Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 107/68
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Besteht in der medizinischen Wissenschaft über die Entstehung eines Leidens Ungewissheit, so kann eine Entscheidung nicht auf das Gutachten eines Arztes gestützt werden, auch wenn er sich mit der Materie besonders wissenschaftlich befasst und eigene Forschungen betrieben hat. Der sogenannte „Hörsturz” ist in der ärztlichen Wissenschaft sowohl bezüglich der Ätiologie als der Diagnose nach noch nicht einheitlich geklärt.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 7. Dezember 1967 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Gehörleiden des Klägers als Schädigungsfolge nach § 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) anzusehen ist, das nach Auffassung des Klägers durch die als Kriegsbeschädigung anerkannte Blockwirbelbildung der Halswirbelsäule oder durch schädigungsbedingte Durchblutungsstörungen hervorgerufen ist.
Während dem 1924 geborenen Kläger mit Bescheid vom 29. Mai 1954 unter anderem Versorgung wegen eines Ohrenleiden als Schädigungsfolge nach § 1 BVG abgelehnt wurde, überprüfte der Beklagte den gesamten Leidenszustand des Klägers durch verschiedene fachärztliche Gutachten und gewährte ihm auf seinen Verschlimmerungsantrag vom 4. Juli 1962 Versorgung nach einer MdE um 40 v.H. wegen
1) multiplen Verwundungsnarben im Nacken am Hals, im Brustkorb, im Rücken und am rechten Oberschenkel, multipler Stecksplitter in der Brustwand und im Rücken,
2) oberflächlicher Lungenstecksplitter links hinten und Lungenstecksplitter am linken oberen Herzrand, geringe Rippenfellschwarte links hinten, unten,
3) chromatischer Blockwirbelbildung C 3 bis C 5 mit Funktionsbehinderung der Halswirbelsäule.
Die beiderseitige Taubheit sah dieser Bescheid als eine nachdienstliche Neuerkrankung an. Der Widerspruch wurde mit Bescheid des Landesversorgungsamtes Hessen vom 19. Oktober 1962 zurückgewiesen.
Mit der Klage verfolgte der Kläger weiterhin die Anerkennung seines Gehörleidens als Schädigungsfolge. Zu dieser Frage lagen neben den übrigen ärztlichen Äusserungen, die in dem erstinstanzlichen Urteil aufgeführt sind, vor:
1) Gutachten des Versorgungsarztes Dr. W. (Facharzt für das Ohrenleiden auf eine in der Jugend durchgemachte Mittelohrvereiterung zurückzuführen und keine Wehrdienstbeschädigung ist.
2) Eine weitere aktenmässige Äusserung dieses Arztes vom 9. Juli 1949, in der er seine Auffassung bestätigt.
3) Ärztliche Bescheinigung des HNO-Facharztes Dr. E., O., vom 12. Juni 1950, der aufgrund seiner Befunderhebungen einen Zusammenhang für wahrscheinlich hält.
4) Auskunft des HNO-Facharztes Dr. L. vom 12. Februar 1962, in der ausgeführt ist, dass nach Angaben des Klägers nach vorausgegangener Grippe beim Sitzen auf einem Stuhl plötzlichstarkes Schwindelgefühl und Ohrensausen ohne Schmerzen eingetreten seien. Danach habe er kaum noch gehört. Am 11. April 1962 habe der Kläger laute Umgangssprache ca. 1/2 m weit gehört, der Schwindel sei geblieben.
5) Behandlungsunterlagen der Universitäts-HNO-Klinik, der Orthopädischen Universitätsklinik und der Universitäts-Nervenklinik M. aus der Zeit Mai/Juni 1961, aus denen sich ergibt, dass der später gehörte gerichtliche Sachverständigte Dr. G. den Kläger bereits damals behandelt hat. Die Orthopädische Klinik nahm keinen sicheren Anhalt für einen Zusammenhang zwischen der Schwerhörigkeit und der Blockwirbelbildung an, während Dozent Dr. S. von der Nervenklinik einen Zusammenhang zwischen Blockwirbelbildung und Schwerhörigkeit auf dem Wege über eine Irritation der Arteris vertebralis diskutierte.
6) In dem Verfahren des Klägers wegen Versichertenrente vor dem Sozialgericht Kassel – Az.: S-1/J-421/62 – bescheinigte der HNO-Facharzt Dr. S. am 24. Juli 1962, dass die Blockwirbelbildung für die praktische Taubheit rechts in Anlehnung an die Auffassung der HNO-Klinik M. in Betracht komme. Im gleichen Verfahren erklärt der Facharzt für Orthopädie Dr. W. in seinem Gutachten vom 3. März 1967, das der Komplex eines cervico-cephalen Syndroms bei traumatischer partieller Blockwirbelbildung mit der Ertaubung als im Zusammenhang stehend "unbedingt diskutiert werden” müsse.
Das Sozialgericht Kassel hat folgende ärztliche Gutachten eingeholt bzw. nachstehende Stellungnahmen von Versorgungsärzten erhalten:
1. Die Universitäts-HNO-Klinik M. stellte in ihrem Gutachten vom 12. Februar 1964 durch ihren Direktor Prof. Dr. B. und den Facharzt für HNO-Krankheiten Dr. G. eine Ertaubung rechts, Verschlimmerung einer Bestehenden mittelgradigen Schwerhörigkeit links bis zur vollständigen Ertaubung und objektiv verifizierbare Gleichgewichtsstörungen bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v.H. fest. Aufgrund der "glaubhaften Angaben” des Klägers, der von dieser Klinik innerhalb von 2 3/4 Jahren erhobenen Befunde und des erheblichen krankhaften Befundes an der Halswirbelsäule nahmen die Sachverständigen die cervikale Genese der akuten Ohrenkrankung mit nachfolgenden Ertaubung und Schwindel an. Sie vertraten die Auffassung dass die Ohrenkrankung als Kriegsleiden anzuerkennen sei da die Halswirbelsäulenveränderungen ebenfalls Schädigung folgen seien und wiesen darauf hin, dass ihre Auffassung in der ärztlichen Wissenschaft umstritten sei. Der Audiometrische Befund passe durchaus zum Bild der cervikal-bedingten Innenohrläsion, mit Beteiligung der tiefen Frequenzen (Flachaudiogramm). Während Morits das Flachaudiogramm als typisch für die cervikale Genese herausgestellt habe, hätten zwei andere Ärzte derartige Audiogramme jedoch nur bei 7 von 87 entschprechenden Fällen gefunden. Aber auch von anderen Autoren werde eine im einzelen noch nicht bekannte Beziehung zwischen cervikalen Reiszustand (Sympathieus-Irritation, Vertebraliskompression) und Hörausfall im tiefen Tonbereich angenommen. Die Baßtaubheit des Klägers stellte daher einen in diesen Rahmen gehörenden Extremfall dar. Es sei allerdings nicht möglich gewesen, dass eine cervikale Ursache gleichsam beweisenden Auslösen von Schwindel und Nystagmus durch heftige Kopfbewegungen vorzunehmen, was man "mit Rücksicht auf die Lage” des Klägers "nicht forciert” habe.
2. Der Versorgungsarzt Dr. , Facharzt für HNO-Krankheiten, wie in seiner Äusserung vom 7. April 1964 darauf hin, dass die M. Klinik die hochgradige Schwerhörigkeit des linken Ohres, die bereits im Jahre 1947 bestand, nicht erklärt habe. Andere Kliniken hätten teilweise andere Befunde hinsichtlich der Wirbelsäule und den Durchblutungsstörung im Bereich der Vertrebalis erhoben.
3. Nachdem der Kläger noch eine eidesstattliche Erklärung der Dr. med. habil. O. Facharzt für HNO-Krankheiten, vom 4. Mai 1964 vorgelegt hatte, der ihn im Jahre 1943 im Lazarett behandelt hatte, holte das Sozialgericht Gutachten der Universitäts-Nervenklinik, der Orthopädischen Universitätsklinik und der Universitäts-HNO-Klinik in M. ein. Das HNO-fachärztliche Gutachten, das wiederum von Prof. Dr. B. und Dr. G. unter dem 12. Juli 1965 erstattet wurde, hielt an dem Ergebnissen des Gutachtens vom 12. Februar 1964 fest. Das von Oberarzt Prof. Dr. H. und Ass. Arzt Dr. S. erstattete nervenfachärztliche Gutachten vom 8. Juli 1966 kommt zu dem Ergebnis, dass die Innenohrschwerhörigkeit auf Grund der Vorgeschichte und der neurologischen Untersuchungsergebnisse nicht mit der geforderten Wahrscheinlichkeit auf die Halswirbelsäulen Verletzung zurückgeführt werden kann. Diese Gutachter konnten weder anamnestisch noch objektiv neurologisch irgendwelche Zeichen oder Syndrome einer Zirkulationsstörung im Versorgungsbereich der beiden Arteriae vertebrales, ihrer Ärzte oder der von den Arteriae vertebrales abgehenden Arteris basilaris finden. Selbst wenn im Bereich der nachgewiesenen Verletzungsstellen der Halswirbelsäule eine Verebralisstenosierung angiographisch nachgewiesen würde, könne ein Zusammenhang zwischen den Gehörstörungen und den Folgen der Halswirbelsäulenverletzung neurologischerseits nicht mit dem geforderten Wahrscheinlichkeitsgrad angenommen werden. Unter Verwertung dieses nervenfachärztlichem Gutachten kamen Prof. Dr. E. und Oberarzt Dr. N. in ihrem Gutachten der Orthopädischen Klinik der Universität M. vom 6. Juli 1965 zu dem Ergebnis, dass sich auf Grund der von ihnen erhobenen Befunde und der Auffassung der HNO-Klinik zwar ein Zusammenhang der beiderseitigen Ertaubung mit dem Versorgungsleiden diskutierten lasse, eine einheitliche Meinung zu dieser Auffassung aber wahrscheinlich deshalb nicht zu erzielen sei, weil der diskutierte Fragenkomplex wissenschaftlich noch nicht eindeutig geklärt sei. Das neurologische Zusatzgutachten bringe gewichtige Argumente gegen eine mögliche Durchblutungsstörung der Arteris vertebralis.
4. Der Versorgungsarzt Dr. Z. wies in seiner in seiner Äusserung vom 13. März 1967 darauf hin, dass die vorgeschichtlichen Angaben des Klägers zum Teil sehr widersprüchlich seien und alle Umstände mehr gegen als für eine Ertaubung im Rahmen eines Cervicalsyndroms sprächen. In dem Zusammenhang sei auf die ausserdienstliche Mittelohroperation, die ablehnenden HNO-Gutachten von 1947 und 1949, die mittelohrbedingten Hörverschlechterungen der Jahre 1951 und 1959 nach grippalen Infektion und die Nebenhöhlenentzündungen sowie die von dem HNO-Arzt Dr. von B. angegebene unfallbedingte Ertaubung des linken Ohres vom November 1960 zu erinnern. Mit dem Gutachten der M. Klinik vom 8. Juli 1966 müsse das Vorliegen eines Cervicalsyndroms überhaupt verneint werden. Der Versorgungsarzt Dr. W., Facharzt für Chirurgie, wies in seiner Stellungnahme vom 6. April 1967 darauf hin, dass auch Weichteilverletzungen als Folge des Halsdurchschusses wahrscheinlich gemacht werden müssten um Schädigungsfolgen an der Nerven- und Gefäßversorgung anzunehmen. Der Versorgungsarzt Dr. R. (Nervenfacharzt) glaubte in seiner Äusserung vom 17. April 1967 neurologischerseits zu den vom Gericht eingeholten Gutachten nichts beitragen zu können.
5. Im Juni 1967 wies Prof. B. darauf hin, dass die Beurteilung der Angelegenheit des Klägers deshalb besonders schwierig sei, weil "wir zu wenig über die Sache selbst wissen”. Bei einem besonderen Kenner der Literatur hierzu sollen noch Erkundigungen eingezogen werden. Dr. G. besprach die Angelegenheit noch mit Neurologen und erläuterte seine Stellungnahme in dem mündlichen Verhandlungstermin vor dem Sozialgericht Kassel am 7. Dezember 1967. Er verwies auf eigene, teilweise noch nicht veröffentlichte Untersuchungen, wonach es beim sogenannten Hörsturz wegen Durchblutungsstörungen des Innenohres ziemlich häufig zu einem Hörverlust, besonders im tiefen Frequenzbereich komme. Den Zusammenhang zwischen der Blockwirbelbildung und dem Gehörschaden führte er auf eine Irritation des sympathischen Nerven zurück, was auch von der Universitäts-Nervenklinik M. nicht ausgeschlossen werde. Weiter verwies er auf eine Veröffentlichung von Kühn über einen ähnlichen Fall wie den des Klägers, in dem das Versorgungsamt ein Schädigungsleiden angenommen habe. Die MdE "durch die Schädigungsfolgen” schätzte er ab November 1961 auf 70 v.H ...
Entsprechend dem Antrag des Klägers verurteilte das Sozialgericht Kassel mit seinem Urteil vom 7. Dezember 1967 den beklagten, unter Abänderung der angefochtenen Bescheide als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen:
"Bis zur Totaltaubheit fortgeschrittene Innenohrschwerhörigkeit beiderseits mit Ausfall des peripheren Gleichgewichtsorgans beiderseits, entstanden durch wehrdienstliche Einflüsse,”
und Versorgung nach einer MdE um 100 v.H. ab 1. November 1961 zu gewähren. Das Gericht schloss sich den Begutachtung durch Dr. G. an und verwies darauf, dass auch der Orthopäde Prof. Dr. B. dem gesamten Beschwerdebild eine Irritation zumindest der Nerven entnehme. Man müsse deshalb damit rechnen, dass narbige Veränderungen in der Umgebung der ehemaligen Entzündung am Halle auf Grund der Splitterverletzung vorlägen, die ihrerseits durch eine Schrumpfungstendenz Verziehungen weicher Gewebe bedingen könnten. Auch das nervenärztliche Gutachten der Universitätsklinik M. untermauere die Auffassung von Dr. G. weil es hinsichtlich der Nervenirritation auf das frühere Gutachten der M. HNO-Klinik verweise.
Dieses Urteil wurde dem Bevollmächtigten des Klägers am 4. Januar 1968 zugestellt. Das Landesversorgungsamt Hessen beurkundete die Zustellung als am "9.1.1967” erfolgt; diese Bestätigung ging am 15. Januar 1968 wieder beim Sozialgericht Kassel ein und die schriftliche Berufung des Beklagten am 31. Januar 1968 beim Hessischen Landessozialgericht.
Der Beklagte ist der Auffassung, das Sozialgericht hätte nicht mit Dr. G. davon ausgehen dürfen, dass die Schwerhörigkeit des Klägers auf ein cervico-cephales Syndrom in Sinne einer sympathico-vertebralen Irritation zurückgehe. Die Einwände der Marburger Neurologen hiergegen habe das Sozialgericht nicht beachtet.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 7. Dezember 1967 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Der Senat hat ein Ergänzungsgutachten von der Universitäts-Nervenkinik M. eingeholt, das unter dem 25. Juli 1969 von Prof. Dr. H. und Dr. S. erstellt wurde. Die Ärzte weisen darauf hin, dass eine Totaltaubheit zur Zeit nicht vorliege, was schon bei der nervenfachärztlichen Begutachtung durch Dr. M. im Mai 1962 vermutet worden sei. Hiernach könne ein Zusammenhang zwischen traumatischer Blockwirbelbindung und doppelseitigem Hörsturz mit "dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad” nicht angenommen, allerdings auch nicht ausgeschlossen werden, obwohl die Nervenklinik auf Grund ihrer Erfahrungen bei Hirndurchblutungsstörungen einen solchen pathogenetischen Zusammenhang nicht für wahrscheinlich halte. Das Gutachten spricht auch lediglich von "einer möglicherweise vorhandenen Blockwirbel bedingten ein- oder beiderseitigen Vertebraliseinengung. Hierzu nahm der Versorgungsarzt Dr. H., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, am 5. Dezember 1969 dahingehend Stellung, dass das Sozialgerichtsurteil schon deshalb falsch sei, weil eine Totaltaubheit nicht vorliege und hierfür eine MdE um 60 v.H. abgesetzt worden sei. Da ein progredienter Prozess von der HNO-Klinik angenommen worden sei, könne eine Besserung der Totaltaubheit nicht eintreten.
Nachdem der Kläger die HNO-Klinik G. für befangen erklärt hatte, holte der Senat ein weiteres Gutachten bei der HNO-Klinik G. ein, das unter dem 15. Oktober 1971 durch deren Direktor Prof. Dr. M. und dem Assistent der Klinik Dr. A., Facharzt für HNO-Krankheiten, erstellt wurde. In diesem Gutachten wird ausgeführt, nach heute allgemein geltender Ansicht erde die bei dem Kläger manifest gewordene Hörstörung tatsächlich bzw. mit Wahrscheinlichkeit nicht durch traumatische Haswirbelsäulenveränderungen hervorgerufen. Aufgrund casuitischer Mitteilung in den letzten Jahren könne man von gewissen typischen Veränderungen über cervikal-bedingte Hörstörungen sprechen. Sie träten in der Regel einseitig auf, während bei dem Kläger die Wahrscheinlichkeit eines beidseitigen Hörsturzes angenommen worden sei. Die Art der am 20. Mai 1961 durch die HNO-Klinik nachgewiesenen Hörstörung bedeute unter den bisher bekannten typischen Audiogrammtypen einen Extremfall. Hinzu komme das sehr lange Intervall zwischen dem 1943 erlittenen Halswirbelsäulentrauma und der 1961 erlittenen Hörstörung. Ein akuter Hörverlust nach einem so langen Intervall wäre dann nur annehmbar, wenn es sich um eine progrediente Halswirbelsäulenveränderung handeln würde. Die in dem Gutachten der radiologischen Universitätsklinik G. vom 19. August 1971 näher erläuterten Röntgenuntersuchungen hätten jedoch im Vergleich zu den Röntgenaufnahmen der Universitätsnervenklinik M. aus den Jahren 1961, 1966 und 1969 einem praktisch identischen befand über einen Zeitraum von 10 Jahren ergeben. Dies dürfte auch gegen eine Progredienz der Halswirbelsäulenveränderung innerhalb des Zeitraumes vor 1961 sprechen, wenn dies damit auch nicht vollständig ausgeschlossen sei. Unter Würdigung aller anamnestischer Hinweise, der aus den Akten zu entnehmenden Fachbefunde und dem jetzigen klinischen Status könne bei den heutigen lückenhaften Kenntnissen über die genaueren pathogenetische Zusammenhänge, die dem Krankheitsbild des akuten Hörverlustes zugrunde liegen, eine Aussage darüber nicht gemacht werden, ob die Taubheit des Klägers Auswirkung der anerkannten traumatischen Blockwirbelbildung zwischen C 3 bis C 5 sei; jedenfalls lasse sich dies nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bejahen. Wenn auch die Halswirbelsäulenveränderungen als krankheitsauslösender Faktor nicht vollständig auszuschließen seien, so spreche doch mehr dagegen als dafür.
Dr. H. hebt in seiner Äusserung vom 29. November 1971 hervor, dass die G. Ohrenklinik eine beidseitige regelrechte Vestibularrisfunktion nachgewiesen habe, während die M. Ohrenklinik in dem Gutachten vom 12. Februar 1964 noch von einer objektiv verifizierbaren Gleichgewichtsstörung gesprochen haben. Es sei somit eine wesentliche Besserung eingetreten. Ein Ausfall des peripheren Gleichgewichtsorgans beiderseits liege nicht mehr vor.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Streitakten, der Akten des OVA Kassel (St.KB-Nr. XXXXX, der Akten des Sozialgerichts Kassel, Az.: S-3/UG-6/63, VW 359/54 und S-1/J-421/62, der Versorgungsverwaltung und der Landesversicherungsanstalt Hessen über den mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist statthaft (§ 143 SGG).
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Berufung eine Neufeststellung oder infolge Neuprüfung der gesamten Zusammenhangsfrage einen "Zweitbescheid” im Sinne der Rechtsprechung des BSB darstellt, weil auf alle Fälle die Schwerbeschädigteneigenschaft im Streit steht (vgl. § 148 Nr. 3 SGG – Sozialgerichtsgesetz –). Die Berufung ist auch fristgerecht erhoben. Dem betreffenden Beamten des Landesversorgungsamtes Hessen ist offensichtlich ein Schreibfehler unterlaufen als er auf der die Zustellung des sozialgerichtlichen Urteils bestätigenden Bescheinigung diese als am "9.1.1967” erfolgt beurkundet hat. Es muss stattdessen heißen: 9.1.1968. Dies ergibt sich daraus, dass das Urteil erst in der Sitzung des Sozialgerichts Kassel vom 9. Dezember 1967 ergangen ist und die erwähnte Bestätigung des Landesversorgungsamtes Hessen am 15. Januar 1968 beim Sozialgericht Kassel wieder eingegangen ist, da dem Landesversorgungsamt Hessen das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Kassel somit am 9. Januar 1968 zugegangen ist, ist auch die Einlegung der Berufung, die formgerecht am 31. Januar 1968 schriftlich beim Hessischen Landessozialgericht einging, rechtzeitig erfolgt. Die Berufung ist auch begründet.
Nach § 1 Abs. 3 BVG genügt zwar die Feststellung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zwischen einer Erkrankung und Schädigungstatbeständen nach dem Bundesversorgungsgesetz. Schon bei der Verkündung des angefochtenen Urteils vom 7. Dezember 1967 stand indessen fest, dass sich nach dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Wissenschaft die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhanges des beiderseitigen Hörverlustes mit der als Schädigungsfolge anerkannten Blockwirbelbildung des Klägers nicht begründet lässt.
Bei der Beurteilung dieser Zusammenhangsfrage ist der Vorderrichter einseitig der Begutachtung durch die Universitäts-HNO-Klinik M. gefolgt. Diese Klinik hatte aber bereits in dem von Prof. Dr. B. und Dr. G. erstatteten Gutachten vom 12. Februar 1964 darauf hingewiesen dass ihre Auffassung in der ärztlichen Wissenschaft umstritten sei. In dem Gutachten der gleichen Ärzte vom 12. Juli 1965 ist dann keine Rede mehr hiervon, während Prof. Dr. B. im Juni 1967 weder darauf erläuterte, dass "wir zu wenig über die Sache selbst wissen”, und bei einem besonderen Kenner der einschlägigen Literatur noch Erkundigungen eingezogenen Werden sollen.
Privatdozent Dr. G. erklärte in der mündlichen Verhandlung vom 7. Dezember 1967 wiederum ausdrücklich, dass sich eine einheitliche Meinung der Gutachter wahrscheinlich deshalb nicht erzielen lasse, weil der diskutierte Fragenkomplex wissenschaftlich noch nicht eindeutig geklärt sei. Wenn Dr. G. auch noch andere Literatur erwähnte, so stützte er sich für seine Auffassung eines bestehenden Zusammenhanges zwischen der Wirbelverletzung und den Hörverlust in wesentlichen auf eigene Untersuchungen aus den Jahre 1965 von denen er sagte, dass sie teilweise noch nicht veröffentlicht seien. Er schränkte seine Feststellungen allerdings dahingehend ein, dass es beim sogenannten Hörsturz durch Durchblutungsstörungen des Innenohres "ziemlich häufig” zu einem Hörverlust besonders im tiefen Frequenzbereich könne. Diese Feststellungen "ziemlich häufig” jedoch über die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges im konkreten Fall nicht aus.
Eine solche Wahrscheinlichkeit des Zusammenhanges könnte lediglich dann begründet werden, wenn in der meisten Zahl der beobachteten Fälle, die auf umfangreichen Untersuchungen beruhen müssten, ein solcher Zusammenhang festgestellt worden wäre. Im übrigen hat sich Dr. G. vor dem Sozialgericht so ausgedrückt, dass der ursächliche Zusammenhang nur möglich erscheint, wenn er z.B. darauf hinweist, dass das nervenärztliche Gutachten einen möglichen Zusammenhang nicht abgelehnt habe. Eine Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges kann jedoch auch aus den Ausführungen des Dr. G. nicht entnommen werden.
Aber auch die übrigen bis zum Jahre 1967 eingeholten Gutachten standen der Annahme eines wahrscheinlichen ursächlichen Zusammenhanges zwischen der chromatischen Blockwirbelbildung C 3 bis C 5 und dem Hörschaden im Wege. Zwar hatte der HNO-Facharzt Dr. L. in seiner Bescheinigung vom 12. Juni 1950 und seiner Auskunft vom 12. Februar 1962 die Auffassung vertreten, dass ein Zusammenhang zwischen beiden Erkrankungen wahrscheinlich sei. Er hatte aber hier für keine Beweismittel angeführt. Vorsichtiger habe sich Dozent Dr. S. von der Nervenklinik M. dahingehen ausgedrückt, dass ein Zusammenhang zwischen Blockwirbelbildung und Schwerhörigkeit auf dem Wege über eine Irritation der Arteris vertebralis diskutiert werden könne, während der HNO-Facharzt Dr. S. am 24. Juli 1962 meinte, die Blockwirbelbildung komme für die praktische Taubheit rechts in Betracht. Er bezog sich hierfür allerdings ausdrücklich auf die Auffassung der HNO-Klinik M ...
Demgegenüber hatte aber der Facharzt für HNO-Krankheiten Dr. W., in seinen Gutachten vom 16. Dezember 1946 und seiner aktenmässigen Äusserung vom 9. Mai 1949 die Auffassung vertreten, das Ohrenleiden sei auf eine in der Jugend durchgemachte Mittelehrvereiterung zurückzuführen und damit keine Wehrdienstbeschädigung. Auch hat die Orthopädische Klinik Marburg nach ihren Behandlungsunterlagen aus dem Jahre 1961 keinen sicheren Anhalt für einen Zusammenhang zwischen der Schwerhörigkeit und der Blockwirbelbildung gefunden.
Sollten aber für die Beurteilung der Zusammenhangsfrage trotz des nervenärztlichen Gutachtens vom 8. Juli 1966, das nicht mit der geforderten Wahrscheinlichkeit das Gehörleiden auf die Halswirbelsäulenverletzung zurückführen kann und der Äusserung des Dr. Z. vom 13. März 1967, dass bereits Hörverschlechterungen in den Jahren 1947, 1949, 1957 und 1959 nachgewiesen seien, sowie der Auffassung des HNO-Facharztes Dr. von B. dass eine "unfallbedingte Ertaubung des linken Ohres vom November 1960” vorliege und des Hinweises von Dr. vom 6. April 1967, dass Weichteilverletzungen als Folge des Halsdurchschusses wahrscheinlich gemacht werden müssten, um Schädigungsfolgen aus der Nerven- und Gefäßversorgung anzunehmen, noch Zweifel bestehen, so sind sie durch die im Berufungsverfahren eingeholten ärztlichen Gutachten beseitigt worden.
Nach dem Gutachten der Universitäts-Nervenklinik M. vom 25. Juli 1969 kann ein Zusammenhang zwischen traumatischer Blockwirbelbildung und doppelseitigen Hörsturz mit dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad nicht angenommen werden, wenn sich auch freilich ein solcher Zusammenhang nicht ausschließen lässt. Auf Grund ihrer Erfahrungen bei Hirndurchblutungsstörungen hält die Nervenklinik jedoch einen solchen pathogenetischen Zusammenhang nicht für wahrscheinlich. Noch deutlicher stellt das Gutachten der HNO-Universitätsklinik G. vom 15. Oktober 1971 heraus, dass nach heute allgemein geltender Ansicht die Hörstörung des Klägers nicht mit Wahrscheinlichkeit durch die traumatische Halswirbelsäulenveränderung hervorgerufen sein kann. Prof. Dr. M. räumt in diesem Gutachten zwar ein, dass in den letzten Jahren casuistische Mitteilungen in der medizinischen Literatur erschienen sind, die von gewissen typischen Veränderungen über cervikal-bedingte Hörstörungen sprechen. Diese Hörstörungen treten aber in der Regel einseitig auf, während bei dem Kläger die Wahrscheinlichkeit eines beidseitigen Hörsturzes angenommen wird. Ausserdem ist auch zu berücksichtigen, dass die bei dem Kläger nachgewiesene Hörstörung unter den bisher bekannten typischen Audiogrammtypen einen Extremfall bedeutet. Mit Recht weist Prof. Dr. M. auch auf dem sehr langen Intervall zwischen dem in Jahre 1943 erlittenen Halswirbelsäulentrauma und der im Jahre 1968 aufgetretene Hörstörung hin. Es muss deshalb eine progrediente Halswirbelsäulenveränderung vorliegen, um einen Zusammenhang mit der Blockwirbelbildung anzunehmen. Dem steht aber entgegen, dass nach dem Gutachten der Radiologischen Universitätsklinik G. vom 19. August 1971 eine Veränderung in dem Röntgenbefund aus den Jahren 1961, 1966 und 1969 hinsichtlich der Halswirbelsäule nicht nachgewiesen werde konnte. Dies spricht gegen eine Progredienz der Halswirbelsäulenveränderung, wenn sie auch freilich durch diese Beobachtung nicht vollständig ausgeschlossen ist.
Nach alledem ist die Zusammenfassung, die Prof. Dr. M. in seinem Gutachten vom 15. Oktober 1971 vorgenommen hat, voll gerechtfertigt, dass nämlich "bei den heutigen lückenhaften Kenntnissen über die genaueren pathogenetischen Zusammenhänge, die den Krankheitsbild des akuten Hörverlustes zugrunde liegen”, eine Aussage darüber nicht gemacht werden kann, ob die Taubheit des Klägers Auswirkung der anerkannten traumatischen Blockwirbelbildung ist, sie jedenfalls ein solcher Zusammenhang nicht mit hinreichend Wahrscheinlichkeit bejahen lässt. Auch Prof. Dr. M. schließt einen möglichen Zusammenhang "nicht vollständig aus”. Nach seiner Auffassung spricht aber mehr gegen eine solchen Zusammenhang als dafür.
Für den Senat ergibt sich hiernach, dass die Frage des Zusammenhanges der Blockwirbelerkrankung mit dem Hörverlust von der heutigen medizinischen Wissenschaft nicht klar bejaht werden kann. Abgesehen davon, dass nach der von Dr. H. behaupteten Besserung dahingestellt bleiben kann, ob das Ohrenleiden überhaupt einen – nicht besserungsfähigen – "Hörsturz” darstellt, muss nach den bisherigen Forschungsergebnissen angenommen werden, dass zumindest im Falle des Klägers mehr gegen einen Zusammenhang als dafür spricht. Da die Gerichte aber nicht nach der Auffassung einzelner Forscher, sondern nach dem Gesamtstand der medizinischen Wissenschaft entscheiden müssen, lässt es sich somit nicht genügend wahrscheinlich machen, dass die schädigungsbedingte Blockwirbelbildung des Klägers die Ursache für seinen Gehörverlust ist. Der Beklagte hat deshalb die Anerkennung des Hörverlustes als Schädigungsfolge zu Recht abgelehnt. Das erstinstanzliche Urteil musste deshalb aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidungen ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Gehörleiden des Klägers als Schädigungsfolge nach § 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) anzusehen ist, das nach Auffassung des Klägers durch die als Kriegsbeschädigung anerkannte Blockwirbelbildung der Halswirbelsäule oder durch schädigungsbedingte Durchblutungsstörungen hervorgerufen ist.
Während dem 1924 geborenen Kläger mit Bescheid vom 29. Mai 1954 unter anderem Versorgung wegen eines Ohrenleiden als Schädigungsfolge nach § 1 BVG abgelehnt wurde, überprüfte der Beklagte den gesamten Leidenszustand des Klägers durch verschiedene fachärztliche Gutachten und gewährte ihm auf seinen Verschlimmerungsantrag vom 4. Juli 1962 Versorgung nach einer MdE um 40 v.H. wegen
1) multiplen Verwundungsnarben im Nacken am Hals, im Brustkorb, im Rücken und am rechten Oberschenkel, multipler Stecksplitter in der Brustwand und im Rücken,
2) oberflächlicher Lungenstecksplitter links hinten und Lungenstecksplitter am linken oberen Herzrand, geringe Rippenfellschwarte links hinten, unten,
3) chromatischer Blockwirbelbildung C 3 bis C 5 mit Funktionsbehinderung der Halswirbelsäule.
Die beiderseitige Taubheit sah dieser Bescheid als eine nachdienstliche Neuerkrankung an. Der Widerspruch wurde mit Bescheid des Landesversorgungsamtes Hessen vom 19. Oktober 1962 zurückgewiesen.
Mit der Klage verfolgte der Kläger weiterhin die Anerkennung seines Gehörleidens als Schädigungsfolge. Zu dieser Frage lagen neben den übrigen ärztlichen Äusserungen, die in dem erstinstanzlichen Urteil aufgeführt sind, vor:
1) Gutachten des Versorgungsarztes Dr. W. (Facharzt für das Ohrenleiden auf eine in der Jugend durchgemachte Mittelohrvereiterung zurückzuführen und keine Wehrdienstbeschädigung ist.
2) Eine weitere aktenmässige Äusserung dieses Arztes vom 9. Juli 1949, in der er seine Auffassung bestätigt.
3) Ärztliche Bescheinigung des HNO-Facharztes Dr. E., O., vom 12. Juni 1950, der aufgrund seiner Befunderhebungen einen Zusammenhang für wahrscheinlich hält.
4) Auskunft des HNO-Facharztes Dr. L. vom 12. Februar 1962, in der ausgeführt ist, dass nach Angaben des Klägers nach vorausgegangener Grippe beim Sitzen auf einem Stuhl plötzlichstarkes Schwindelgefühl und Ohrensausen ohne Schmerzen eingetreten seien. Danach habe er kaum noch gehört. Am 11. April 1962 habe der Kläger laute Umgangssprache ca. 1/2 m weit gehört, der Schwindel sei geblieben.
5) Behandlungsunterlagen der Universitäts-HNO-Klinik, der Orthopädischen Universitätsklinik und der Universitäts-Nervenklinik M. aus der Zeit Mai/Juni 1961, aus denen sich ergibt, dass der später gehörte gerichtliche Sachverständigte Dr. G. den Kläger bereits damals behandelt hat. Die Orthopädische Klinik nahm keinen sicheren Anhalt für einen Zusammenhang zwischen der Schwerhörigkeit und der Blockwirbelbildung an, während Dozent Dr. S. von der Nervenklinik einen Zusammenhang zwischen Blockwirbelbildung und Schwerhörigkeit auf dem Wege über eine Irritation der Arteris vertebralis diskutierte.
6) In dem Verfahren des Klägers wegen Versichertenrente vor dem Sozialgericht Kassel – Az.: S-1/J-421/62 – bescheinigte der HNO-Facharzt Dr. S. am 24. Juli 1962, dass die Blockwirbelbildung für die praktische Taubheit rechts in Anlehnung an die Auffassung der HNO-Klinik M. in Betracht komme. Im gleichen Verfahren erklärt der Facharzt für Orthopädie Dr. W. in seinem Gutachten vom 3. März 1967, das der Komplex eines cervico-cephalen Syndroms bei traumatischer partieller Blockwirbelbildung mit der Ertaubung als im Zusammenhang stehend "unbedingt diskutiert werden” müsse.
Das Sozialgericht Kassel hat folgende ärztliche Gutachten eingeholt bzw. nachstehende Stellungnahmen von Versorgungsärzten erhalten:
1. Die Universitäts-HNO-Klinik M. stellte in ihrem Gutachten vom 12. Februar 1964 durch ihren Direktor Prof. Dr. B. und den Facharzt für HNO-Krankheiten Dr. G. eine Ertaubung rechts, Verschlimmerung einer Bestehenden mittelgradigen Schwerhörigkeit links bis zur vollständigen Ertaubung und objektiv verifizierbare Gleichgewichtsstörungen bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v.H. fest. Aufgrund der "glaubhaften Angaben” des Klägers, der von dieser Klinik innerhalb von 2 3/4 Jahren erhobenen Befunde und des erheblichen krankhaften Befundes an der Halswirbelsäule nahmen die Sachverständigen die cervikale Genese der akuten Ohrenkrankung mit nachfolgenden Ertaubung und Schwindel an. Sie vertraten die Auffassung dass die Ohrenkrankung als Kriegsleiden anzuerkennen sei da die Halswirbelsäulenveränderungen ebenfalls Schädigung folgen seien und wiesen darauf hin, dass ihre Auffassung in der ärztlichen Wissenschaft umstritten sei. Der Audiometrische Befund passe durchaus zum Bild der cervikal-bedingten Innenohrläsion, mit Beteiligung der tiefen Frequenzen (Flachaudiogramm). Während Morits das Flachaudiogramm als typisch für die cervikale Genese herausgestellt habe, hätten zwei andere Ärzte derartige Audiogramme jedoch nur bei 7 von 87 entschprechenden Fällen gefunden. Aber auch von anderen Autoren werde eine im einzelen noch nicht bekannte Beziehung zwischen cervikalen Reiszustand (Sympathieus-Irritation, Vertebraliskompression) und Hörausfall im tiefen Tonbereich angenommen. Die Baßtaubheit des Klägers stellte daher einen in diesen Rahmen gehörenden Extremfall dar. Es sei allerdings nicht möglich gewesen, dass eine cervikale Ursache gleichsam beweisenden Auslösen von Schwindel und Nystagmus durch heftige Kopfbewegungen vorzunehmen, was man "mit Rücksicht auf die Lage” des Klägers "nicht forciert” habe.
2. Der Versorgungsarzt Dr. , Facharzt für HNO-Krankheiten, wie in seiner Äusserung vom 7. April 1964 darauf hin, dass die M. Klinik die hochgradige Schwerhörigkeit des linken Ohres, die bereits im Jahre 1947 bestand, nicht erklärt habe. Andere Kliniken hätten teilweise andere Befunde hinsichtlich der Wirbelsäule und den Durchblutungsstörung im Bereich der Vertrebalis erhoben.
3. Nachdem der Kläger noch eine eidesstattliche Erklärung der Dr. med. habil. O. Facharzt für HNO-Krankheiten, vom 4. Mai 1964 vorgelegt hatte, der ihn im Jahre 1943 im Lazarett behandelt hatte, holte das Sozialgericht Gutachten der Universitäts-Nervenklinik, der Orthopädischen Universitätsklinik und der Universitäts-HNO-Klinik in M. ein. Das HNO-fachärztliche Gutachten, das wiederum von Prof. Dr. B. und Dr. G. unter dem 12. Juli 1965 erstattet wurde, hielt an dem Ergebnissen des Gutachtens vom 12. Februar 1964 fest. Das von Oberarzt Prof. Dr. H. und Ass. Arzt Dr. S. erstattete nervenfachärztliche Gutachten vom 8. Juli 1966 kommt zu dem Ergebnis, dass die Innenohrschwerhörigkeit auf Grund der Vorgeschichte und der neurologischen Untersuchungsergebnisse nicht mit der geforderten Wahrscheinlichkeit auf die Halswirbelsäulen Verletzung zurückgeführt werden kann. Diese Gutachter konnten weder anamnestisch noch objektiv neurologisch irgendwelche Zeichen oder Syndrome einer Zirkulationsstörung im Versorgungsbereich der beiden Arteriae vertebrales, ihrer Ärzte oder der von den Arteriae vertebrales abgehenden Arteris basilaris finden. Selbst wenn im Bereich der nachgewiesenen Verletzungsstellen der Halswirbelsäule eine Verebralisstenosierung angiographisch nachgewiesen würde, könne ein Zusammenhang zwischen den Gehörstörungen und den Folgen der Halswirbelsäulenverletzung neurologischerseits nicht mit dem geforderten Wahrscheinlichkeitsgrad angenommen werden. Unter Verwertung dieses nervenfachärztlichem Gutachten kamen Prof. Dr. E. und Oberarzt Dr. N. in ihrem Gutachten der Orthopädischen Klinik der Universität M. vom 6. Juli 1965 zu dem Ergebnis, dass sich auf Grund der von ihnen erhobenen Befunde und der Auffassung der HNO-Klinik zwar ein Zusammenhang der beiderseitigen Ertaubung mit dem Versorgungsleiden diskutierten lasse, eine einheitliche Meinung zu dieser Auffassung aber wahrscheinlich deshalb nicht zu erzielen sei, weil der diskutierte Fragenkomplex wissenschaftlich noch nicht eindeutig geklärt sei. Das neurologische Zusatzgutachten bringe gewichtige Argumente gegen eine mögliche Durchblutungsstörung der Arteris vertebralis.
4. Der Versorgungsarzt Dr. Z. wies in seiner in seiner Äusserung vom 13. März 1967 darauf hin, dass die vorgeschichtlichen Angaben des Klägers zum Teil sehr widersprüchlich seien und alle Umstände mehr gegen als für eine Ertaubung im Rahmen eines Cervicalsyndroms sprächen. In dem Zusammenhang sei auf die ausserdienstliche Mittelohroperation, die ablehnenden HNO-Gutachten von 1947 und 1949, die mittelohrbedingten Hörverschlechterungen der Jahre 1951 und 1959 nach grippalen Infektion und die Nebenhöhlenentzündungen sowie die von dem HNO-Arzt Dr. von B. angegebene unfallbedingte Ertaubung des linken Ohres vom November 1960 zu erinnern. Mit dem Gutachten der M. Klinik vom 8. Juli 1966 müsse das Vorliegen eines Cervicalsyndroms überhaupt verneint werden. Der Versorgungsarzt Dr. W., Facharzt für Chirurgie, wies in seiner Stellungnahme vom 6. April 1967 darauf hin, dass auch Weichteilverletzungen als Folge des Halsdurchschusses wahrscheinlich gemacht werden müssten um Schädigungsfolgen an der Nerven- und Gefäßversorgung anzunehmen. Der Versorgungsarzt Dr. R. (Nervenfacharzt) glaubte in seiner Äusserung vom 17. April 1967 neurologischerseits zu den vom Gericht eingeholten Gutachten nichts beitragen zu können.
5. Im Juni 1967 wies Prof. B. darauf hin, dass die Beurteilung der Angelegenheit des Klägers deshalb besonders schwierig sei, weil "wir zu wenig über die Sache selbst wissen”. Bei einem besonderen Kenner der Literatur hierzu sollen noch Erkundigungen eingezogen werden. Dr. G. besprach die Angelegenheit noch mit Neurologen und erläuterte seine Stellungnahme in dem mündlichen Verhandlungstermin vor dem Sozialgericht Kassel am 7. Dezember 1967. Er verwies auf eigene, teilweise noch nicht veröffentlichte Untersuchungen, wonach es beim sogenannten Hörsturz wegen Durchblutungsstörungen des Innenohres ziemlich häufig zu einem Hörverlust, besonders im tiefen Frequenzbereich komme. Den Zusammenhang zwischen der Blockwirbelbildung und dem Gehörschaden führte er auf eine Irritation des sympathischen Nerven zurück, was auch von der Universitäts-Nervenklinik M. nicht ausgeschlossen werde. Weiter verwies er auf eine Veröffentlichung von Kühn über einen ähnlichen Fall wie den des Klägers, in dem das Versorgungsamt ein Schädigungsleiden angenommen habe. Die MdE "durch die Schädigungsfolgen” schätzte er ab November 1961 auf 70 v.H ...
Entsprechend dem Antrag des Klägers verurteilte das Sozialgericht Kassel mit seinem Urteil vom 7. Dezember 1967 den beklagten, unter Abänderung der angefochtenen Bescheide als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen:
"Bis zur Totaltaubheit fortgeschrittene Innenohrschwerhörigkeit beiderseits mit Ausfall des peripheren Gleichgewichtsorgans beiderseits, entstanden durch wehrdienstliche Einflüsse,”
und Versorgung nach einer MdE um 100 v.H. ab 1. November 1961 zu gewähren. Das Gericht schloss sich den Begutachtung durch Dr. G. an und verwies darauf, dass auch der Orthopäde Prof. Dr. B. dem gesamten Beschwerdebild eine Irritation zumindest der Nerven entnehme. Man müsse deshalb damit rechnen, dass narbige Veränderungen in der Umgebung der ehemaligen Entzündung am Halle auf Grund der Splitterverletzung vorlägen, die ihrerseits durch eine Schrumpfungstendenz Verziehungen weicher Gewebe bedingen könnten. Auch das nervenärztliche Gutachten der Universitätsklinik M. untermauere die Auffassung von Dr. G. weil es hinsichtlich der Nervenirritation auf das frühere Gutachten der M. HNO-Klinik verweise.
Dieses Urteil wurde dem Bevollmächtigten des Klägers am 4. Januar 1968 zugestellt. Das Landesversorgungsamt Hessen beurkundete die Zustellung als am "9.1.1967” erfolgt; diese Bestätigung ging am 15. Januar 1968 wieder beim Sozialgericht Kassel ein und die schriftliche Berufung des Beklagten am 31. Januar 1968 beim Hessischen Landessozialgericht.
Der Beklagte ist der Auffassung, das Sozialgericht hätte nicht mit Dr. G. davon ausgehen dürfen, dass die Schwerhörigkeit des Klägers auf ein cervico-cephales Syndrom in Sinne einer sympathico-vertebralen Irritation zurückgehe. Die Einwände der Marburger Neurologen hiergegen habe das Sozialgericht nicht beachtet.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 7. Dezember 1967 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Der Senat hat ein Ergänzungsgutachten von der Universitäts-Nervenkinik M. eingeholt, das unter dem 25. Juli 1969 von Prof. Dr. H. und Dr. S. erstellt wurde. Die Ärzte weisen darauf hin, dass eine Totaltaubheit zur Zeit nicht vorliege, was schon bei der nervenfachärztlichen Begutachtung durch Dr. M. im Mai 1962 vermutet worden sei. Hiernach könne ein Zusammenhang zwischen traumatischer Blockwirbelbindung und doppelseitigem Hörsturz mit "dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad” nicht angenommen, allerdings auch nicht ausgeschlossen werden, obwohl die Nervenklinik auf Grund ihrer Erfahrungen bei Hirndurchblutungsstörungen einen solchen pathogenetischen Zusammenhang nicht für wahrscheinlich halte. Das Gutachten spricht auch lediglich von "einer möglicherweise vorhandenen Blockwirbel bedingten ein- oder beiderseitigen Vertebraliseinengung. Hierzu nahm der Versorgungsarzt Dr. H., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, am 5. Dezember 1969 dahingehend Stellung, dass das Sozialgerichtsurteil schon deshalb falsch sei, weil eine Totaltaubheit nicht vorliege und hierfür eine MdE um 60 v.H. abgesetzt worden sei. Da ein progredienter Prozess von der HNO-Klinik angenommen worden sei, könne eine Besserung der Totaltaubheit nicht eintreten.
Nachdem der Kläger die HNO-Klinik G. für befangen erklärt hatte, holte der Senat ein weiteres Gutachten bei der HNO-Klinik G. ein, das unter dem 15. Oktober 1971 durch deren Direktor Prof. Dr. M. und dem Assistent der Klinik Dr. A., Facharzt für HNO-Krankheiten, erstellt wurde. In diesem Gutachten wird ausgeführt, nach heute allgemein geltender Ansicht erde die bei dem Kläger manifest gewordene Hörstörung tatsächlich bzw. mit Wahrscheinlichkeit nicht durch traumatische Haswirbelsäulenveränderungen hervorgerufen. Aufgrund casuitischer Mitteilung in den letzten Jahren könne man von gewissen typischen Veränderungen über cervikal-bedingte Hörstörungen sprechen. Sie träten in der Regel einseitig auf, während bei dem Kläger die Wahrscheinlichkeit eines beidseitigen Hörsturzes angenommen worden sei. Die Art der am 20. Mai 1961 durch die HNO-Klinik nachgewiesenen Hörstörung bedeute unter den bisher bekannten typischen Audiogrammtypen einen Extremfall. Hinzu komme das sehr lange Intervall zwischen dem 1943 erlittenen Halswirbelsäulentrauma und der 1961 erlittenen Hörstörung. Ein akuter Hörverlust nach einem so langen Intervall wäre dann nur annehmbar, wenn es sich um eine progrediente Halswirbelsäulenveränderung handeln würde. Die in dem Gutachten der radiologischen Universitätsklinik G. vom 19. August 1971 näher erläuterten Röntgenuntersuchungen hätten jedoch im Vergleich zu den Röntgenaufnahmen der Universitätsnervenklinik M. aus den Jahren 1961, 1966 und 1969 einem praktisch identischen befand über einen Zeitraum von 10 Jahren ergeben. Dies dürfte auch gegen eine Progredienz der Halswirbelsäulenveränderung innerhalb des Zeitraumes vor 1961 sprechen, wenn dies damit auch nicht vollständig ausgeschlossen sei. Unter Würdigung aller anamnestischer Hinweise, der aus den Akten zu entnehmenden Fachbefunde und dem jetzigen klinischen Status könne bei den heutigen lückenhaften Kenntnissen über die genaueren pathogenetische Zusammenhänge, die dem Krankheitsbild des akuten Hörverlustes zugrunde liegen, eine Aussage darüber nicht gemacht werden, ob die Taubheit des Klägers Auswirkung der anerkannten traumatischen Blockwirbelbildung zwischen C 3 bis C 5 sei; jedenfalls lasse sich dies nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bejahen. Wenn auch die Halswirbelsäulenveränderungen als krankheitsauslösender Faktor nicht vollständig auszuschließen seien, so spreche doch mehr dagegen als dafür.
Dr. H. hebt in seiner Äusserung vom 29. November 1971 hervor, dass die G. Ohrenklinik eine beidseitige regelrechte Vestibularrisfunktion nachgewiesen habe, während die M. Ohrenklinik in dem Gutachten vom 12. Februar 1964 noch von einer objektiv verifizierbaren Gleichgewichtsstörung gesprochen haben. Es sei somit eine wesentliche Besserung eingetreten. Ein Ausfall des peripheren Gleichgewichtsorgans beiderseits liege nicht mehr vor.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Streitakten, der Akten des OVA Kassel (St.KB-Nr. XXXXX, der Akten des Sozialgerichts Kassel, Az.: S-3/UG-6/63, VW 359/54 und S-1/J-421/62, der Versorgungsverwaltung und der Landesversicherungsanstalt Hessen über den mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist statthaft (§ 143 SGG).
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Berufung eine Neufeststellung oder infolge Neuprüfung der gesamten Zusammenhangsfrage einen "Zweitbescheid” im Sinne der Rechtsprechung des BSB darstellt, weil auf alle Fälle die Schwerbeschädigteneigenschaft im Streit steht (vgl. § 148 Nr. 3 SGG – Sozialgerichtsgesetz –). Die Berufung ist auch fristgerecht erhoben. Dem betreffenden Beamten des Landesversorgungsamtes Hessen ist offensichtlich ein Schreibfehler unterlaufen als er auf der die Zustellung des sozialgerichtlichen Urteils bestätigenden Bescheinigung diese als am "9.1.1967” erfolgt beurkundet hat. Es muss stattdessen heißen: 9.1.1968. Dies ergibt sich daraus, dass das Urteil erst in der Sitzung des Sozialgerichts Kassel vom 9. Dezember 1967 ergangen ist und die erwähnte Bestätigung des Landesversorgungsamtes Hessen am 15. Januar 1968 beim Sozialgericht Kassel wieder eingegangen ist, da dem Landesversorgungsamt Hessen das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Kassel somit am 9. Januar 1968 zugegangen ist, ist auch die Einlegung der Berufung, die formgerecht am 31. Januar 1968 schriftlich beim Hessischen Landessozialgericht einging, rechtzeitig erfolgt. Die Berufung ist auch begründet.
Nach § 1 Abs. 3 BVG genügt zwar die Feststellung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zwischen einer Erkrankung und Schädigungstatbeständen nach dem Bundesversorgungsgesetz. Schon bei der Verkündung des angefochtenen Urteils vom 7. Dezember 1967 stand indessen fest, dass sich nach dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Wissenschaft die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhanges des beiderseitigen Hörverlustes mit der als Schädigungsfolge anerkannten Blockwirbelbildung des Klägers nicht begründet lässt.
Bei der Beurteilung dieser Zusammenhangsfrage ist der Vorderrichter einseitig der Begutachtung durch die Universitäts-HNO-Klinik M. gefolgt. Diese Klinik hatte aber bereits in dem von Prof. Dr. B. und Dr. G. erstatteten Gutachten vom 12. Februar 1964 darauf hingewiesen dass ihre Auffassung in der ärztlichen Wissenschaft umstritten sei. In dem Gutachten der gleichen Ärzte vom 12. Juli 1965 ist dann keine Rede mehr hiervon, während Prof. Dr. B. im Juni 1967 weder darauf erläuterte, dass "wir zu wenig über die Sache selbst wissen”, und bei einem besonderen Kenner der einschlägigen Literatur noch Erkundigungen eingezogenen Werden sollen.
Privatdozent Dr. G. erklärte in der mündlichen Verhandlung vom 7. Dezember 1967 wiederum ausdrücklich, dass sich eine einheitliche Meinung der Gutachter wahrscheinlich deshalb nicht erzielen lasse, weil der diskutierte Fragenkomplex wissenschaftlich noch nicht eindeutig geklärt sei. Wenn Dr. G. auch noch andere Literatur erwähnte, so stützte er sich für seine Auffassung eines bestehenden Zusammenhanges zwischen der Wirbelverletzung und den Hörverlust in wesentlichen auf eigene Untersuchungen aus den Jahre 1965 von denen er sagte, dass sie teilweise noch nicht veröffentlicht seien. Er schränkte seine Feststellungen allerdings dahingehend ein, dass es beim sogenannten Hörsturz durch Durchblutungsstörungen des Innenohres "ziemlich häufig” zu einem Hörverlust besonders im tiefen Frequenzbereich könne. Diese Feststellungen "ziemlich häufig” jedoch über die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges im konkreten Fall nicht aus.
Eine solche Wahrscheinlichkeit des Zusammenhanges könnte lediglich dann begründet werden, wenn in der meisten Zahl der beobachteten Fälle, die auf umfangreichen Untersuchungen beruhen müssten, ein solcher Zusammenhang festgestellt worden wäre. Im übrigen hat sich Dr. G. vor dem Sozialgericht so ausgedrückt, dass der ursächliche Zusammenhang nur möglich erscheint, wenn er z.B. darauf hinweist, dass das nervenärztliche Gutachten einen möglichen Zusammenhang nicht abgelehnt habe. Eine Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges kann jedoch auch aus den Ausführungen des Dr. G. nicht entnommen werden.
Aber auch die übrigen bis zum Jahre 1967 eingeholten Gutachten standen der Annahme eines wahrscheinlichen ursächlichen Zusammenhanges zwischen der chromatischen Blockwirbelbildung C 3 bis C 5 und dem Hörschaden im Wege. Zwar hatte der HNO-Facharzt Dr. L. in seiner Bescheinigung vom 12. Juni 1950 und seiner Auskunft vom 12. Februar 1962 die Auffassung vertreten, dass ein Zusammenhang zwischen beiden Erkrankungen wahrscheinlich sei. Er hatte aber hier für keine Beweismittel angeführt. Vorsichtiger habe sich Dozent Dr. S. von der Nervenklinik M. dahingehen ausgedrückt, dass ein Zusammenhang zwischen Blockwirbelbildung und Schwerhörigkeit auf dem Wege über eine Irritation der Arteris vertebralis diskutiert werden könne, während der HNO-Facharzt Dr. S. am 24. Juli 1962 meinte, die Blockwirbelbildung komme für die praktische Taubheit rechts in Betracht. Er bezog sich hierfür allerdings ausdrücklich auf die Auffassung der HNO-Klinik M ...
Demgegenüber hatte aber der Facharzt für HNO-Krankheiten Dr. W., in seinen Gutachten vom 16. Dezember 1946 und seiner aktenmässigen Äusserung vom 9. Mai 1949 die Auffassung vertreten, das Ohrenleiden sei auf eine in der Jugend durchgemachte Mittelehrvereiterung zurückzuführen und damit keine Wehrdienstbeschädigung. Auch hat die Orthopädische Klinik Marburg nach ihren Behandlungsunterlagen aus dem Jahre 1961 keinen sicheren Anhalt für einen Zusammenhang zwischen der Schwerhörigkeit und der Blockwirbelbildung gefunden.
Sollten aber für die Beurteilung der Zusammenhangsfrage trotz des nervenärztlichen Gutachtens vom 8. Juli 1966, das nicht mit der geforderten Wahrscheinlichkeit das Gehörleiden auf die Halswirbelsäulenverletzung zurückführen kann und der Äusserung des Dr. Z. vom 13. März 1967, dass bereits Hörverschlechterungen in den Jahren 1947, 1949, 1957 und 1959 nachgewiesen seien, sowie der Auffassung des HNO-Facharztes Dr. von B. dass eine "unfallbedingte Ertaubung des linken Ohres vom November 1960” vorliege und des Hinweises von Dr. vom 6. April 1967, dass Weichteilverletzungen als Folge des Halsdurchschusses wahrscheinlich gemacht werden müssten, um Schädigungsfolgen aus der Nerven- und Gefäßversorgung anzunehmen, noch Zweifel bestehen, so sind sie durch die im Berufungsverfahren eingeholten ärztlichen Gutachten beseitigt worden.
Nach dem Gutachten der Universitäts-Nervenklinik M. vom 25. Juli 1969 kann ein Zusammenhang zwischen traumatischer Blockwirbelbildung und doppelseitigen Hörsturz mit dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad nicht angenommen werden, wenn sich auch freilich ein solcher Zusammenhang nicht ausschließen lässt. Auf Grund ihrer Erfahrungen bei Hirndurchblutungsstörungen hält die Nervenklinik jedoch einen solchen pathogenetischen Zusammenhang nicht für wahrscheinlich. Noch deutlicher stellt das Gutachten der HNO-Universitätsklinik G. vom 15. Oktober 1971 heraus, dass nach heute allgemein geltender Ansicht die Hörstörung des Klägers nicht mit Wahrscheinlichkeit durch die traumatische Halswirbelsäulenveränderung hervorgerufen sein kann. Prof. Dr. M. räumt in diesem Gutachten zwar ein, dass in den letzten Jahren casuistische Mitteilungen in der medizinischen Literatur erschienen sind, die von gewissen typischen Veränderungen über cervikal-bedingte Hörstörungen sprechen. Diese Hörstörungen treten aber in der Regel einseitig auf, während bei dem Kläger die Wahrscheinlichkeit eines beidseitigen Hörsturzes angenommen wird. Ausserdem ist auch zu berücksichtigen, dass die bei dem Kläger nachgewiesene Hörstörung unter den bisher bekannten typischen Audiogrammtypen einen Extremfall bedeutet. Mit Recht weist Prof. Dr. M. auch auf dem sehr langen Intervall zwischen dem in Jahre 1943 erlittenen Halswirbelsäulentrauma und der im Jahre 1968 aufgetretene Hörstörung hin. Es muss deshalb eine progrediente Halswirbelsäulenveränderung vorliegen, um einen Zusammenhang mit der Blockwirbelbildung anzunehmen. Dem steht aber entgegen, dass nach dem Gutachten der Radiologischen Universitätsklinik G. vom 19. August 1971 eine Veränderung in dem Röntgenbefund aus den Jahren 1961, 1966 und 1969 hinsichtlich der Halswirbelsäule nicht nachgewiesen werde konnte. Dies spricht gegen eine Progredienz der Halswirbelsäulenveränderung, wenn sie auch freilich durch diese Beobachtung nicht vollständig ausgeschlossen ist.
Nach alledem ist die Zusammenfassung, die Prof. Dr. M. in seinem Gutachten vom 15. Oktober 1971 vorgenommen hat, voll gerechtfertigt, dass nämlich "bei den heutigen lückenhaften Kenntnissen über die genaueren pathogenetischen Zusammenhänge, die den Krankheitsbild des akuten Hörverlustes zugrunde liegen”, eine Aussage darüber nicht gemacht werden kann, ob die Taubheit des Klägers Auswirkung der anerkannten traumatischen Blockwirbelbildung ist, sie jedenfalls ein solcher Zusammenhang nicht mit hinreichend Wahrscheinlichkeit bejahen lässt. Auch Prof. Dr. M. schließt einen möglichen Zusammenhang "nicht vollständig aus”. Nach seiner Auffassung spricht aber mehr gegen eine solchen Zusammenhang als dafür.
Für den Senat ergibt sich hiernach, dass die Frage des Zusammenhanges der Blockwirbelerkrankung mit dem Hörverlust von der heutigen medizinischen Wissenschaft nicht klar bejaht werden kann. Abgesehen davon, dass nach der von Dr. H. behaupteten Besserung dahingestellt bleiben kann, ob das Ohrenleiden überhaupt einen – nicht besserungsfähigen – "Hörsturz” darstellt, muss nach den bisherigen Forschungsergebnissen angenommen werden, dass zumindest im Falle des Klägers mehr gegen einen Zusammenhang als dafür spricht. Da die Gerichte aber nicht nach der Auffassung einzelner Forscher, sondern nach dem Gesamtstand der medizinischen Wissenschaft entscheiden müssen, lässt es sich somit nicht genügend wahrscheinlich machen, dass die schädigungsbedingte Blockwirbelbildung des Klägers die Ursache für seinen Gehörverlust ist. Der Beklagte hat deshalb die Anerkennung des Hörverlustes als Schädigungsfolge zu Recht abgelehnt. Das erstinstanzliche Urteil musste deshalb aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidungen ergibt sich aus § 193 SGG.
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