L 6 An 641/77

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 An 641/77
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Versäumung der am 31. Dezember ablaufenden Ausschlußfrist hat ein Antragsteller dann nicht zu vertreten, wenn der Versicherungsträger nicht alle möglichen und zumutbaren verwaltungsmäßigen Vorkehrungen trifft (z.B. durch Verwaltungsvereinbarungen mit der Post, Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes u.ä.), um den Zugang einer Postsendung bis zum Ablauf der Frist sicherzustellen.
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 6. Mai 1977 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat dem Kläger auch die im Berufungsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger die Versicherungspflicht als Selbständiger rechtzeitig beantragt hat.

Unter dem 27. Dezember 1974 beantragte der Kläger die Versicherungspflicht als selbständiger Erwerbstätiger nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG). Dieser Antrag ist laut Eingangsstempel am 2. Januar 1975 bei der Beklagten eingegangen.

Durch Bescheid vom 20. März 1975 lehnte die Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, ab 1. Januar 1975 sei die Versicherungspflicht innerhalb von zwei Jahren nach Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit zu beantragen. Da der Antrag erst am 2. Januar 1975 eingegangen sei, müsse er als verspätet abgelehnt werden.

Mit seinem Widerspruch vom 9. April 1975 machte der Kläger geltend, er habe seinen Antrag am 28. Dezember 1974 in einen Briefkasten geworfen. Demzufolge hätte der Antrag spätestens am 31. Dezember 1974, also fristgerecht bei der Beklagten, eingegangen sein müssen. Die Beklagte stellte demgegenüber fest, mit den Postämtern Berlin 77, 11, 31 und dem Fernamt sei vereinbart worden, daß die für sie bestimmten Postsendungen an 31. Dezember 1974 um 8.00 Uhr und 14.00 Uhr abgeholt würden. Diese Post sei mit dem Eingangsstempel vom 31. Dezember 1974 zu versehen gewesen. Der Kläger vertrat demgegenüber die Auffassung, die Beklagte habe keine geeigneten Vorkehrungen getroffen, um Postsendungen, die ohne die mit den Postämtern getroffenen Vereinbarungen möglicherweise am 31. Dezember 1974 noch zugestellt worden wären, auch tatsächlich mit dem Eingangsstempel dieses Tages zu versehen. Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1975 zurückgewiesen.

Mit seiner Klage trug der Kläger vor, er habe seinen Antrag am Samstag, dem 28. Dezember 1974 um 12.45 Uhr mittags zur Post gegeben. Der Brief sei von seinem Mitarbeiter W. in den Briefkasten K., T.straße, eingeworfen worden. Als nächste Leerung sei Samstag 15.00 Uhr auf dem Briefkasten angegeben gewesen, dann Sonntag 13.00 Uhr. Bei normaler Postlaufzeit hätte der Brief am Montag, dem 30. Dezember 1974, in Berlin in die Zustellung gelangen müssen. Wenn sich die Postbeförderung verzögert oder die Beklagte keine Vorkehrungen für eine rechtzeitige Zustellung getroffen habe, dürfe ihm hieraus kein Schaden erwachsen. Die Beklagte berief sich demgegenüber auf den angefochtenen Bescheid.

Durch Urteil vom 6. Mai 1977 hat das Sozialgericht Kassel der Klage stattgegeben mit der Begründung, der Kläger habe im vorliegenden Fall zwar eine Ausschlußfrist versäumt, doch sei dieser Mangel durch eine ungewöhnliche Verzögerung der Postzustellung als geheilt anzusehen. Nach Treu und Glauben könne sich die Beklagte nicht auf den verspäteten Eingang des Antrages berufen.

Gegen dieses der Beklagten am 6. Juni 1977 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 27. Juni 1977 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung, mit der sie sich gegen die Rechtsauffassung des Sozialgerichts wendet. Sie trägt vor, im vorliegenden Falle habe der Kläger eine Ausschlußfrist versäumt, die materiell-rechtlichen Inhalt habe und keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zulasse. Der Kläger trage nach § 130 BGB das Risiko eines verspäteten Eingangs seines Antrages. Die Beklagte habe nicht durch ihr Verhalten am Versäumen der Ausschlußfrist mitgewirkt.

Auf gerichtliche Anfrage teilte die Beklagte mit, nach 13.00 Uhr des 31. Dezember 1974 könnten weitere Sendungen allenfalls noch mit den planmäßigen Maschinen der Fluggesellschaften in Berlin eingetroffen sein. Diese seien an diesem Tag nicht mehr für die Auslieferung an die Empfänger postalisch aufbereitet worden. Es sei auch nicht mehr festzustellen, warum der Briefumschlag nicht aufgehoben worden sei. Briefumschläge von gewöhnlichen Sendungen würden aus Platzgründen grundsätzlich nur eine Woche aufbewahrt. Die am 2. Januar 1975 im Postfach vorhandenen Einschreibesendungen seien noch mit dem auf den 31. Dezember 1974 lautenden Eingangsstempel versehen worden.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 6. Mai 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 31. August 1978 war der Kläger trotz ordnungsmäßiger Ladung weder erschienen noch vertreten.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers im Termin entscheiden, da die Ladung einen entsprechenden Hinweis enthielt (§ 110 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist zulässig; sie ist an sich statthaft und in rechter Form und Frist eingelegt (§§ 143, 151 SGG).

In der Sache selbst erweist sich jedoch die Berufung als unbegründet.

Das angefochtene Urteil ist zu Recht ergangen. Der Kläger ist so zu stellen, als hätte er die Pflichtversicherung als selbständig Erwerbstätiger gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG fristgerecht bis zum 31. Dezember 1974 (Artikel 2 § 1 a AnVNG) bei der Beklagten gestellt. Dem steht nicht entgegen, daß dieser Antrag laut Eingangsstempel erst am 2. Januar 1975 bei der Beklagten eingegangen ist. Der verspätete Eingang des Antrages darf sich nicht zu Lasten des Klägers auswirken.

Nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG in Verbindung mit Artikel 2 § 1 a AnVNG war der Antrag auf Begründung der Versicherungspflicht spätestens bis zum 31. Dezember 1974 zu stellen. Maßgebend für die Fristwahrung ist – wie bei anderen Anträgen auch – nicht der Tag der Absendung, sondern der des Einganges bei der Beklagten. Hierbei handelt es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist, gegen deren Versäumung keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich ist (vgl. BSG vom 25. Oktober 1976 – 12/3 RK 50/75 –).

Das Risiko der Übermittlung eines im Postwege gestellten Antrages und damit der Postlaufzeiten trägt nach § 130 BGB grundsätzlich der Antragsteller, hier der Kläger. Dieser Grundsatz kann indessen nicht uneingeschränkt Geltung beanspruchen. Die Eigenart des vorliegenden Falles rechtfertigt eine andere Betrachtungsweise.

Wenn auch das Übermittlungsrisiko in aller Regel beim Antragsteller liegt, kann er damit nicht belastet werden, wenn der Empfänger eines Antrages (einer Postsendung) die Unmöglichkeit des rechtzeitigen Zugangs zu vertreten hat.

Nicht zu vertreten ist im allgemeinen die postalische Behandlung einer Sendung zumindest insoweit, als der Empfänger auf diese keinen Einfluß nehmen kann. Die – auch fehlerhafte – postalische Behandlung einer Sendung fällt in den Übermittlungsrisiko des Absenders (§ 130 BGB). Hierbei soll allerdings nicht verkannt werden, daß diese Risikoverteilung besonders bei Ausschlußfristen problematisch sein kann, weil der Absender in den meisten Fällen keine Möglichkeit haben wird, Fehler bei der Übermittlung durch die Bundespost zu verhindern.

Im vorliegenden Falle jedoch hat die Beklagte nicht alle möglichen und zumutbaren Vorkehrungen getroffen, um den rechtzeitigen Eingang aller an sie gerichteten Postsendungen bis zum Ablauf des 31. Dezember 1974 sicherzustellen. Im Hinblick auf die Übergangsvorschrift des Art. 2 § 1 a AnVNG mußte die Beklagte damit rechnen, daß wegen der Wichtigkeit des Fristablaufes für den Antrag auf Versicherungspflicht noch zahlreiche entsprechende Anträge bei ihr eingehen konnten. Wegen der Bedeutung dieses Termines bedurfte es besonderer Vorkehrungen in dieser Richtung. Dies umso mehr, als derartige, auf gesetzlichen Übergangsvorschriften beruhende Fristen mit derart weitreichenden Auswirkungen praktisch nur in Ausnahmefällen bestehen. Auf derartige Ausnahmefälle muß die Beklagte ihren Dienstbetrieb ausnahmsweise einrichten.

Dies kann durch entsprechende Verwaltungsvereinbarungen mit der Deutschen Bundespost geschehen. Tatsächlich hat die Beklagte auch eine Vereinbarung mit den zuständigen Postämtern über die Abholung von Postsendungen getroffen. Indessen reichte diese Vereinbarung nicht aus. Sie besagte nur, daß die am 31. Dezember 1974 bis 14.00 Uhr eintreffenden Postsendungen postalisch aufbereitet und von der Beklagten abgeholt werden sollten. Nicht berücksichtigt wurden dabei die Sendungen, die nach 14.00 Uhr noch mit den planmäßigen Maschinen der Fluggesellschaften in Berlin eingetroffen sind. Diese weiteren Sendungen hätten in die Vereinbarung mit einbezogen werden können, etwa dadurch, daß die Sendungen allgemein von den später (ab 1. Januar 1975) eingehenden Sendungen der Beklagten getrennt zugestellt werden. Wenn diese Zustellung auch erst am 2. Januar 1975 erfolgt wäre, so hätten sie doch mit dem Eingangsstempel des 31. Dezember 1974 versehen werden können. Damit wäre dem Umstand Rechnung getragen worden, daß sowohl die Deutsche Bundespost als auch die Beklagte früher Dienstschluß hatten, obwohl der 31. Dezember 1974 fristenrechtlich ein Werktag war, bei dem zumindest nach den Vorstellungen des Gesetzgebers der übliche werktägliche Dienstbetrieb vorauszusetzen war. Es ist nicht zu erkennen, daß die Beklagte Versuche unternommen hat, zu einer dahingehenden Vereinbarung mit der Post zu kommen. Andererseits ist es ohne weiteres möglich und sogar wahrscheinlich, daß der Antrag des Klägers noch am 31. Dezember 1974 nach 14.00 Uhr in Berlin eingetroffen ist und zumindest in der geschilderten Weise der Beklagten hätte zugänglich gemacht werden können. Vergleichbare Vorkehrungen für Einschreibebriefe reichen nicht aus. Die Beklagte mußte davon ausgehen, daß – wie hier – auch Anträge in einfachen Briefen gestellt werden und diese ebenso behandeln. Es ist nicht ersichtlich, daß dies der Beklagten nicht möglich oder zumutbar gewesen wäre.

Die Wahrscheinlichkeit des rechtzeitigen Zuganges im o.a. Sinne ergibt sich aus dem glaubhaften Vorbringen des Klägers, wonach der an die Beklagte gerichtete Brief am 28. Dezember 1974 um 12.45 Uhr mittags zur Post gegeben wurde. Nach den Leerungszeiten hätte der Briefkasten am gleichen Tage um 15.00 Uhr, spätestens aber am darauffolgenden Tag um 13.00 Uhr geleert werden müssen. Es ist davon auszugehen, daß der Briefkasten zu diesen Zeiten auch tatsächlich geleert wurde. Nach den Postlaufzeiten hätte der Brief am Montag, dem 30. Dezember, spätestens aber am Dienstag, dem 31. Dezember 1974 in Berlin eintreffen müssen. Die Beklagte hat es zu vertreten, wenn dieser Brief nicht am 31. Dezember 1974 bei ihr eingeht oder so behandelt wird, als sei er an diesem Tage eingegangen.

Der Senat ist auch deswegen auf die Angaben des Klägers angewiesen, weil die Beklagte nicht die erforderlichen Vorkehrungen getroffen hat, um diese Angaben zuverlässig nachprüfen zu können. Die Laufzeit des Briefes und damit die Angaben des Klägers hätten sich ohne weiteres aufgrund des Poststempels auf dem Briefumschlag nachprüfen lassen. Es war der Beklagten möglich und zuzumuten, den Umschlag für diese Zwecke aufzubewahren. Hinsichtlich der Aufbewahrungspflicht für Briefumschläge ist zwar zu berücksichtigen, daß bei der Beklagten täglich 70.000 Sendungen eingehen, deren Umschläge aus Platzgründen nur beschränkt aufbewahrt werden können. Hierbei sind jedoch die Sendungen außer Betracht zu lassen, die nicht fristgebunden sind oder bei denen die Frist offenbar gewahrt ist. Übrig bleiben die Sendungen, bei denen die Fristwahrung zumindest zweifelhaft ist. Dies kann nur ein kleiner Bruchteil der 70.000 Sendungen sein. Deswegen kann von der Beklagten erwartet werden, daß sie Umschläge erst wegwirft, wenn feststeht, daß eine Frist nicht zu wahren oder tatsächlich gewahrt ist. Die restlichen Umschläge (in den Fällen möglicher Fristversäumnis) können und sollen dann bei den Akten verbleiben. Diese Entscheidung kann durchaus in einer Woche getroffen werden. In dieser Weise verfährt auch das erkennende Gericht zur Prüfung und Feststellung des rechtzeitigen Einganges von Rechtsmitteln im Hinblick auf die Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Nach alldem hat die Beklagte den verspäteten Eingang des Antrages des Klägers zu vertreten. Sie kann sich deshalb nicht auf die Versäumung der Antragsfrist berufen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, weil die Rechtsfrage der rechtzeitigen Antragstellung von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Rechtskraft
Aus
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