L 9 U 4098/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 24/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 4098/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 10. August 2005 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Rückforderung von Verletztenrente für die Zeit vom 1. Juni 1985 bis 31. Mai 2003 in Höhe von 50.617,83 Euro.

Der 1945 geborene türkische Kläger erlitt am 7. September 1983 einen Arbeitsunfall, als er die Finger 2 und 3 der rechten Hand in eine Kreissäge brachte. Nachdem dem Kläger durch Bescheid vom 10. April 1984 wegen der Unfallfolgen zunächst nur eine Verletztenrente für den bereits abgelaufenen Zeitraum vom 20. November 1983 bis 31.März 1984 gewährt worden war, half die Beklagte dem daraufhin eingelegten Widerspruch ab und gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 26. Juli 1984 wegen der Unfallfolgen:

Absetzung des rechten Zeigefingers im körpernahen Endgliedbereich und des rechten Mittelfingers in Mittelgliedmitte mit Narben und Überempfindlichkeit an den Fingerstümpfen, unvollständiger Faustschluss rechts, allgemein verminderte Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand mit Einschränkung der Geschicklichkeit sowie glaubhafte subjektive Beschwerden nach einem offenen Bruch des Mittelfingerglieds und einem unfallbedingten Teilverlust der Zeigefingerkuppe sowie vorübergehend aufgetretenen Blutumlaufstörungen

über den 31. März 1984 hinaus eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v.H.

Im Rentengutachten vom 21. März 1985 (Untersuchung des Klägers am 19. März 1985) gelangten Dr. F./Dr. L. zu dem Ergebnis, dass die MdE noch mit 10 v.H. einzuschätzen sei.

Im anschließenden Anhörungsverfahren zeigte der Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 3. April 1985 die -erneute- Vertretung des Klägers an und wandte sich gegen die beabsichtigte Rentenentziehung. Mit weiterem Schriftsatz vom 19. April 1985 bat er, ein weiteres Gutachten einzuholen und um Akteneinsicht.

Mit Bescheid vom 25. April 1985 entzog die Beklagte die Rente mit Ablauf des Monats Mai 1985. Der Bescheid wurde dem Bevollmächtigten des Klägers am 26. April 1985 mit Postzustellungsurkunde und dem Kläger direkt als Durchschrift zugesandt. Unter dem 29. April 1985 übersandte die Beklagte dem Bevollmächtigten eine Ablichtung des Gutachtens Dr. F./Dr. L., das am 3. Mai 1985 vom Bevollmächtigten zurückgesandt wurde.

In der Folgezeit wurde die Rente weitergewährt.

Der Kläger erhielt per Briefdrucksache Rentenanpassungsmitteilungen vom 20. Juni 1985 für die Zeit ab 1. Juli 1985, vom 20. Juni 1986 für die Zeit ab 1. Juli 1986, vom 22. Juni 1987 für die Zeit ab 1. Juli 1987, vom 24. Juni 1988 für die Zeit ab 1. Juli 1988, vom 23. Juni 1989 für die Zeit ab 1. Juli 1989, vom 23. Juni 1989 für die Zeit ab 1. Juli 1989, vom 22. Juni 1990 für die Zeit ab 1. Juli 1990, vom 21. Juni 1991 für die Zeit ab 1. Juli 1991 und vom 22. Juni 1992 für die Zeit ab 1. Juli 1992. Letztere erreichte den Kläger wegen eines Wohnsitzwechsel nicht. Die Beklagte ermittelte die neue Anschrift durch Anfrage beim Bürgermeisteramt und sandte die Rentenanpassungsmitteilung 1992 am 14. Juli 1992 erneut an den Kläger ab. Ferner wurde der Kläger unter dem 11. März 1991 gebeten, auf einem Formblatt die Angaben zu seinem Bankkonto von seiner Bank bestätigen zu lassen. Die Erklärung ging am 18. März 1991 wieder bei der Beklagten ein und wurde mit Bearbeitungsvermerk am 21. März 1991 zu den Akten gelegt.

Durch eine Anfrage des Versorgungsamts U. vom 28. April 2003 wurde die Beklagte auf die weitere Rentenzahlung aufmerksam. Sie stellte sie zum Ablauf des Monats Mai 2003 ein und hörte den Kläger mit Schreiben vom 21. Mai 2003 zu der beabsichtigten Rückforderung der Rentenzahlungen für die Zeit vom 1. Juni 1985 bis zum 31. Mai 2003 in Höhe von 50.617,83 Euro an. Der Kläger ließ über seinen Bevollmächtigten erklären, er habe den Entziehungsbescheid seinerzeit nicht erhalten. Er habe nicht gewusst, dass die Rente ohne Rechtsgrundlage gezahlt worden sei. Er habe fortlaufend Rentenanpassungsmitteilungen erhalten und habe darauf vertraut, dass die Rente mit Rechtsgrund gezahlt worden sei.

Mit Bescheid vom 31. Juli 2003 teilte die Beklagte dem Kläger mit, er sei verpflichtet die überzahlten Rentenbeträge zurückzuzahlen. Zur Begründung führte sie aus, der Entziehungsbescheid vom 25. April 1985 sei den damaligen Bevollmächtigten nachweislich zugestellt worden. Widerspruch sei nicht eingelegt worden. Der Kläger habe daher Kenntnis vom Vorliegen des Entziehungsbescheides gehabt. Angesichts dieser Kenntnis sei das Verschulden der Beklagten, die selbst hätte erkennen müssen, dass die Rente fälschlicherweise weitergezahlt worden sei, nicht erheblich. Dem öffentlichen Interesse der Versichertengemeinschaft auf die Herstellung eines gesetzmäßigen Zustandes sei Vorrang einzuräumen. Daher sei der gezahlte Betrag zurückzuzahlen. Wirtschaftliche Verhältnisse, die der Rückzahlung entgegenstünden, seien nicht vorgebracht worden.

Hiergegen legte der Kläger am 8. August 2003 Widerspruch ein und trug vor, er sei davon ausgegangen, dass der Entziehungsbescheid aufgehoben worden sei, nachdem die Rente 18 Jahre tatsächlich lang weiterbezahlt worden sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Dezember 2003 wies die Beklagte den Widerspruch mit derselben Begründung wie im Ausgangsbescheid zurück

Hiergegen erhob der Kläger am 7. Januar 2004 Klage zum Sozialgericht Ulm (SG). Zur Begründung führte er aus, er habe, unabhängig davon, ob er den Entziehungsbescheid vom 25. April 1985 erhalten habe, aus den jährlichen Änderungsbescheiden entnommen, dass ihm die Rente auf jeden Fall zugestanden habe. Er sei Türke und der deutschen Sprache nur unzureichend mächtig. Er beziehe mit seinen 58 Jahren Arbeitslosenhilfe. Er sei auch nicht mehr bereichert, da er die Rentenzahlungen für seinen Lebensunterhalt verbraucht habe.

Die Beklagte trat der Klage entgegen. Die Rentenanpassungsmitteilungen könnten nach den gesamten Umständen des Einzelfalles nicht als Wiederbewilligung der Rente verstanden werden.

Durch Urteil vom 10. August 2005 hob das SG den Bescheid vom 31. Juli 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Dezember 2003 auf. Zur Begründung führte es aus, es bestünden erhebliche Zweifel, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Rückforderung erfüllt seien, jedenfalls aber habe die Beklagte das ihr zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Zwar stehe fest, dass die Verletztenrente im streitigen Zeitraum zu Unrecht gezahlt worden sei, da eine rentenberechtigende MdE auf Grund des Unfalls vom 7. September 1983 ab dem 1. Mai 1985 nicht mehr erreicht werde. Der Entziehungsbescheid vom 25. April 1985 sei dem Bevollmächtigten auch zugegangen und damit wirksam geworden.

Es bleibe dahingestellt, ob die Rentenanpassungsmitteilungen als bewilligende Verwaltungsakte zu qualifizieren seien. Es bestünden in Anbetracht des Verhaltens der Beklagten auch erhebliche Zweifel, ob der Kläger bei jeder Rentenzahlung deren Rechtswidrigkeit positiv kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Dies könne jedoch dahinstehen, da die Beklagte ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe. Bei einer Rücknahme oder Rückforderungsentscheidung seien alle Billigkeitsgesichtspunkte, die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen, das Maß der Unredlichkeit des Begünstigten und das Verschulden an der fehlerhaften Entscheidung der Behörde zu berücksichtigen. Vorliegend habe die Beklagte die Überzahlung der Rente allein verschuldet. Der Kläger habe weder ihm obliegende Mitteilungspflichten verletzt, noch habe er in Bezug auf die Rentenleistungen unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht und damit das fehlerhafte Verwaltungshandeln verursacht oder mitverursacht. Daher sei die Beklagte verpflichtet gewesen, den Rückforderungsbetrag zumindest erheblich zu begrenzen. Die Ermessensentscheidung habe sie auch nicht bis zum Ende der mündlichen Verhandlung nachgeholt.

Gegen das ihr am 7. September 2005 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 6. Oktober 2005 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung vorgetragen, bei Bösgläubigkeit habe eine Rückforderung im Sinne einer Ermessensschrumpfung auf Null ohne Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung zu erfolgen. Sie berufe sich insoweit auf die Urteile des Bundessozialgerichts vom 25. Januar 1994 (SozR 3-1300 § 50 Nr. 16) und vom 23. März 1999 (SozR 3-1300 § 31 Nr 13). Damit habe sich das SG nicht auseinandergesetzt. Die Frage des Erlasses o.ä. sei dem Vollstreckungsverfahren vorbehalten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 10. August 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sämtliche Ermessens- und Vertrauensschutzerwägungen müssten zu seinen Gunsten ausfallen, da er nichts dazu beigetragen habe, dass die Rente weitergezahlt wurde. Für die Weiterzahlung der Rente über 18 Jahre hinweg sei angesichts des Wissens- und Bildungsgefälles zwischen der Beklagten und ihm nur das Eigenverschulden der Beklagten erheblich.

Die Beklagte hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, dass aus Effizienzgründen seit dem Jahr 1993 keine Rentenanpassungsmitteilungen mehr versandt würden. Statt dessen würden die Versicherten zu den jeweiligen Anpassungsterminen auf dem Überweisungsträger über die Anpassung unterrichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Verwaltungsakten der Beklagten, die Akten des SG und die Senatsakten.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist jedoch sachlich nicht begründet.

Das SG hat in dem angefochtenen Urteil zu Recht entschieden, dass der Bescheid vom 31. Juli 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Dezember 2003 keinen Bestand haben kann, weil die Beklagte bei seinem Erlass das ihr zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat.

Rechtsgrundlage für das Erstattungsbegehren der Beklagten ist § 50 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Danach sind Leistungen zu erstatten, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind. §§ 45 und 48 SGB X gelten entsprechend.

Hier ist § 45 SGB X entsprechend anzuwenden, denn die Zahlungen erfolgten ab 1. Juni 1985 ohne Verwaltungsakt zu Unrecht, nachdem die Verletztenrente mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 25. April 1985 mit Ablauf des Monats Mai 1985 entzogen worden war.

Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nach Absatz 2 nicht zurückgenommen werden, wenn der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (Satz 1). Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Satz 2). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nach Absatz 2 Satz 3 Nr. 3 nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Masse verletzt hat. In den Fällen des Absatzes 3 Satz 2 wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen (Absatz 4 Satz1). Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts für die Vergangenheit rechtfertigen (Abs. 4 Satz 2). Infolge der entsprechenden Anwendung des § 45 im Rahmen des § 50 Abs. 2 SGB X ist an der Stelle der Prüfung, ob der Begünstigte die Rechtswidirigkeit des Verwaltungsaktes i.S.d. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte, zu prüfen, ob er wusste oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht wusste, dass ihm die gewährte Leistung nicht zustand.

Grobe Fahrlässigkeit liegt dann vor, wenn die Sorgfaltspflicht in außergewöhnlichem Masse verletzt worden ist, wenn also außer Acht gelassen wurde, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Die Rechtswidrigkeit der Leistung muss sich für den Begünstigten ohne weitere Nachforschung ergeben und es muss sich ihm anhand der Umstände und ganz nahe liegender Überlegungen einleuchten und auffallen, dass die Leistung rechtswidrig erbracht wurde.

Da § 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X bei ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbrachten Leistungen durch die entsprechende Anwendung der §§ 45 und 48 SGB X denselben Vertrauensschutz gewährleisten will, wie ihn diese Vorschriften für die Aufhebung von Verwaltungsakten normieren, muss bei der Beurteilung der Frage, ob der Leistungsempfänger infolge grober Fahrlässigkeit nicht wusste, dass ihm die gezahlten Leistungen nicht zustehen, auf den Zeitpunkt des Zahlungseingangs beim Empfänger abgestellt werden.

Nach dem im Jahre 1985 geltenden § 619 Abs 1 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) waren die Renten im voraus in Monatsbeträgen zu zahlen. Die vorschüssige Zahlungsweise galt im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung auch nach Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches Siebtes Buch SGB VII bis zur Änderung des § 96 Abs 1 Satz 1 SGB VII mit Wirkung zum 1. April 2004 fort (vgl. die Übergangsvorschrift des § 218 c SGB VII).

Hieraus folgt, dass die letzte rechtmäßige Rentenzahlung für Mai 1985 zum 30. April 1985 ausbezahlt worden war. Nachdem innerhalb der vom 27. April bis 26. Mai 1985 laufenden Widerspruchsfrist vom Bevollmächtigten das an ihn am 29. April übersandte Gutachten ohne weitere Ausführungen an die Beklagte zurückgegeben worden war, spricht nach Aktenlage viel dafür, dass nach einer Besprechung mit dem Kläger auf die Einlegung eines Widerspruchs verzichtet wurde. Ein solcher ist auch nirgends aktenkundig und seine Einlegung konnte auch von dem Bevollmächtigten nicht unter Beweis gestellt werden.

Unter diesen Voraussetzungen hätte der Kläger, der sich sowohl bei der Einlegung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 10. April 1984 als auch bei der Anhörung im April 1985 seines Bevollmächtigen bediente, auch ohne weitere Nachforschungen erkennen können, dass ihm der Ende Mai 1985 für den Monat Juni 1985 ausgezahlte Rentenbetrag nicht zustand.

Allerdings kann dies für die nachfolgenden Zahlungen ab Ende Juni 1985 nicht mehr gelten. Dem Kläger war zu diesem Zeitpunkt bereits die erste der bis zum Jahr 1992 jährlich von der Beklagten selbst versandten Rentenanpassungsmitteilungen zugegangen. Diese datierte vom 20. Juni 1985 und ist (wie alle folgenden Mitteilungen) unter dem Betreff: Rentenanpassung in ihrem Eingangssatz wie folgt formuliert: "Sehr geehrter Rentenempfänger! Die Ihnen zustehende Geldleistung wird ab 1.7.1985 wie folgt berechnet:" Im Unterschied zu dem dem Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung zugehörenden Fall, der dem von der Beklagten angezogenen Urteil vom 23. März 1999 (SozR 3-1300 § 31 Nr. 13) zugrunde lag und in dem der Betroffene selbst rentenschädliche Bezüge angegeben und Überzahlungen zunächst zurück erstattet hatte und in der von der Deutschen Bundespost übersandten Anpassungsmitteilung lediglich von einer Überprüfung der Höhe der Leistung die Rede ist, konnte dieser Text von dem rechtlich unerfahrenen und zu diesem Zeitpunkt nach Aktenlage nicht mehr rechtlich beratenen türkischen Kläger durchaus dahingehend verstanden werden, dass ihm die Rentenzahlung nunmehr wieder "zustehe". Auch wenn man diese von der Beklagten selbst erstellten und versandten Rentenanpassungmitteilungen nicht als Rechtsgrund für die weiteren Rentenzahlungen ansehen kann, so sind sie doch für das Maß der Bösgläubigkeit des Klägers im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X von Bedeutung. Grobe Fahrlässigkeit, die voraussetzt, dass der Begünstigte bei der In-empfangnahme der Zahlung die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, kann dem Kläger in Bezug auf die ab Ende Juni 1985 erfolgten Zahlungen nicht mehr vorgeworfen werden. Hinzu kommt die Kontoanfrage der Beklagten vom 11. März 1991, die die Vorstellung des Klägers, ihm stehe die Rentenzahlung zu, zusätzlich bekräftigte.

Unter diesen Umständen war eine umfassende Ermessensausübung durch die Beklagte geboten. Dies leitet sich aus dem Wortlaut des § 45 Abs. 1 SGB X ab, wonach ein rechtwidriger begünstigender Verwaltungsakt unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden "darf" (vgl BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 10 m.w.N.; Steinwedel in Kasseler Kommentar § 45 SGB X Rnr. 50 ff) Bei der Ermessensausübung sind über die Gesichtspunkte, die bei der Abwägung der Schutzwürdigkeit des Vertrauens eine Rolle gespielt haben, hinaus auch alle weiteren wesentlichen Umstände zu würdigen. Hierzu zählen neben den wirtschaftlichen Folgen u.a. das Verschulden an dem fehlerhaften Verhalten der Beklagten und das Maß der Unredlichkeit des Begünstigten (Steinwedel aaO Rnr. 54).

Der Fall einer Ermessensreduzierung auf Null ist nach den dargestellten Umständen des Einzelfalles vorliegend nicht gegeben. Die Ermessensreduzierung auf Null stellt einen seltenen Ausnahmefall dar. Sie setzt voraus, dass es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, dass Umstände vorliegen, die eine anderweitige - den Betroffenen ganz oder teilweise begünstigende - Ermessensentscheidung rechtsfehlerfrei zuließen. Dies ist nach der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur in der Regel nicht der Fall (vgl. Von Wulffen/Wiesner, SGB X, 4. Auflage 2001 § 45 Rdnr. 5 m.w.N). In den von der Beklagten angezogenen Urteilen des 4. Senats (SozR 3-1300 § 50 Nr. 16 und SozR 3-1300 § 31 Nr. 13) wird zwar die Ermessenschrumpfung auf Null, die bei Bösgläubigkeit des Begünstigten im Sinne eines betrügerischen Verhaltens angenommen werden kann (vgl BSG SozR 3-4100 § 155 Nr.2) ausgedehnt und postuliert, dass bei Bösgläubigkeit i.S.d. § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nur in Ausnahmefällen von einer Rückforderung abgesehen werden könne. Dies kann aber allenfalls dann gelten, wenn Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit in Bezug auf das Wissen, dass die Leistung ohne Rechtsgrund gewährt wird, fortwährend weiter besteht. Dies war aber im vorliegenden Fall über einen Zeitraum von 18 Jahren, wie bereits ausgeführt, nicht gegeben.

Die damit gebotene Ermessensausübung der Beklagten war unzureichend. Insoweit wird, um Wiederholungen zu vermeiden, auf die zutreffenden Ausführungen auf Seite 9 und 10 des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Die Berufung der Beklagten konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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