L 9 U 3733/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 1576/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 3733/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 20. Mai 2005 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Verletztenrente für den Zeitraum nach Ablauf der 78. Woche nach dem 13. Februar 2001 bis zum 31. Januar 2004 zu gewähren ist.

Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung einer Berufskrankheit beim verstorbenen Ehemann der Klägerin und die Gewährung von Verletztenrente und Hinterbliebenenleistungen.

Der 1944 geborene und am 6. Januar 2004 verstorbene Versicherte war der Ehemann der Klägerin. Er erlernte vom 1. April 1959 bis zum 28. April 1962 bei Fa. W. in V. das Malerhandwerk und arbeitete sodann - unterbrochen von dem von Januar 1965 bis Juni 1966 dauernden Wehrdienst und kürzeren Zeiten der Arbeitslosigkeit - bei verschiedenen Firmen in seinem Beruf, zuletzt bei der Fa. R. in U ...

Im Februar 2001 wurde beim Versicherten ein Harnröhrenkarzinom festgestellt. Arbeitsunfähigkeit trat zum 13. Februar 2001 ein. Nachdem die Beklagte aufgrund der Anzeige einer Berufskrankheit durch die AOK S.-H. vom 13. Juli 2001 ein Feststellungsverfahren eingeleitet hatte, teilte der behandelnde Hausarzt Dr. H. unter dem 31. Juli 2001 mit, er datiere den Beginn der Erkrankung auf März 1999, da zu diesem Zeitpunkt erstmals anhaltende Schmerzen beim Wasserlassen dokumentiert worden seien. Da der Versicherte als Maler lösemittel- und farbstoffexponiert gewesen sei, sei anzunehmen, dass eine Berufskrankheit Nr. 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) vorliege.

Nach Beiziehung umfangreicher medizinischer Behandlungsunterlagen wurde der Versicherte vom Technischen Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten am 29. August 2001 zu seiner beruflichen Belastung telefonisch befragt. Ausweislich der vom Technischen Aufsichtsbeamten (TAB) Dipl.-Ing S. daraufhin gefertigten Niederschrift vom 5. September 2001 war der Versicherte als Auszubildender und nachfolgend bis zum 18. Januar 1963 bei der Fa. W. zu je 30 % mit Tapezierarbeiten und dem Verstreichen von Ölfarben an Türen, Fenstern, Heizkörpern etc. beschäftigt, zu ca. 20 % mit dem Verstreichen von Leim-Kreide-Farben an Innenwänden und Decken und zu ca. je 10 % mit Gerüstarbeiten und Verstreichen von Kalkfarben an Fassaden. Auch die Tätigkeiten bei den nachfolgenden Arbeitgebern bis 2001 wurden erfragt und aufgelistet. Sodann heißt es, der Versicherte habe bei seiner Arbeit mit verschiedenen Stoffen/Produkten, nämlich 1k-Silikatfarben, 2k-Silikatfarben, Leimfarben, Dispersionsfarben z.b. von S., Alkydharzlackfarben (Kunstharzlacken) der Firmen L. und G., Nitrol-Lack-Verdünnung, Grundanstrich von S., Abbeizer "W. H.", terpentinhaltigen und terpentinfreien Ölfarben, Kalkfarbe, Naturharzfarben, Leinölfirnis, Gips Leinöl und Leimfarbe Kontakt gehabt. Jeweilige Sicherheitsdatenblätter mit den Erscheinungsjahren 2001 waren beigefügt. Der Versicherte sei ausführlich zum Umgang mit Azofarbstoffen befragt worden. Er habe den Umgang mit Holzbeizern, -pasten, bzw. mit im Mörser oder in der Mühle zu zerkleinernden azzo-haltigen Granulaten verneint. Ein Umgang /Kontakt mit aromatischen Aminen habe daher beim Versicherten in der Zeit vom 1. April 1959 bis zum 12. Februar 2001 nicht festgestellt werden können.

Der Staatliche Gewerbarzt Dr. H. schlug daraufhin eine BK gemäß Nr. 1301 der BKV nicht zur Anerkennung vor, weil die haftungsbegründende Kausalität nicht wahrscheinlich gemacht worden sei. Nach den Ermittlungen des TAD habe ein beruflicher Kontakt mit aromatischen Aminen nicht stattgefunden.

Mit an den Versicherten gerichtetem Bescheid vom 26. November 2001 lehnte die Beklagte die Anerkennung seiner Harnblasenkarzinomerkrankung als Berufskrankheit ab. Im Widerspruchsverfahren machte der Versicherte mit Hilfe eines Schreibens seines behandelnden Arztes Dr. H. unter Hinweis auf die Veröffentlichung von N. und W. "Beruflich verursachte Tumoren" geltend, in den ersten Jahren seiner Berufsausübung seien Spritzlackierarbeiten und pulvrige Farbzumischungen zur Anwendung gekommen. Die genaue Bezeichnung der Stoffe sei ihm nach der langen Zeit nicht mehr erinnerlich. Darüber hinaus sei oftmals reichlich Schleifstaub dieser Farben inhaliert worden. Bei den Betriebsinhabern der Fa. W., bei der er von 1959 bis 1997 gearbeitet habe, könnten Erkundigungen eingeholt werden.

Der daraufhin befragte TAB Schweizer äußerte unter dem 7. Februar 2002, die Crux bestehe darin, dass sich der Versicherte nicht an einige verarbeitete Produkte oder Stoffe erinnern könne. Der TAD könne nicht etwas beurteilen, was der Versicherte nicht nenne. Der Versicherte sei zum Vollbeweis verpflichtet und nicht der TAD.

Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 2002 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nachdem sich der Versicherte nicht an die Namen der Produkte erinnern könne, könne der TAD nicht beurteilen, ob diese aromatische Amine enthalten hätten. Selbst wenn die Fa W., wo der Versicherte vom 1. April 1959 bis 18. Januar 1963 als Auszubildender und Maler beschäftig gewesen sei, Arbeitsstoffe verwendet habe, in denen aromatische Amine enthalten gewesen seien, heiße dies nicht, dass der Versicherte mit diesen auch gearbeitet habe. Es fehle am Beweis einer gesundheitsgefährdenden Exposition, was zu Lasten des Versicherten gehe.

Hiergegen erhob der Versicherte am 1. Juli 2002 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG). Nachdem das SG darauf hingewiesen hatte, dass es die Befragung des Versicherten allein nicht für ausreichend erachte und auch Anfragen an den Arbeitgeber zu richten seien, veranlasste die Beklagte weitere Ermittlungen.

Der TAB S. suchte den Versicherten am 18. Februar 2003 persönlich auf und fertigte über die ca. dreistündige Befragung eine Niederschrift vom 4. März 2003. Danach gab der Versicherte an, bei der Fa. W. vom 1. April 1959 bis zum 18. Januar 1963 zu ca. 30% seiner Arbeitszeit Schleifarbeiten von Hand (ca. 40%) und mit der Maschine (ca. 60 % ) an Holzoberflächen, z.B. Türen, Fenstern Fensterläden bzw. an Metall z.B. an Geländern teilweise in Räumen und teilweise im Freien durchgeführt zu haben, zu 5 % der Arbeitszeit seien überwiegend in Räumen Grundierungen aus Leinöl, Terpentin, Sikkativ, Zinkweiss bzw. Lithoponeweiss angemischt und zu 25 % der Arbeitszeit diese Grundierung auf Fenster Türen usw. aufgetragen worden. Zu ca. 10% seien alte Kalk-Leim-Farben mit Spachteln abgekratzt bzw. mit Wasser abgewaschen worden. Leim-Kreide-Farben seien zu ca. 10 % der Arbeitszeit verstrichen worden, zu jeweils 5% seien angefallen Tapezierarbeiten, das Auf- und Abbauen von Gerüsten, das Verstreichen von Kalkfarben an Fassaden und das Verstreichen von Ölfarben an Türen, Fenstern und Heizkörpern. Diese Angaben seien von dem 83-jährigen ehemaligen Betriebsinhaber E. W., soweit er sich erinnert habe, bestätigt worden. Trotz intensivster Recherchen habe kein Kontakt des Versicherten mit A.-Farbstoffen z.B. beim Mahlen von Granulaten im Mörser bzw. der Mühle oder beim Verarbeiten von Holzbeizen an Möbeln ermittelt werden können.

Der Versicherte ließ dem SG eine von ihm gefertigte Gesprächsnotiz über die Befragung durch den TAB S. vom 4. April 2003 vorlegen. Er habe sich von dem TAB in massiver und äußerst unseriöser Weise bedrängt gefühlt. Dieser habe seine wahrheitsgemäße Erklärung, dass er sich weder an prozentuale Anteile seiner Arbeit noch an die Materialien und Stoffe zu Beginn seiner beruflichen Tätigkeit erinnern könne, ignoriert und ihn und seinen über 80-jährigen Lehrmeister bedrängt, Angaben in Prozenten zu machen und diese zu bestätigen.

Das SG beauftragte daraufhin Prof. Dr. W. mit der Erstattung eines Gutachtens. Dem Sachverständigen gegenüber gab der Versicherte an, zu Beginn seiner Lehre habe er, da es damals noch keine fertig konfektionierten Farben gegeben habe, die entsprechenden Arbeitsstoffe selbst herstellen, also anrühren müssen. Die Farben seien seiner Erinnerung nach auf Kalk-Leimbasis angerührt worden. In einem Wasserbottich habe eine gewisse Menge Kalk "eingesumpft" werden müssen. Die entsprechende Farbe sei in pulverisierter Form dazugegeben worden. Die Farbpulver seien in Gebinden von 2 bis 5 Kilo verwendet worden. Er habe nach dem Abmessen mit dem Messbecher die Farbe mit der Hand in das Wasser eingerührt. Diese selbst hergestellten Farben seien direkt an der Baustelle bzw. im Haus vorbereitet worden. Des weiteren habe alte Farbe abgeschliffen und teilweise auch abgewaschen werden müssen. Hierfür seien die entsprechenden Teile wie Fenster- oder Türrahmen mit dem Lappen eingeweicht und dann mit einer Bürste oder einem groben Pinsel abgewischt worden. Dabei seien weder Handschuhe noch eine Atemmaske getragen worden. Heizkörper und Türen seien mit einer Spritzpistole lackiert worden. Zuvor hätten die Türen jedoch von alten Farbaufträgen mittels Schleifmaschine oder von Hand mit Schleifpapier befreit werden müssen. Auch für den Fensteranstrich seien die Farben selbst angemischt worden. Schon während der Ausbildungszeit und in den folgenden Jahren seien dann auch fertig konfektionierte Farben für Anstriche verwendet worden. Häufiger Arbeitsort seien zu sanierende alte Gebäude in der Altstadt von Schwäbisch Hall gewesen, wo immer wieder, auch in späteren Jahren, alter Farbaufstrich von Fenstern, Türen und Wänden habe abgenommen werden müssen.

Prof. Dr. W. gelangte zu dem Ergebnis, das mittelgradig differenzierte, infiltrierend wachsende papilläre Urothelkarzinom - mit Zustand nach radikaler Zystektomie mit Urethrektomie und Lymphknotendissektion, Anlage eines Ileum conduits, eingetretener Metastasierung in das Rektum und Zustand nach Anlage eines Anus Praeter, derzeit noch durchgeführter Chemotherapie, laboranalytisch nachzuweisender Anämie und geringfügiger Leberfunktionsstörung unter Chemotherapie und ausgeprägtem Lymphödem des linken Beines - sei ursächlich auf die berufliche Tätigkeit des Versicherten als Maler vorwiegend während der Ausbildung bei der Fa. W. in V. zurückzuführen. Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Versicherte in typischer Weise Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre durch das Selbstanrühren von Farben und auch in den folgenden Jahren durch das Ablösen von alten Anstrichen bioverfügbaren A.-Farbstoffen exponiert gewesen sei. Es sei mittlerweile unstrittig, dass für Wandanstriche anorganische Pigmente, für bestimmte Farbtönungen (besonders gelb und orange) auch A.-Pigmente auf der Basis von 3,3-Dichlorbenzidin verwendet worden seien. Lösliche A.-Farbstoffe mit der unumstrittenen biologischen Verfügbarkeit seien regelhaft für Holzbeizen und Holzlasuren insbesondere bei der Bearbeitung von Holzfenstern und -türen verwendet worden. Das Selbstansetzen von Malerfarben sei zum Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre durch gebrauchsfertige industrielle Produkte ersetzt worden. Insbesondere für wasserlösliche A.-Farbstoffe sei davon auszugehen, dass sie im Organismus zu kanzerogenen aromatischen Aminen metabolisiert würden. Als konkurrierende Einwirkung aus dem Privatbereich sei für die Entstehung eines Harnblasenkarzinoms in erster Linie ein Nikotinkonsum zu nennen. Der Versicherte sei aber Nieraucher gewesen. In mehreren epidemiologischen Studien sei ein erhöhtes Risiko langjährig als Maler Beschäftigter an einem Blasenkarzinom zu erkranken dargestellt worden. Mit dem Datum der histopathologischen Diagnose des Urothelkarzinoms liege eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE ) von 100 v.H. vor.

Nach dem Tode des Versicherten am 6. Januar 2004 stellte die Klägerin Antrag auf Hinterbliebenenleistungen, den die Beklagte mit Bescheid vom 18. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Juni 2004 ablehnte. Die dagegen am 20. Juli 2004 erhobene Klage verband das SG durch Beschluss vom 27. Januar 2005 unter dem Aktenzeichen S 6 U 1576/02 zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung.

Durch Urteil vom 20. Mai 2005 hob das SG die angefochtenen Bescheide auf und verurteilte die Beklagte, das Urothelkarzinom als Berufskrankheit der Nummer 1301 der Anlage zur BKV anzuerkennen und hierfür ab 14. Februar 2001 bis 31. Januar 2004 Verletztenrente in Höhe der Vollrente und der Klägerin ab 6. Januar 2004 Hinterbliebenenrente und Sterbegeld zu gewähren. In den Entscheidungsgründen, auf die im Übrigen Bezug genommen wird, führte es aus, es bestehe nach dem vorliegenden Gutachten und unter Berücksichtigung aller Umstände kein vernünftiger Zweifel daran, dass der Versicherte während seiner Tätigkeit für die Firma W. in V. in den Jahren 1959 bis 1962 beim Anrühren von Farben, beim Ausbringen dieser Farben sowie beim Entfernen von alten Farben mit dem Schleifpapier von Hand oder mit der Maschine ohne Atemschutz einer Exposition mit wasserlöslichen A.-Farbstoffen auf der Basis krebserzeugender aromatischer Amine ausgesetzt gewesen sei. Die gegenteilige Auffassung des TAB stehe dem nicht entgegen, da er sich mit der Frage, welchen Expositionen der Versicherte bei den einzelnen Arbeitsschritten, insbesondere auch bei Schleifarbeiten ausgesetzt gewesen sei, nicht auseinandergesetzt habe.

Gegen das ihr am 16. August 2005 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7. September 2005 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, der Vollbeweis, dass der Versicherte eine im Hinblick auf die BK Nr. 1301 der Anlage zur BKV schädigende berufliche Tätigkeit verrichtet habe, sei nicht erbracht. Die ausführliche Anhörung des Versicherten und seines früheren Arbeitgebers durch den TAB habe einen Umgang mit A.-Farbstoffen und damit einen Kontakt mit aromatischen Aminen nicht belegt. Die Ansicht des Sachverständigen, damals müsse ein Umgang mit A.-farbstoffen erfolgt sein, sei eine Spekulation, die den erforderlichen Vollbeweis nicht erbringe. Da die Beweismöglichkeiten erschöpft seien, liege ein objektiv beweisloser Tatbestand vor, dessen Folgen nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast, von demjenigen, der aus der feststellungsbedürftigen Tatsache ein Recht herleiten wolle, hier also von der Klägerin, zu tragen sei. Ihre Ansprüche seien daher unbegründet.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 20. Mai 2005 aufzuheben und die Klagen abzuweisen, hilfsweise Verletztenrente nach Ablauf der 78. Woche nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zu gewähren, weiter hilfsweise die Revision zuzulassen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise eine unabhängige arbeitstechnische Expertise zur Frage der Exposition des verstorbenen Versicherten gegenüber aromatischen Aminen durch Dr. G. einzuholen.

Sie hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, dass der Lehrherr des Versicherten, Herr E. W., inzwischen in einem Pflegeheim betreut werde und nicht mehr vernehmungsfähig sei.

Der Senat hat eine schriftliche Auskunft des Malermeisters E. S., der ebenfalls von 1959 bis 1962 seine Lehrzeit absolvierte, zur Frage eingeholt, ob und in welchem Umfang das Anrühren von Farben zum Ausbildungsinhalt gehörten. Malermeister S. teilte unter Vorlage von Kopien aus dem Fachbuch zur Berufsausbildung "Mit Pinsel und Farbe" mit, dass in Pulverform nur Weißpigmente angerührt worden seien. Der Begriff A.-Farbstoffe sei ihm in diesem Wort nicht bekannt. Dies seien bestimmt Ausgangs-Buntpigmente, zu denen in seinem Lehrbetrieb Lehrlinge kaum oder keinen Zugang gehabt hätten.

Die Klägerin hat das Fachbuch "Mit Pinsel und Farbe", welches ihr Ehemann während seiner Lehrzeit benutzt hatte, zu den Akten vorgelegt, aus welchem sich ergibt, dass die Trockenfarben als solche und ihr Anrühren und Vermischen wesentlicher Ausbildungsinhalt waren. In der in dem Buch enthaltenen Werkstoffübersicht werden auch A.-Farbstoffe aufgeführt, welche ihrerseits mit keinen besonderen Warnhinweisen versehen sind.

Die Beklagte hat hierzu unter Vorlage einer Stellungnahme des TAB S. ausgeführt, es sei unstreitig, dass A.-Farbstoffe mit kanzerogener Aminkomponente Ende der 50-er und Anfang der 60-Jahre verwendet worden seien. Doch lägen weiterhin keine Angaben darüber vor, inwieweit der Versicherte mit diesen Substanzen Kontakt gehabt habe. Der Versicherte selbst habe die Fragen zu typischen Gefährdungen (A.-Farbstoffe in Holzbeizen und Holzpasten, Zerkleinerung von A.-pigmenthaltigem Granulat in Mörsern oder Mühlen) bei den ausführlichen Befragungen verneint. Es seien auch keine Zeugen zum Umgang des Versicherten mit A.-Farbstoffen benannt worden.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die Akten des SG Heilbronn ( S 6 U 1576/02 und S 6 U 2188/04) und die Senatsakte.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig, sie ist jedoch sachlich weitgehend nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts, durch welches die ablehnenden Bescheide der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt wurde, das Urothelkarzinom, an dem der Versicherte erkrankt war und an dem er gestorben ist, als Berufskrankheit der Nr. 1301 der Anlage zu BKV anzuerkennen und Verletztenrente nach einer MdE um 100 vH für die Zeit vom 14. Februar 2001 bis zum 31. Januar 2004 und der Klägerin sodann Hinterbliebenenrente und Sterbegeld zu gewähren, war mit der Maßgabe zu bestätigen, dass die Verletztenrente im Hinblick auf § 72 Abs.1 Nr. 1 i.V.m. § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 SGB VII für den Zeitraum ab Ablauf der 78. Woche nach dem 13. Februar 2001, dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, bis zum 31. Januar 2004 zu gewähren ist.

Unstreitig wurde der Versicherte am 14. Februar 2001 wegen eines histologisch gesicherten infiltrierend wachsenden Urothelkarzinoms des Blasenhalses und der prostatischen Harnröhre operiert und weiterbehandelt. Damit steht fest, dass er an einer Erkrankung im Sinne des Berufskrankheitentatbestandes der Nr. 1301 der Anlage zur BKV (Krebs der Harnwege ) litt.

Ebenso wie die Krankheit selbst müssen auch die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen, im vorliegenden Fall solche durch aromatische Amine, im Sinne eines "Vollbeweises" bewiesen werden, das heißt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unter Ausschluss vernünftiger Zweifel feststehen, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreicht. Die Anforderungen an den Nachweis dürfen dabei nicht überspannt werden, sondern müssen auch dem Umstand Rechnung tragen, dass Sachverhalte in der Lebenswirklichkeit häufig nicht mit absoluter Sicherheit ermittelt werden können. So können die Eigentümlichkeiten eines Sachverhalts in besonders gelagerten Einzelfällen Anlass sein, an den Beweis verminderte Anforderungen zu stellen (vgl. BSG Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 25/03 R - Juris.doc). Dies gilt auch für Fälle einer unzureichenden Beweiserhebung durch denjenigen, welchem die Unerweislichkeit der Tatsachen zum prozessualen Vorteil gereicht (BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 11). Von diesen Ausnahmen abgesehen sind nach den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung typische Beweisschwierigkeiten, die sich, wie im vorliegenden Fall, bei der Aufklärung viele Jahre zurückliegender Sachverhalte gerade im Hinblick auf Einzelheiten von Arbeitsvorgängen ergeben, im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung zu berücksichtigen (vgl. BSG Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 25/03 R - Juris.doc).

Hiervon ausgehend sieht auch der Senat, wie das SG und entgegen der Auffassung der Beklagten, die im Tatbestand der BK Nr. 1301 geforderte berufsbedingte Einwirkung von aromatischen Aminen während der Lehrzeit des Versicherten bei der Fa. W. vom 1. April 1959 bis zum 28. April 1962 und der daran anschließenden Tätigkeit als Geselle bis zum 18. Januar 1963 als nachgewiesen an.

Für den Senat steht fest, dass während des genannten Zeitraums (April 1959 bis Januar 1963) in Malerwerkstätten A.-Farbstoffe mit kanzerogenen Aminkomponenten (Benzidin) verwendet wurden. Dies wird nicht nur von der Beklagten in der zuletzt vorgelegten Stellungnahme des TAB S. vom 23. Juni 2006 bestätigt, sondern lässt sich auch aus dem vom Versicherten während seiner Lehrzeit benutzten Fachbuch "Mit Pinsel und Farbe" entnehmen (z.B. die auf Seite 32 und 34 i.V.m. Seite 161 aufgeführten Trockenfarbstoffe Hansagelb und Signalrot), wobei auffällt, dass die Farbstoffe in dem Ausbildungsfachbuch mit keinen besonderen Warnhinweisen versehen wurden. Dass seinerzeit die Gefährlichkeit der auf der Basis von Benzidin hergestellten Farbstoffe noch nicht in ausreichendem Masse erkannt wurde, ergibt sich für den Senat nicht nur aus der Tatsache, dass der Auskunftsperson S. der Begriff A.-Farbstoffe nicht geläufig war, sondern vor allem auch daraus, dass A.-Farbstoffe, die in kanzerogene aromatische Amine reduktiv gespalten werden können, erstmals in der MAK-Werte-Liste 1988 im Abschnitt III (krebserzeugende Arbeitsstoffe), also weit über 20 Jahre nach der Lehrzeit des Versicherten erwähnt wurden (vgl. Klaus Golka und Hermann M. Bolt:"Zur früheren Exposition von Malern gegenüber A.farbmitteln", erschienen in "Arbeitsphysiologie heute, Band 4 (2002) Themenband "Toxikologie", herausgegeben von H.M.Bolt, B. Griefahn, H.Heuer , Institut für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund, Seite 83).

Des weiteren steht für den Senat aufgrund der Angaben des Versicherten und der Auskunftsperson S. fest, dass der Versicherte während des genannten Zeitraums als Lehrling und Geselle damit befasst war, selber Farben anzurühren. Diese Angaben werden bestätigt durch das von dem Versicherten und der Auskunftsperson Stegmaier während ihrer Lehrzeit benutzte Fachbuch zur Berufsausbildung "Mit Pinsel und Farbe", in welchem die Trockenfarben (Zusammensetzung, Herstellung, Eigenschaften, Prüfung und Lagerung) und die Zubereitung von Farben (Leimfarben, Kalkfarben und Emulsionsfarben) einen breiten Raum einnehmen. Auch Golka und Bolt erwähnen aaO S. 84, dass bis in die 50er Jahre Malerfarben von Malern, häufig von Lehrlingen, selbst hergestellt wurden. Damit war der Versicherte beim Mischen den Farbstäuben ausgesetzt. Unstreitig war der Versicherte darüber hinaus als Lehrling und auch später mit dem Abschleifen von alten Farbaufträgen an Türen und Fenstern in renovierungsbedürftigen Häusern beschäftigt und damit auch diesen Stäuben ausgesetzt.

Somit steht für den Senat fest, dass der Versicherte sowohl bei der Zubereitung von Farben als auch beim Abschleifen bzw. Entfernen von alten Farbaufträgen auch den Einwirkungen von seinerzeit gebräuchlichen A.-Farbstoffen durch Inhalieren und durch Anlagerung auf der Haut ausgesetzt war. Es kann der Klägerin angesichts der nachgewiesenen generellen Verwendung von A.-Farbstoffen in Malerwerkstätten im damaligen Zeitraum nicht zum Nachteil gereichen, dass sich der Versicherte bei den Befragungen durch den TAB S. und auch durch den Sachverständigen Prof. Dr. W. nicht mehr konkret an die Produkte erinnern konnte, mit denen er während des genannten Zeitraums zu tun hatte. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Gefährlichkeit dieser Produkte damals nicht hinreichend erkannt worden war.

Somit steht fest, dass der Versicherte die von G. e. a. dem Aufsatz "Expression der N-Acetyltransferase 2 bei Malern mit Harnblasenkarzinom: Aktuelle Situation" (AaO S. 89 ff.) zusammengefassten charakteristischen Expositionsbedingungen für an Harnblasenkarzinomen erkrankten Malern erfüllte (aaO S. 93). Er begann mit der Tätigkeit als Maler früh in seinem Leben (mit 14 ½ Jahren), die relevanten Expositionen gegen die A.-Farbstoffe fanden Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre statt, er war regelmäßig gegen den Staub von Farbbestandteilen exponiert, indem er bei der Farbherstellung Pulverfarbstoffe beimischte und/oder alte Farbe mechanisch entfernte und es gab mangels entsprechender Schutzmaßnahmen intensiven Hautkontakt mit den Stäuben. Letzteres erhellen auch die Abbildungen in dem Lehrbuch "Mit Pinsel und Farbe", auf denen etwa bei der Zubereitung von Farben von Hand (S. 44) oder auch bei anderen Tätigkeiten (z.B. Umfüllen von Trockenfarbstoffen in Behälter - S. 8) keine Schutzvorrichtungen erkennbar sind.

Die Tatsache, dass der TAB bei der Befragung der Versicherten keine Exposition gegenüber A.-Farbstoffen eruieren konnte, steht dem gewonnenen Beweisergebnis nicht entgegen. Aus den Niederschriften ergibt sich, dass der Versicherte im wesentlichen dazu gefragt wurde, ob er mit Holzbeizern, -pasten bzw. mit im Mörser zu zerkleinernden a.-haltigen Granulaten umgegangen war, was vom Versicherten verneint wurde. Es kann aus der Sicht des Senats schon nicht ausgeschlossen werden, dass dem Versicherten, ähnlich wie der Auskunftsperson S., der Begriff des A.-Farbstoffes gar nicht geläufig war. Vor allem aber hat sich der TAD nicht hinreichend damit auseinandergesetzt, dass der Versicherte seinerzeit bei der Abnahme von alten Farbaufträgen auf Holz durch mechanische Mittel Farbstäuben exponiert war, in denen aufgrund des seinerzeitigen Einsatzes von A.farbstoffen in Holzbeizen, Klarlacken, Lasuren und Transparentlacken diese Stoffe enthalten waren (vgl hierzu Golka/Bolt aaO S. 85). Dies hat auch das SG zutreffend beanstandet.

Schließlich sind auch Umfang und Dauer der Exposition ausreichend. Benzidin ist ein gesichertes Humankanzerogen (Stoff der Kategorie 1 gemäß DFG 2002 - vgl. Schönberger-Mehrtens-Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, S. 1149) mit den ableitenden Harnwegen als Zielorgan, für welches schon keine Grenzwerte (MAK-Werte) angegeben werden können, bei deren Einhaltung Erkrankungen nicht zu befürchten sind (Schönberger-Mehrtens-Valentin aaO S. 1148). Der Senat entnimmt der Veröffentlichung von Golka et al. (aaO S.90 und 93/94), dass trotz der im Vergleich zur klassischen Exposition im Bereich der Benzidinherstellung bzw. -verarbeitung geringeren Exposition der Maler gegenüber aromatischen Aminen aus den in früheren Jahrzehnten verwendeten A.farbstoffen für diese beim Vorliegen individueller Risikofaktoren ein erhöhtes Harnblasenkrebsrisiko besteht. Damit in Übereinstimmung stehen auch die Feststellungen des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 18.11.2004, Breithaupt 2005, 740-743), wonach die von ihm herangezogenen Sachverständigen keine unschädliche Untergrenze für aromatische Amine im Rahmen der BK Nr. 1301 nennen konnten. In diesen Zusammenhang weist Prof. Dr. W. überzeugend darauf hin, dass es immer wieder plausibel ist, dass Personen, die über eine gewisse Enzymausstattung verfügen, bei gleicher toxikologischer Exposition die entsprechende Krankheit nicht entwickeln, andere sie hingegen haben. Insoweit kann die auf Veröffentlichungen aus den Jahren 1992 und 1993 gestützte Bemerkung von Schönberger- Mehrtens-Valentin aaO S. 1202, die epidemiologischen Hinweise, dass berufliche Exposition gegenüber aus Benzidin aufgebauten A.-Farbmitteln die Inzidenz von Blasenkarzinomen erhöhen könne, bedürften noch der wissenschaftlichen Bestätigung, als überholt gelten.

Das SG ist daher zutreffend zu dem Ergebnis gelang, dass die Krankheit, an der der Versicherte litt und an der er gestorben ist, eine Berufskrankheit der Nr. 1301 der Anlage zur BKV war und dass der Klägerin als Rechtsnachfolgerin des Versicherten bis zum Tod des Versicherten Verletztenrente in Höhe der Vollrente und danach Hinterbliebenenleistungen in Form von Sterbegeld und Hinterbliebenenrente zustehen. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen. Lediglich der Beginn der Verletztenrente war zu korrigieren. Die Berufung der Beklagten war mit der genannten Maßgabe zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, denn die Entscheidung des Senats beruht auf einer Würdigung der Umstände des vorliegenden Einzelfalles.
Rechtskraft
Aus
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