mittels des - nachgewiesenen - Gesundheitserstschadens oder direkt ein Ursachenzusammenhang nach der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung bestehen. Ein solcher liegt nach diesem in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsbegriff nur dann vor, wenn das Unfallereignis bzw. der Unfallerstschaden mit Wahrscheinlichkeit wesentlich die Entstehung oder Verschlimmerung eines Gesundheitsschadens bewirkt hat (BSGE 38, 127; BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 11, Urteil des BSG vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - JURIS.doc).

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme durch den Senat ist über die - anerkannte - Zerrung der Halswirbelsäule hinaus ein weitergehender Unfallerstschaden ebenso wenig nachgewiesen wie das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Auch besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall der Klägerin vom 18. Juni 1993 bzw. dem dadurch eingetretenen Gesundheitserstschaden, der Zerrung der Halswirbelsäule, und der als Unfallfolge geltend gemachten somatoformen Schmerzstörung nicht. Diese Feststellungen stützt der Senat auf die Gutachten von Prof. Dr. W. vom 4. Mai 2006, von Prof. Dr. R. vom 2. März 2000 und von Prof. Dr. M. vom 29. November 2000.

Die von der Klägerin als Unfallfolge geltend gemachte posttraumatische Belastungsstörung ist von keinem der Ärzte festgestellt worden. Bei der Klägerin besteht aber auf nervenärztlichem Fachgebiet, von Prof. Dr. W. dem Senat nachvollziehbar dargelegt und begründet, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, vergesellschaftet mit einer chronischen Depression mittelgradiger Ausprägung. Diese von Prof. Dr. W. diagnostizierte, im ICD-10 unter dem Schlüssel F45.4 erfasste psychische Gesundheitsstörung lässt sich aber nicht mit Wahrscheinlichkeit wesentlich auf das Unfallereignis vom 18. Juni 1993 bzw. auf den dabei erlittenen Gesundheitsschaden zurückführen.

Dagegen spricht schon, dass sich die Klägerin am 18. Juni 1993 lediglich eine Halswirbelsäulenzerrung als leichteste Form einer Beschleunigungsverletzung zugezogen hat. Für eine weitergehende Primärschädigung durch den Auffahrunfall in Form einer traumatischen Schädigung der Halswirbelsäule oder zeitnah aufgetretener neurologischer Defizite liegen keine hinreichenden Nachweise vor. Bei der zum Unfallzeitpunkt 53 Jahre alten Klägerin lagen im Unfallzeitpunkt degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule vor. Die degenerativen Veränderungen sind durch bildgebende Verfahren am Unfalltag belegt. Zwar sind die Röntgenaufnahmen, die am Unfalltag im Evangelischen Diakoniekrankenhaus in Freiburg gefertigt wurden, nicht mehr vorhanden, vorhanden ist aber in den Akten der Beklagten der Befundbericht über die am 18. Juni 1993 gefertigte Röntgenaufnahme der Halswirbelsäule, der Prof. Dr. W. auch bei der Abgabe seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13. Februar 1997 vorlag. Danach bestand kein Anhalt für eine stattgehabte knöcherne Verletzung der Halswirbelsäule, es fand sich aber eine Spondylose im unteren HWS-Bereich mit Randappositionen. Der die Klägerin am Unfalltag versorgende Hausarzt, Dr. S., hat auch lediglich "Beschwerden im Nacken bei aktiver und passiver Kopfbewegung", aber keine Symptomatik in den oberen Extremitäten dokumentiert und in der Bescheinigung vom 19. Juli 1993 mitgeteilt, aufgrund der Verletzung habe Arbeitsunfähigkeit von einem Monat bestanden. Vor diesem Hintergrund deutet das lange Zeitintervall vom Unfalltag - 18. Juni 1993 - bis zur Unfallanzeige - 6. Februar 1995 - und die quantitative Zunahme der Beschwerden bei qualitativer Ausweitung derselben zunehmend ab 1995/96 darauf hin, dass die Schmerzsymptomatik nicht nur durch die vor bestehenden degenerativen Veränderungen der HWS, sondern auch durch eine psychogene Störung unterhalten wird. Beides ist aber nicht auf die durch das Unfallereignis erlittene Schädigung zurückzuführen. Insoweit fehlt es auch während der ersten Monate nach dem Unfall an weiterer medizinischer Dokumentation. Zwar teilte Dr. S. in der ärztlichen Bescheinigung vom 20. Oktober 1993 mit, dass sich die Klägerin seit ihrem Unfall immer noch in ärztlicher Behandlung befinde und trotz physikalischer und medikamentöser Behandlung noch nicht schmerzfrei sei, eine erste ambulante fachorthopädische Vorstellung der Klägerin erfolgte bei Dr. K. aber erst am 14. März 1994, also neun Monate nach dem Unfallereignis. Auch Dr. K. hat nach klinischer und röntgenologischer Untersuchung allein deutliche degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule bei fehlenden Anzeichen für eine Verletzung oder Gewalteinwirkung feststellen können. Schließlich hat auch die von der Klägerin mehr als neun Monate nach dem Unfall erstmals aufgesuchte Neurologin Dr. H.-K. im April 1994 einen, abgesehen von der eingeschränkten Beweglichkeit der Halswirbelsäule, unauffälligen neurologischen Befund erhoben und damit zugleich prognosesicher die Einschätzung mitgeteilt, dass es schwer sei, "zum jetzigen Zeitpunkt ... kausale Zusammenhänge mit dem Schleudertrauma herzustellen, zumal Frau S. offenbar über viele Monate keiner weiteren fachärztlichen Behandlung bedurfte." Schließlich weist Prof. Dr. W. zurecht darauf hin, dass der von Dr. S. in der Bescheinigung vom 19. Juli 1993 genannte Schockzustand nach dem Unfall durch keinerlei psychopathologische Befunde gedeckt ist und deshalb auch keine Grundlage für die Annahme einer posttraumatischen Belastungsstörung bildet.

Eben diese nicht ausreichende Beweis- und Tatsachenlage in Bezug auf eine weitergehende Primärschädigung durch das Unfallereignis und die Ausweitung der von der Klägerin geltend gemachten Beschwerden ohne neurologische Objektivierung der berichteten sensiblen oder motorischen Defizite hat Prof. Dr. W. - entsprechend den Vorgutachtern Prof. Dres. W., R. und M. -, dem Senat schlüssig und nachvollziehbar, veranlasst, die mittlerweile chronifizierte somatoforme Schmerzstörung und Depression nicht wesentlich ursächlich auf die unmittelbare Schädigung durch den von der Klägerin am 18. Juni 1993 erlittenen Pkw-Auffahrunfall zurückzuführen und auch eine wesentliche Mitverursachung dieser Leiden durch den Unfall auszuschließen. Dieses Ergebnis wird auch vom Wahlgutachter der Klägerin, Prof. Dr. T., im Gutachten vom 30. September 2006 vollumfänglich bestätigt. Die abweichende Beurteilung von Dr. F. in dessen radiologischem Gutachten ist auch - wie schon zuvor im Verfahren L 10 U 3111/98 durch Prof. Dr. R. und Prof. Dr. M. - durch die weiteren, vom Senat in diesem Berufungsverfahren eingeholten Gutachten von Prof. Dres. W. und T. überzeugend widerlegt worden. Auf die in diesem Zusammenhang bereits im Tatbestand gemachten Ausführungen wird Bezug genommen. Soweit die Klägerin die Berufung auf die Feststellungen in dem im Rentenrechtsstreit S 4 RJ 275/00 eingeholten nervenärztlichen Gutachten von Dres. B. und v. B. vom 13. Dezember 2001 gestützt hat, hat Prof. Dr. W. zurecht darauf hingewiesen, dass die Dres. B. und v. B. hinsichtlich des Unfallereignisses als Ursache für die somatoforme Schmerzstörung allein eine Vermutung geäußert haben. Diese Vermutung konnte aber von Prof. Dr. W. nicht bestätigt werden. Damit ist der ursächliche Zusammenhang der Gesundheitsstörungen der Klägerin auf nervenärztlichem Gebiet mit dem Unfallereignis vom 18. Juni 1993 und der damals erlittenen Gesundheitsschädigung nicht mit der unfallversicherungsrechtlich erforderlichen Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Die Berufung der Klägerin musste zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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