L 4 VG 155/97

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6b Vg 681/95
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 VG 155/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 27. September 1996 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Im übrigen haben sich die Beteiligten keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig der Anspruch des Klägers auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Der 1967 geborene Kläger beantragte am 27. August 1993 bei dem Beklagten wegen seiner am 20. Februar 1993 erlittenen Verletzungen Leistungen nach dem OEG. Der Beklagte zog die Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kassel mit dem rechtskräftig gewordenen Urteil des Amtsgerichts Korbach vom 15. August 1994 (424 Js 27536.5/93 a–c; 4 Ls jug) bei, wonach A. W. (Schädiger) wegen gefährlicher Körperverletzung in diesem Falle zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts Korbach ergab sich folgender Ablauf:

"In der Nacht zum 20.02.1993 hielten sich alle drei Angeklagten (A. W., M. B., R. R.) gemeinsam mit weiteren Bekannten, die allesamt wie sie der Skinhead-Szene angehörten, in der Diskothek "D. T.” in K. auf. Sie hatten in erheblichem Umfang dem Alkohol zugesprochen. Während im Verlauf des Abends der Angeklagte R. sich entfernte, blieben die Angeklagten W. und B. noch in der Diskothek.

Etwa gegen 1.00 Uhr in der Nacht zum 20.02.1993 kam der Zeuge H., der zunächst an einer Geburtstagsfeier teilgenommen hatte und ebenfalls etwas alkoholisiert war, ebenfalls in die Diskothek "D. T.”, wo es nun möglicherweise zu einer kurzen wörtlichen Auseinandersetzung mit dem Zeugen C. M. kam. Möglicherweise unterrichtete der C. M. den Angeklagten W. von dieser ggf. erfolgten kurzen Auseinandersetzung. Hierauf begab sich der Angeklagte W. zu dem Zeugen H. hin, wobei dieser den Angeklagten, wohl bedingt durch das Gedränge in der Diskothek, anrempelte. Auf eine inhaltlich nicht näher feststellbare Äußerung des Angeklagten W. antwortete der Zeuge H. sinngemäß, der Angeklagte W., der damals eine Glatze trug, möge sich doch einmal nach einem anderen Friseur umsehen. Der Angeklagte W. erfaßte nunmehr ein auf der Theke stehendes Bierglas in Form eines Kruges mit Henkel und schlug dieses unversehens dem Zeugen H. ins Gesicht, worauf dieser sofort zu Boden stürzte. Unmittelbar anschließend trat der Angeklagte, der Springerstiefel mit Stahlkappen an den Füßen trug, mehrfach mit großer Wucht mit den Füßen auf den am Boden liegenden Zeugen H. ein, wobei er diesem mindestens 10 Tritte versetzte, die größtenteils gegen den Kopf des Zeugen H., teilweise auch gegen den Körper, geführt wurden. Der Zeuge H. verlor bereits nach den ersten Tritten das Bewußtsein. Erst infolge des Eingreifens des Zeugen N. sowie von Sicherheitskräften der Diskothek ließ der Angeklagte W. von dem Zeugen H. ab.

Der Zeuge H. erlitt durch den Schlag mit dem Bierkrug ins Gesicht und die Tritte eine Schnitt- oder Platzwunde an der Stirn, einen Bluterguß am rechten Auge und am linken Jochbein, eine Mittelgesichtsfraktur links sowie ein Schädelhirntrauma ersten Grades sowie eine Augenverletzung; darüber hinaus brachen zwei Zähne ab. Der Zeuge mußte zunächst drei Wochen lang stationär im Krankenhaus behandelt werden, wo ihm am gebrochenen Jochbein eine Platte eingesetzt wurde. Zu deren Entfernung mußte er vor kurzem weitere zwei Wochen stationär im Krankenhaus verbringen.”

Mit Bescheid vom 12. Januar 1995 lehnte der Beklagte den Antrag ab, da der Kläger durch sein eigenes Verhalten den Schädiger vernunftswidrig provoziert habe. Er müsse sich deshalb die folgende Auseinandersetzung im wesentlichen selbst zurechnen lassen. Der Widerspruch des Klägers vom 24. Januar 1995 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 1995 zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 7. Juni 1995 bei dem Sozialgericht Kassel Klage erhoben, das mit Beschluss vom 28. November 1995 die AOK Hessen, Regionaldirektion Nordhessen, beigeladen hat. Nach Beiziehung der Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kassel hat das Sozialgericht mit Urteil vom 27. September 1996 den Beklagten verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen der am 20. Februar 1993 erlittenen Verletzungen Versorgung in gesetzlichem Umfang zu gewähren. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Entgegen der Auffassung des Beklagten liege kein Versagensgrund im Sinne des OEG vor. Der Kläger habe den Angriff nicht verursacht. Ein gewisses Maß an Selbstverschulden bedinge noch nicht die ursächliche Mitwirkung im versorgungsrechtlichen Sinne. Der bloße Umstand, daß bekannt sei, daß Skinheads als gewaltbereit gelten, rechtfertige daher für sich nicht schon die Annahme, dem Opfer, da es dem erhöhten Risiko nicht aus dem Wege gegangen ist, eine wesentliche Mitverursachung anzulasten. Im vorliegenden Falle stehe als Beitrag des Klägers zu dem Angriff lediglich – möglicherweise – eine kurze, in den Einzelheiten nicht bekannte verbale Auseinandersetzung mit einem Bekannten des Angreifers, dem Zeugen M., der dies möglicherweise dem Täter W. mitgeteilt habe, weiter eine – möglicherweise auch durch das Gedränge in der Diskothek bedingte – kurze Anrempelei gegenüber dem Täter, als dieser zu dem an der Theke stehenden Kläger ging, und zuletzt die kurz darauf geäußerte Frozelei gegenüber dem kahlgeschorenen Täter, sich einen anderen Friseur zu suchen. Keine dieser Teilursachen erfülle den Tatbestand einer Strafvorschrift. Demgegenüber stehe auf der anderen Seite der nach der Äußerung über den Friseurwechsel unvermittelte Angriff des Täters durch Schlagen eines auf der Theke stehenden Bierkruges in das Gesicht des Klägers und, nachdem dieser zu Boden gegangen war, durch die Fußtritte mit stahlbekappten Springerstiefeln in Gesicht und Körper des Klägers, ein Verhalten, das vom Amtsgericht als gefährliche Körperverletzung eingestuft wurde. In Abwägung dieser unterschiedlichen Teilursachen zu dem Geschehen könne nicht davon gesprochen werden, daß der Kläger im versorgungsrechtlichen Sinne die Tat und damit die Schädigung mitverursacht habe. Die Gewährung einer Versorgung sei auch nicht unbillig, da Umstände, die die Gewährung einer Versorgung als unbillig erscheinen lassen könnten, nicht erkennbar seien.

Gegen dieses dem Beklagten gegen Empfangsbekenntnis am 24. Januar 1997 zugestellte Urteil hat dieser am 5. Februar 1997 bei dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt.

Der Senat hat die Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kassel beigezogen.

Der Beklagte, der eine Mitverursachung des Klägers sieht, beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 27. September 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger und die Beigeladene beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen sowie auf den der Akten des Beklagten und der Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kassel, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist insbesondere form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Sie ist jedoch sachlich unbegründet. Der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz.

Zunächst bestehen keine Bedenken, die wesentlichen Feststellungen des Amtsgerichts Korbach im Urteil vom 15. August 1994 zugrunde zu legen, soweit sie den nachgewiesenen Geschehnisablauf betreffen, nachdem die Beteiligten dem ausdrücklich zugestimmt haben (vgl. Urteil des BSG vom 24. April 1980 – 9 RVg 1/73; vom 10. November 1993 – 9 RVg 2/93; vom 18. Dezember 1996 – 9 RVg 9/94). Aus den Strafverfahrensakten und dem Vortrag der Beteiligten ergeben sich auch keine Hinweise, die den Senat zu weiteren Ermittlungen drängen müßten. Für die eigentliche Tat, die zu den erheblichen Verletzungen des Klägers geführt hat, gibt es keinen unmittelbaren Zeugen. Es stehen hier lediglich die Aussagen des Geschädigten und des Schädigers zur Verfügung. Zwischen den Beteiligten ist jedoch unstreitig, daß der Kläger seine Verletzungen aufgrund eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S.v. § 1 Abs. 1 OEG erlitten hat.

Streitig ist lediglich die Frage, ob Versagungsgründe i.S.v. § 2 OEG vorliegen.

Nach § 2 Abs. 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.

Der Geschädigte hat die Schädigung i.S.v. § 2 Abs. 1 1. Alt. OEG verursacht, wenn sein Verhalten als wesentliche Bedingung für den Schadenseintritt anzusehen ist. Ob der Geschädigte den Angriff wesentlich, d.h. durch eine wenigstens gleichwertige Mitbedingung beeinflußt hat, ist durch eine objektive Abwägung der verschiedenen Teilursachen zu entscheiden. Bei der Frage, ob und inwieweit der Geschädigte ursächlich gehandelt hat, sind alle Umstände heranzuziehen, die objektiv tatfördernd gewirkt haben oder subjektiv tatfördernd gewirkt haben können. Das Setzen der wesentlichen Bedingung für die Schädigung muß schuldhaft erfolgt sein. Dies ist stets dann der Fall, wenn der Geschädigte Täter oder Teilnehmer an einer Straftat war oder wenn das Opfer in die Tat einwilligte. Das gleiche gilt dann, wenn der Geschädigte den Angriff schuldhaft herausgefordert hat oder wenn er das Opfer einer Schlägerei geworden ist, in die er nicht ohne eigenes Verschulden hineingezogen worden ist. Eine Verursachung des Angriffs liegt jedoch nur dann vor, wenn der Beitrag des Geschädigten eine mehr als lediglich untergeordnete Bedeutung hat (vgl. Urteil des BSG vom 24. April 1980 – Az.: 9 RVg 1/79 in BSGE 50, 95 ff.; Urteil des BSG vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89).

Ein Verhalten des Geschädigten ist weiter als gleichwertige Mitverursachung i.S.v. § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG zu beurteilen, wenn er sich bewußt, zumindest jedoch leichtfertig, selbst gefährdet hat bzw. bewußt oder leichtfertig ein hohes Risiko eingegangen ist (vgl. hierzu Urteile des BSG vom 3. Oktober 1984 – Az.: 9a RVg 6/83 in SozR 3800 § 2 OEG Nr. 5; vom 18. Oktober 1995 – Az.: 9 RVg 5/95 in BSGE 77, 18 ff.; Urteil vom 18. Juni 1996 – Az.: 9 RVg 7/94; Urteil vom 15. August 1996 – Az.: 9 RVg 6/94 jeweils m.w.N.). Eine solche bewußte und leichtfertige Selbstgefährdung schließt die Leistung nach dem OEG aus. Wer bewußt oder leichtfertig ein hohes Risiko eingeht, hat die Folgen selbst zu tragen (Urteil des BSG vom 18. Oktober 1995 a.a.O.).

Der Kläger hat die Tat bzw. die folgende Tat durch sein Verhalten weder wesentlich mitverursacht noch ist eine Entschädigung deswegen als unbillig anzusehen. Als "Tatbeitrag” des Klägers zu der nachfolgenden Auseinandersetzung mit dem Schädiger ist lediglich der Satz "Du mußt Dir mal einen anderen Friseur suchen” anzusehen. Weitere Handlungen des Klägers sind nicht erwiesen. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts Korbach wird es zwar für möglich erachtet, daß vor der Tat und vor der Bemerkung des Klägers evtl. eine verbale Auseinandersetzung oder eine – wahrscheinlich – unbeabsichtigte Anrempelei zwischen dem Kläger und dem Schädiger stattgefunden hat. Dies kann jedoch nach der Auswertung der Zeugenaussagen, die der Senat in das Verfahren eingeführt hat und die die Beteiligten gegen sich haben gelten lassen, nicht als im Sinne des Versorgungsrechts nachgewiesen angesehen werden. Es besteht nicht einmal ein hinreichender Grad der Wahrscheinlichkeit. Die Beweislast für eine derartige anspruchsvernichtende Einwendung trägt jedoch der Beklagte mit der Folge, daß die Folgen der Nichterweislichkeit zu seinen Lasten gehen.

Der Ausspruch des Klägers, der Schädiger möge sich einen anderen Friseur suchen, stellt jedoch keine wesentliche Ursache i.S.v. § 2 OEG dar. Diese Bemerkung erfüllt keinen Straftatbestand, auch nicht im Sinne einer Beleidigung, und ist als "lockerer Ausspruch” in einer Diskothek am fortgeschrittenen Abend anzusehen. Die Reaktion des Schädigers war hingegen brutal und völlig sozial inadäquat. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß nach den Feststellungen des Amtsgerichts Korbach die Handlung des Schädigers für den Kläger als völlig unerwartet beschrieben worden ist. Daher können die "Tatbeiträge” des Klägers und des Schädigers nicht als gleichwertig oder vergleichbar angesehen werden, Auch hat sich der Kläger nicht selbst in eine gefährliche Situation im Sinne einer Selbstgefährdung gegeben. Soweit der Beklagte vorträgt, es sei bekannt, daß die Gruppe der Skinheads als allgemein gewaltbereit gelte, führt dies nicht zu einem Leistungsausschluß. Es widerspricht der Rechtsordnung, wenn ein Bürger, der selbst keine, zumindest keine wesentliche, Ursache für eine Gewalttat gesetzt hat, nur deswegen keine Entschädigung für die Folgen der Gewalttat erhält, weil der Täterkreis als besonders gewaltbereit und wenig tolerant gilt. In einer solchen Konstellation kann auch nicht von einer mißbilligenswerten Selbstgefährdung ausgegangen werden.

Aus diesen Gründen ist es auch nicht unbillig, dem Kläger Entschädigung zu gewähren, zumal hier Gründe vorliegen müssen, die denjenigen der ersten Alternative von § 2 Abs. 1 OEG gleichwertig sein müssen (vgl. etwa Urteil des BSG vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, weil die Rechtssache nach § 160 Abs. 2 SGG grundsätzliche Bedeutung hat.
Rechtskraft
Aus
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