L 22 B 632/07 R

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 97 R 5487/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 22 B 632/07 R
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. März 2007 (S 97 R 5487/06) wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten nach Erledigung einer Untätigkeitsklage in der Hauptsache um die Erstattung außergerichtlicher Kosten.

Auf den Antrag vom 23. März 2006 bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 08. Juni 2006 Rente wegen voller Erwerbsminderung. Gegen diesen Bescheid richtete sich der am 19. Juni 2006 eingegangene Widerspruch der Klägerin, mit dem sie geltend machte, die zu ermittelnden Entgeltpunkte seien mit dem unverminderten Zugangsfaktor 1,0 zu multiplizieren. In § 77 Abs. 2 Satz 3 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (SGB VI) sei ausdrücklich geregelt, dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht als Zeit einer "vorzeitigen Inanspruchnahme" gelte. Sinn und Zweck der Abschlagsregelung in § 77 Abs. 2 SGB VI sei ausschließlich ein – wegen der Rentenabschläge bei den Altersrenten – spekulativ unterstelltes Ausweichen der Versicherten in die Erwerbsminderungsrente zu verhindern. Ein solches Ausweichen komme aber erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres in Betracht. Die Klägerin, deren Rente gemäß § 43 SGB VI bereits am 1. September 2005 begonnen habe, sei erst 1954 geboren.

Mit Schreiben vom 6. Juli 2006 bestätigte die Beklagte den Eingang des Widerspruchs und wies darauf hin, dass das dem Widerspruch zugrunde liegende Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Mai 2006 (B 4 Ra 22/05 R) den Rentenversicherungsträgern noch nicht in schriftlich begründeter Form vorliege. Nach Auswertung der schriftlichen Begründung werde zur Sicherstellung einer einheitlichen Verfahrensweise aller Rentenversicherungsträger das Urteil in den zuständigen Gremien zu beraten sein. Bis zu diesem Zeitpunkt könnten inhaltliche Aussagen zu diesem Urteil nicht getroffen werden. Es werde deshalb um etwas Geduld gebeten, es werde unaufgefordert auf die Angelegenheit zurückgekommen, hierdurch würden keine Rechtsnachteile entstehen.

Mit Schreiben vom 20. September 2006 erinnerte der Bevollmächtigte der Klägerin "dringend an die Entscheidung über den Widerspruch vom 19. Juni 2006". Um kurzfristige Erledigung werde gebeten, Beratungen der Versicherungsträger stellten keinen zureichenden Grund im Sinne des § 88 Abs. 2 SGG dar.

Mit Schreiben vom 11. Oktober 2006 teilte die Beklagte dem Bevollmächtigten der Klägerin mit, dass eine Untätigkeit seitens der Widerspruchstelle im Hinblick auf das Schreiben vom 6. Juli 2006 nicht gesehen werde. Müsste gegenwärtig eine Entscheidung getroffen werden, könnte diese nur negativ ausfallen, so dass eine Klage vorprogrammiert wäre. Es dürfte auch im Interesse der Klägerin liegen, die Gerichte nicht mit unnötigen Klagen zu belasten und darüber hinaus auch der Klägerin unnötige Kosten für ein Klageverfahren zu ersparen. Es werde nochmals darauf hingewiesen, dass eine abschließende Stellungnahme zum BSG-Urteil noch nicht möglich sei. Hierzu teilte der Bevollmächtigte der Klägerin mit am 17. Oktober 2006 eingegangenem Schreiben folgendes mit:

"Die Ausführungen in Ihrem Schreiben vom 11. Oktober 2006 sind nicht überzeugend. Die Versicherte wird deshalb zu gegebener Zeit eine Untätigkeitsklage erheben".

Am 27. November 2006 hat die Klägerin beim Sozialgericht Berlin Klage erhoben mit dem Antrag zu erkennen:

1. Die Beklagte wird verurteilt, den Widerspruch der Klägerin vom 16. Juni 2006 zu verbescheiden. 2. Kostenentscheidung gemäß § 193 SGG

Seit Erhebung des Widerspruchs sei die 3-Monats-Frist des § 88 Abs. 2 SGG verstrichen, ohne dass eine Bescheiderteilung abzusehen sei. Es sei keine Zwischennachricht übersandt, aus der sich ein zureichender Grund für eine gerechtfertigte längere Bearbeitungszeit ergeben hätte. Den Rentenversicherungsträgern lägen die schriftlichen Urteilsgründe der Entscheidung des BSG vom 16. Mai 2006 seit dem 7. August 2006 vor. Nicht einmal das Abwarten auf einen Musterprozess oder eine verfassungsgerichtliche Entscheidung stelle einen wichtigen Grund für das faktische Nichtbetreiben des Verfahrens dar. Im Übrigen könne ein Kläger in der Regel nicht beurteilen, ob ein zureichender Grund für die Nichtentscheidung bestehe; er könne sich deshalb darauf beschränken vorzutragen, dass binnen der Sperrfrist ohne ersichtlichen Grund nicht entschieden sei. Die Klägerin habe deshalb bis zur Klageerhebung nach den ihr bekannten Umständen mit einer "Verbescheidung" rechnen können und dürfen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Dezember 2006 hat die Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen. Darauf hin erklärte die Klägerin mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2006 für in der Hauptsache erledigt und beantragt, Unter Berücksichtigung der beigefügten Liquidation gemäß § 193, 197 SGG über die Kosten zu entscheiden sowie den festgesetzten Betrag für verzinslich zu erklären.

Die Beklagte hält ihre Belastung mit außergerichtlichen Kosten der Klägerin nicht für gerechtfertigt.

Mit Beschluss vom 19. März 2007 (S 97 R 5487/06) hat das Sozialgericht entschieden:

Tenor:

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Bei der Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei insbesondere die Erfolgsaussicht der Klage sowie die Gründe für die Klageerhebung und die Erledigung des Verfahrens zu berücksichtigen. Der Billigkeit entspräche es regelmäßig, denjenigen mit der Erstattung der Kosten zu belasten, in dessen Sphäre der Grund für die Klageerhebung und die Erledigung falle.

Dass die Beklagte die Klage schuldhaft veranlasst hätte, könne nicht festgestellt werden. Zwar habe die Beklagte den im Wege einer Untätigkeitsklage erhobenen Anspruch auf Bescheidung des Widerspruchs mit Erteilung des Widerspruchbescheides anerkannt, auch träfe es zu, dass ein Kläger in der Regel nicht beurteilen könne, ob ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung bestehe. Aus Letzterem folge jedoch lediglich, dass das (tatsächliche) Vorliegen eines zureichenden Grundes keine Prozessvoraussetzung für die Untätigkeitsklage bilde. Hier habe jedoch für die Nichtentscheidung der Beklagten innerhalb der Frist des § 88 Abs. 2 SGG ein zureichender Grund vorgelegen mit der Folge, dass die Klageerhebung allein der Sphäre der Klägerin zuzurechnen sei. Bei der Beurteilung eines zureichenden Grundes komme es maßgeblich darauf an, ob der Betroffene durch die Untätigkeit in seinen Rechten auf Bescheidung verletzt worden sei. Wie die Beklagte gegenüber der Klägerin mit Schreiben vom 6. Juli 2006 und 11. Oktober 2006 zum Ausdruck gebracht hatte, hielt es die Beklagte zunächst für notwendig, zur Sicherstellung einer einheitlichen Verfahrensweise aller Rentenversicherungsträger das für die Bescheidung des Widerspruchs maßgebliche Urteil des Bundessozialgerichts in den zuständigen Gremien zu beraten. Dies sei auch, wie der Klägerin ebenfalls schriftlich mitgeteilt worden sei, aus prozessökonomischen Gründen angemessen und sachgerecht, um eine einheitliche Handhabung gegenüber den Versicherten sicher zu stellen und unnötige Klagen etwa aufgrund einer uneinheitlichen Verwaltungspraxis zu vermeiden. Angesichts der von der Beklagten wiederholt zum Ausdruck gebrachten vorübergehenden besonderen Belastung aufgrund des Urteils des BSG und der fehlenden Gefahr eines Rechtsverlustes komme dem Anerkenntnis für die zu treffende Kostenentscheidung nur ein geringes Gewicht zu, mit der Folge, dass es der Billigkeit entspreche, der Beklagten nicht die außergerichtlichen Kosten der Klägerin aufzubürden.

Gegen den dem Bevollmächtigten der Klägerin am 27. April 2007 zugestellten Beschluss richtet sich dessen am 30. April 2007 beim Sozialgericht eingegangene Beschwerde. Die Sperrfrist des § 88 Abs. 2 SGG sei bereits am 16. September 2006 abgelaufen gewesen. Unter dem 21. September 2006 und 16. Oktober 2006 habe die Klägerin dringend an die "Verbescheidung" erinnert und Untätigkeitsklage angedroht. Dennoch habe die Beklagte den geforderten Bescheid erst nach Klageerhebung am 19. Dezember 2006 erlassen.

Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat mit zutreffenden Erwägungen entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Erstattung ihrer außergerichtlichen Kosten in Bezug auf die Untätigkeitsklage hat. Der Senat weist die Beschwerde aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück und sieht insoweit von einer weiteren Begründung ab (142 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Im Übrigen verkennt die Klägerin, dass der "zureichende Grund" für die Verzögerung des Verfahrens im Sinne von § 88 SGG lediglich eine Zulässigkeitsvoraussetzung der Untätigkeitsklage darstellt. Nicht jede zulässig erhobene Klage hat aber zur Folge, dass die Beklagte auch deren Kosten zu tragen hat. Vielmehr richtet sich die Kostenentscheidung entsprechend § 193 SGG nach den vom Sozialgericht zutreffend dargelegten Gesichtspunkten und damit nicht allein nach dem Ergebnis des Rechtsstreits, insbesondere ob die Beklagte den Anspruch anerkannt hat oder nicht.

Wenn auch das (Nicht-)Vorliegen eines zureichenden Grundes im Hinblick auf die Untätigkeitsklage ein maßgeblicher Gesichtspunkt für die Kostenentscheidung sein kann, kommt jedoch hinzu, ob die Klägerin zum Zeitpunkt der Klageerhebung mit einer Entscheidung rechnen durfte (Meyer-Ladewig/Keller/Leiterer, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 8. Auflage § 193 RNr. 13c). Auch wenn der Bevollmächtigte der Klägerin dies nicht so sieht, ist objektiv ein zureichender Grund für die Verzögerung des Verfahrens gegeben, denn es ist unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung (Art. 3 GG) schlicht zwingend, bei einer neuen Rechtsprechung, die grundlegend in die bisherige Handhabung der Versicherungsträger eingreift, eine angemessene Zeit zur Verfügung zu stellen. Diese Notwendigkeit wurde dem Bevollmächtigten der Klägerin auch dargelegt, so dass ihr Vortrag, sie könne nicht beurteilen, ob ein zureichender Grund vorliege, nicht nachvollziehbar ist. In dieser Situation stellt sich das Verlangen nach einer sofortigen Widerspruchsentscheidung als unverständlich dar. Die Klägerin hat jedenfalls einen nachvollziehbaren Grund nicht dargelegt.

Wenn auch im Falle einer Rechtsänderung und darauf folgend höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht auf unabsehbare Zeit zugewartet werden darf, ist der Beklagten jedenfalls zuzugestehen, dass sie den Zugang der schriftlichen Entscheidungsgründe abwarten darf. Danach muss ihr in grundlegenden Fällen, wie dem Vorliegenden, eine angemessene Frist zur Beratung mit den übrigen Rentenversicherungsträgern zugestanden werden. Die Frist bis zur Erhebung der Untätigkeitsklage erscheint dem Senat insoweit nicht unangemessen.

Wie bereits erwähnt kommt es für die Kostenentscheidung nicht allein auf die Frage des zureichenden Grundes an, sondern auch darauf, ob dem Betroffenen die Gründe für die Verzögerung mitgeteilt worden sind. Dies hat die Beklagte in angemessener Form getan. Die Klägerin konnte dementsprechend bis zum Erhalt des Schreibens vom 11. Oktober 2006 nicht mit einem Widerspruchsbescheid rechnen. Wenn sie dann unter dem 16. Oktober 2006 mitgeteilt hat, sie werde zu "gegebener Zeit" eine Untätigkeitsklage erheben, war weder für die Beklagte, noch ist für den Senat erkennbar, wann sie die Zeit für gegeben hielt. Für die Beklagte konnte daraus ersichtlich werden, dass die Klägerin bereit sei, noch zuzuwarten, der Beklagten also" Zeit zu geben". Es hätte an der Klägerin gelegen, insoweit eine konkrete (angemessene) Frist zu benennen. Ohne Benennung einer entsprechenden Frist durfte die Klägerin nach einem Monat – am 27. November – noch nicht mit der Entscheidung des Widerspruchs rechnen.

Im Hinblick darauf, dass die Beschwerde nicht erfolgreich war, steht der Klägerin selbst bei analoger Anwendung von § 193 SGG für das Beschwerdeverfahren jedenfalls kein Kostenerstattungsanspruch zu. Zudem hat der Senat im Beschluss vom 20. Mai 1999 (damals noch 2. Senat des LSG für das Land Brandenburg – L 2 B 4/99 R), in einem Verfahren, in dem der jetzige Prozessbevollmächtigte der Klägerin ebenfalls Prozessbevollmächtigter war, ausführlich begründet, dass eine analoge Anwendung von § 193 SGG für Fälle der auch hier vorliegenden Art nicht in Betracht kommt.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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