L 1 SB 6043/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SB 151/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 SB 6043/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 20. Oktober 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf rückwirkende Feststellung eines Grads der Behinderung (GdB) von 50 ab 10.09.1998 unter Aufhebung bestandskräftiger Feststellungsbescheide hat.

Bei dem 1950 geborenen Kläger stellte das Versorgungsamt H. mit Bescheid vom 07.09.1998 wegen einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung erstmals einen GdB von 30 fest. Dieser Entscheidung lag der versorgungsärztlich ausgewerteter Arztbrief der lungenärztlichen Gemeinschaft Praxis Dr. W. und Dr. K. vom 26.11.1997 zu Grunde. Darin ist ein erfreulicher postoperativer Verlauf nach der am 21.10.1997 durchgeführten operativen Abtragung von bullösem (blasenbildendem) Gewebe der Lunge angegeben mit Lungenfunktionswerten von 75 bis 121 Prozent der Soll-Werte ohne Gasaustauschstörung. Mit seinem hiergegen erhobenen Widerspruch legte der Kläger das für die S. M.-genossenschaft erstattete Gutachten von Dr. B. vom 30.07.1998 vor, in dem eine berufsbedingte Atemwegserkrankung verneint worden war. Bei seiner Untersuchung des Klägers am 22.07.1998 hatte Dr. B. als Lungenfunktionswerte die VC (Vitalkapazität) mit 99% des Soll-Wertes, FEV1(forced expiratory volume= forciert ausgeatmetes Gasvolumen 1 Sekunde nach maximaler Einatmung, so genannte Einsekundenkapazität) mit 63% des Soll-Wertes, nach Medikamentation mit 71 Prozent des Soll-Wertes erhoben und hierauf seine Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v.H. gestützt. In ihrer versorgungsärztlichen Auswertung vom 26.10.1998 hielt Dr. E. an dem gegebenen GdB 30 fest, denn zwischen den von Dr. B. mitgeteilten Funktionswerten und seiner MdE-Schätzung von 60 v.H. bestehe eine Diskrepanz. Eine dauernd eingeschränkte Lungefunktion mit bis zu einem Drittel niedrigeren Werten gegenüber dem Soll sei mit dem GdB von 30 zutreffend berücksichtigt. Mit Widerspruchsbescheid vom 19.01.1999 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Im Rahmen des am 02.12.2003 gestellten Neufeststellungsantrags holte das Versorgungsamt den Befundschein von Dr. B. vom 16.12.2003 ein, dem seine Arztbriefe von 15.03., 18.05. und 02.12.2003 beigefügt waren. Darin waren durchgehend Lungenfunktionswerte über 80 Prozent der Sollwerte angegeben, mit Ausnahme im Arztbrief vom 15.03.2003, in dem allein der FEV1-Wert mit 65% des Soll-Wertes angegeben war. Die Diffusionskapazität betrug 66 Prozent des Sollwertes und die Blutgaswerte lagen im Normbereich. Dr. B. hatte eine Belastungshypoxämie (erniedrigter Sauerstoffpartialdruck im Blut) diagnostiziert. Mit Bescheid vom 08.03. 2004 wurde wegen einer chronischen Bronchitis und Lungenblähung ein GdB von 40 ab 02.12.2003 festgestellt. Auf Widerspruch des Klägers wurde ein weiterer Befundschein von Dr. B. vom 31.03.2004 eingeholt und nach versorgungsärztlicher Auswertung (Stellungnahme von Vertragsärztin Dr. M. vom 05.05. 2004) wies das beklagte Land den Widerspruch des Klägers zurück (Widerspruchsbescheid von 06.05. 2004).

Am 15.06.2004 beantragte der Kläger erneut die Neufeststellung. Vorgelegt wurde der Arztbrief von Dr. B. vom 15.06.2004, in dem die Diffusionskapazität (Maß für die Gasaustauschfähigkeit der Lunge hinsichtlich eines spez. Atemgases) mit 57% bei respiratorischer Partialinsuffizienz angegeben worden war. Mit Bescheid vom 21.07.2004 wurde die Neufeststellung abgelehnt. Auf Widerspruch des Klägers wurde nach versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 28.10.2004, wonach die Lungenfunktion eindeutig um 2/3 eingeschränkt sei und die Diffusionskapazität nur die Hälfte des Sollwertes erreiche, mit Abhilfebescheid vom 08.11.2004 ein GdB von 50 ab 15.06.2004 und mit gesondertem Bescheid gleichen Datums das Merkzeichen "G" festgestellt.

Am 11.10.2005 beantragte der Kläger die rückwirkende Feststellung eines GdB 50 ab 10.09. 1998 unter Bezugnahme auf den Bescheid der S. M.-genossenschaft vom 10.09.1998, mit dem die Feststellung einer Berufskrankheit abgelehnt worden, in dem aber in den Gründen unter Bezugnahme auf das Gutachten von Dr. B. vom 30.07.1998 ein Lungenemphysem mit funktioneller mittelgradiger Obstruktion anerkannt worden sei. Mit Bescheid vom 21.11.2005 lehnte das Landratsamt L. - Versorgungsangelegenheiten - die Erteilung eines Rücknahmebescheids nach § 44 Sozialgesetzbuch (SGB) X ab. Neue rechtserhebliche Tatsachen oder Gesichtspunkte seien nicht vorgebracht worden.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 21.12.2005 zurückgewiesen wurde. Die Vierjahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X sei eine Ausschlussfrist, hinsichtlich deren Anwendung der Verwaltungsbehörde kein Ermessen zustehe. Eine Rückwirkung sei danach längstens bis zum 1.1.2001 möglich. Unabhängig davon seien auch die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht gegeben. Bis zum 14.06.2004 habe sich ein GdB von 50 für die Funktionsbeeinträchtigungen auf lungenärztlichem Gebiet aus den vorgelegten Arztbriefen nicht entnehmen lassen. Anderweitige Funktionsbeeinträchtigungen seien nach dem Akteninhalt nicht festzustellen.

Der Kläger hat am 12.01.2006 beim Sozialgericht Heilbronn Klage erhoben und den - aktenkundigen - Entlassungsbericht der Kliniken L. vom 17.11.1997 über seine stationäre Behandlung von 06.10. bis 07.11.1997 vorgelegt. Der Beklagte hat auf die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. W. vom 31.03.2006 verwiesen, wonach sich aus den im ärztlichen Befundbericht vom 02.12.2003 mitgeteilten Lungenfunktionswerten auf keinen Fall ein GdB 50 ergebe und die Verschlimmerung zu einem GdB 50 erst nach Dezember 2003 eingetreten sein könne.

Mit Gerichtsbescheid vom 20.10.2006 hat das Sozialgericht Heilbronn die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die rückwirkende Abänderung eines bestandskräftigen Bescheids stehe vorliegend im Ermessen des Beklagten nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X. Es fehle jedoch bereits an der Rechtswidrigkeit der angegriffenen Bescheide. Beim Kläger bestehe seit Ende der 90er Jahre eine Lungenerkrankung in Form eines Lungenemphysems. Diese Erkrankung sei erst ab 15.06.2004 mit einem GdB von 50 zu bewerten, denn aus den medizinischen Unterlagen ergebe sich eindeutig, dass vor diesem Zeitpunkt nur eine Belastungsdyspnoe bei mittelschwerer Tätigkeit ohne Gasaustauschstörung vorgelegen habe.

Gegen den ihm am 02.11.2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 27.11.2006 Berufung eingelegt und zur Begründung ausgeführt, er habe bereits im Jahre 1997 unter einer ausgeprägten Belastungsatemnot gelitten. Im Gutachten von Dr. B. vom 30.07.1998 sei die Diagnose eines Lungenemphysems beidseitig und einer chronischen Bronchitis sowie die Notwendigkeit einer jährlichen pneumologischen Überwachung angeführt. Bisher sei von den Versorgungsärzten des Beklagten allein auf die Frage der Lungenfunktion abgestellt worden, ohne auf die klinische Symptomatik einzugehen. Bereits zum Zeitpunkt der Gutachtenserstattung durch Dr. B. habe er beklagt, bereits bei alltäglichen Belastungen über das gewöhnliche Maß hinaus unter Atemnot zu leiden. Allein deshalb müsse für die Lungenfunktion ein Teil-GdB zwischen 50 und 70 zuerkannt werden. Außerdem komme noch die von Dr. B. gestellte Diagnosen einer Varikosis (Krampfaderleiden) und der Verdacht auf Cephalosporin- (Gruppe von Breitband-Antibiotika) Allergie hinzu.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 20.10.2006 und den Bescheid des Beklagten vom 21.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 21.12.2005 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den GdB von 50 rückwirkend ab 10.09.1998 festzustellen und insoweit die Bescheide des Beklagten vom 07.09.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.01.1999, vom 08.03.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.05.2004, vom 21.07.2004 in der Gestalt des Abhilfebescheids vom 08.11.2004 abzuändern.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er macht geltend, unabhängig davon, dass die begehrte Rückwirkung auf Grund des am 11.10.2005 eingegangenen Antrags auf Erteilung eines Rücknahmebescheids sich längstens bis 01.01.2001 erstrecken könne, liege auch vor dem 15.06.2004 keine funktionelle Beeinträchtigung vor, die einen GdB von 50 rechtfertige. Insoweit werde auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid verwiesen. Soweit im Berufungsverfahren auf die im Gutachten von Dr. B. vom 30.07.1998 angegebenen Einschränkungen Bezug genommen werde, lasse sich diesem unter Hinweis auf die vorgelegte versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. W. vom 10.07.2007 eine Leistungseinschränkung bereits bei alltäglicher leichter Belastung nicht entnehmen. Danach sei bei der ergometrischen Belastung noch keine Einschränkung bereits auf der 50-Watt-Stufe erfolgt. Aus dem beigefügten Beiratsprotokoll vom 18./19.11.1996 sei ersichtlich, dass zur Beurteilung einer Lungenfunktionseinschränkung auch die Ergebnisse des Belastungs-EKGs zur Objektivierung der klinischen Symptomatik in kritischer Würdigung herangezogen werden könnten.

Im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 22.06.2007 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden, dass Ermittlungen von Amts wegen nicht beabsichtigt sind. Dem Kläger ist ein Schriftsatzrecht von zwei Wochen eingeräumt worden, um eine angekündigte Stellungnahme von Dr. B. vorzulegen.

Der Senat hat die Verwaltungsakte des Beklagten und die Akte des Sozialgerichts Heilbronn beigezogen. Auf diese Unterlagen und auf die im Berufungsverfahren angefallene Akte des Senats wird im Übrigen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gem. §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf rückwirkende Feststellung eines GdB 50 ab 10.09.1998. Der seinen Rücknahmeantrag ablehnende Bescheid des Beklagten vom 21.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 21.12.2005 ist rechtmäßig.

Rechtsgrundlage für den begehrten Rücknahmebescheid ist § 44 SGB X. Nach dieser Vorschrift ist ein nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen wurde, der sich als unrichtig erweist. Im Rahmen einer Entscheidung nach § 44 SGB X gelten dabei die allgemeinen Verfahrens- und Beweislastregeln (vgl. BSGE 45, 1, 10; BSG SozR 3870 § 2 BKGG Nr. 44; Urteil des BSG vom 01.03.1989 - 2 RU 42/88 -).

Vorliegend bedarf es keiner Entscheidung, ob Abs. 1 oder Abs. 2 der genannten Vorschrift auf den die Schwerbehinderteneigenschaft oder einen anderen Grad der Behinderung feststellenden Verwaltungsakt anwendbar ist. Soweit das Sozialgericht unter Berufung auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 29.05.1991 (SozR 3-1300 § 44 Nr. 3) die für Verwaltungsakte, auf Grund derer Sozialleistungen zu erbringen sind, geltende Spezialregelung des Abs. 1 nicht für anwendbar erachtet, könnte fraglich sein, ob mit der Integration des Schwerbehindertenrechts in das Neunte Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) diese Rechtsprechung noch aktuell ist. Sozialleistungen i. S. von § 11 SGB I sind die in diesem Gesetzbuch, d. h. dem Sozialgesetzbuch, vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen, wozu die Feststellung der Behinderteneigenschaft als Voraussetzung für Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe der behinderten Menschen nach SGB IX gehören könnte. Ob daher ein nicht begünstigender rechtswidriger Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zwingend nach Abs. 1 oder grundsätzlich nur mit Wirkung für die Zukunft und allenfalls im Rahmen einer Ermessensentscheidung auch mit Wirkung für die Vergangenheit nach Abs. 2 der Vorschrift des § 44 SGB X aufzuheben ist, kann letztlich offen bleiben. Es bedarf deshalb auch keiner Entscheidung, ob der Beklagte in Verkennung der Anwendbarkeit von § 44 Abs. 2 SGB X eine Ermessenunterschreitung begangen hat, weil er kein Ermessen für die zeitliche Erstreckung der Rückwirkung ausgeübt hat, sondern sich an die für die Spezialregelung nach Absatz 1 geltende Vierjahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X gebunden erachtete.

Denn jedenfalls liegt die für beide Regelungen nach Abs. 1 und Abs. 2 zur Rücknahme erforderliche Voraussetzung nicht vor, dass ein im geltend gemachten Umfang rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt ergangen ist.

Ebenso wie das Sozialgericht geht auch der Senat davon aus, dass die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers zum geltend gemachten Zeitpunkt nicht vorlag und der bestandskräftig gewordene Bescheid vom 07.09.1998 insoweit nicht rechtswidrig war.

Die Feststellung des GdB ist eine rechtliche Wertung von Tatsachen, die mit Hilfe von medizinischen Sachverständigen festzustellen sind. Dabei orientiert sich der Senat im Interesse der Gleichbehandlung aller Behinderten an den Bewertungsmaßstäben, die in den "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, 2004" AP niedergelegt sind (vgl. BSG SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 4, SozR 3-3870 § 4 SchwbG Nr. 19 und Urteil vom 07.11.2001 a.a.O.). Die AP besitzen zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften beruhen. Sie sind vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken, und haben deshalb normähnliche Auswirkungen. Auch sind sie im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden (vgl. BSGE 72, 285, 286; BSG SozR 3-3870 a.a.O.).

Erkrankungen der Atmungsorgane, unter anderem Bronchitis, Lungenemphysem oder sonstige chronisch-obstruktive Atemwegserkrankungen, werden nach den Anhaltspunkten, unabhängig von der Diagnose, nach dem Ausmaß der dauernden Einschränkung der Lungenfunktion bewertet. Demnach gehören zur Bewertungsstufe mit einem GdB von 20 bis 40 Einschränkungen geringen Grades, die mit einer das gewöhnliche Maß übersteigenden Atemnot bei mittelschwerer Belastung, mit statischen und dynamischen Messwerten der Lungenfunktionsprüfung bis zu einem Drittel niedriger als die Soll-Werte und Blutgaswerten im Normbereich einhergehen (AP Nr. 26.8). Zu berücksichtigen ist, dass in der Regel erst Abweichungen von den Sollwerten von über 20 Prozent klinisch relevant sind (AP Nr. 8 Abs. 4).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe sind die im Arztbrief der Dres. K. und W. vom 26.11.1997 mitgeteilten Werte der Spirometrie mit 75% bis 121% der Sollwerte ohne Diagnose einer Gasaustauschstörung nicht geeignet, einen über dieser Bewertungsstufe liegenden GdB zu begründen. Entgegen der Ansicht des Klägers ist auch dem Gutachten von Dr. B. vom 30.07.1998 keine Einschränkung durch die Atemwegserkrankung zu entnehmen, die einen GdB von 50 gerechtfertigt hätte. Die von ihm erhobenen Lungenfunktionswerte mit VC 99% Soll, FEV1 63% Soll -nach zwei Hüben Sultanol FEV1 71% Soll, und nach Blutgasanalyse in Ruhe mit einer Sauerstoffsättigung von 93,6 % - nach Belastung mit 86 % - erlauben nach der überzeugenden versorgungsärztlichen Einschätzung von Dr. E. vom 26.10.1998 noch die Zuordnung in die Bewertungsstufe für eine Atemwegserkrankung mit geringen Auswirkungen. Lediglich die von Dr. B. gemessene Einsekundenkapazität mit 63% des Soll-Wertes ergab eine geringfügige Überschreitung des für diese Bewertungsstufe maßgeblichen Drittel-Wertes. Unter Berücksichtigung, dass die Überschreitung um drei Prozent grenzwertig und dies offensichtlich medikamentös ausgleichbar war, die Blutgaswerte selbst unter Belastung noch im Normbereich lagen und beim Belastungs-EKG ohne Hinweis auf eine Herz-Kreislauferkrankung Atemnot erst bei einer Stufe von 95 Watt sowie Zeichen einer absinkenden Sauerstoffversorgung durch Lippencyanose erst bei 105 Watt, also deutlich über einer mittelschweren Belastung von 75 Watt (vgl. AP Nr. 26.9), aufgetreten ist, rechtfertigt der auch mitarbeitsabhängige FEV1-Wert von 63% Soll noch nicht die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft.

Die Einschätzung von Dr. E. findet ihre Bestätigung in den spirometrischen Daten der nachfolgenden Untersuchungen. Im Rahmen einer Entscheidung nach § 44 SGB X sind auch alle Erkenntnisse, die erst nach Erlass des bestandskräftigen Bescheids entstanden sind, einzubeziehen, soweit aus diesen in der Rückschau Schlussfolgerungen für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung möglich sind. Die in den Arztbriefen von Dr. B. aus dem Jahr 2003 angegebenen Lungenfunktionswerte ergeben in der Längsschnittbetrachtung keine von den 1998 erhobenen abweichende Messwerte. Die Werte im Arztbrief vom 15.03.2003 (VC 91% Soll, FEV1 65% Soll - nach Sultanol 79% Soll, Diffusionskapazität 53 %), vom 18.05.2003 (VC 118% Soll, FEV1 84% Soll) und vom 02.12.2003 (VC im Normbereich, FEV1 87% Soll, Diffusionskapazität 66 %, Blutgasanalyse in Ruhe im Normbereich, nach mittelschwerer Belastung - Treppensteigen bis zum zweiten Stockwerk - Belastungshypoxämie) liegen überwiegend im Normbereich und nur bis zu einem Drittel unterhalb des Sollwerts, einzelne Schwankungen mit stärkeren Einbußen liegen bei späteren Messungen nicht mehr vor. Insgesamt erreicht die dadurch dokumentierte Behinderung durch die Atemwegserkrankung auch im Jahr 2003 nur das Ausmaß der Einbußen der genannten Bewertungsstufe des GdB 20 bis 40. Eine dauernde Lungenfunktionseinschränkung mit einem GdB von 50 ist daher für den geltend gemachten Zeitpunkt im September 1998 ebenfalls nicht anzunehmen.

Die vom Kläger angegebene klinische Symptomatik bereits bei alltäglicher Belastung aus dem Gutachten von Dr. B. vom 30.07.1998 beruht im wesentlichen auf den Beschwerdeangaben des Klägers, die aber zuverlässig durch die Ergebnisse der Lungenfunktionsuntersuchung bzw. Untersuchungen der Belastungsfähigkeit objektiviert worden sind. Dr. W. hat in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 10.07.2007 unter Hinweis auf das Beiratsprotokoll vom 18./19.11.1996 für den Senat überzeugend daraufhingewiesen, dass eine Diskrepanz zwischen klinischer Symptomatik und Lungenfunktionswerten auch durch die Ergebnisse der Ergometrie überprüft werden kann. Da beim Belastungs-EKG aber erst ab der 95-Watt-Stufe Atembeschwerden aufgetreten sind, eine alltägliche Belastung aber nur 50 Watt erreicht, ist die für die Einstufung in die Bewertungsstufe mit einem GdB von 50 bis 70 erforderliche mittelgradige Ausprägung der Atemwegserkrankung - was eine das gewöhnliche Maß übersteigenden Atemnot bereits bei alltäglicher leichter Belastung voraussetzt (vgl. AP Nr. 26.8. a. a. O.) - noch nicht erreicht.

Weitere Gesundheitsstörungen, die eine Erhöhung des für die Atemwegserkrankung angesetzten (Teil-)GdB auf einen Gesamt-GdB von mindestens 50 begründen könnten, lagen entgegen der vom Kläger vertretenen Auffassung zum maßgeblichen Zeitpunkt ebenso wenig vor.

Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist nach den Grundsätzen zu verfahren, wie sie in den AP (Abschnitt 19) ihren Niederschlag gefunden haben. Danach sind bei der Festsetzung des Gesamt-GdB die Auswirkungen aller Behinderungen unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander maßgebend (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, führen nicht zu einer Zunahme der Gesamtbeeinträchtigung, auch wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Gesundheitsstörungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Behinderung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB verursacht. Dann ist im Hinblick auf weitere Behinderungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung insgesamt größer wird und deshalb dem höchsten Einzel-GdB einen Behinderungsgrad von 10 oder 20 oder mehr hinzuzufügen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Mathematische Methoden, insbesondere eine Addition der einzelnen GdB-Werte sind hierbei ausgeschlossen (BSG SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 4).

Nach diesen Grundsätzen wirken sich die vom Kläger im Berufungsverfahren geltend gemachten weiteren Gesundheitsstörungen nicht erhöhend auf einen Gesamt-GdB aus.

Das im Gutachten von Dr. B. vom 30.07.1998 diagnostizierte Krampfaderleiden ist nicht mit weiteren funktionellen Einschränkungen verbunden gewesen. Ödeme lagen nicht vor, der Hautbefund war unauffällig. Unkomplizierte Krampfadern bzw. ohne wesentliche Stauungsbeschwerden verursachende Krampfadern ein- oder beidseitig werden mit einem GdB von 0 bis 10 bewertet (AP, Nr. 26.9).

Soweit der Kläger zudem auf eine Antibiotika-Allergie abstellt, ist bereits eine solche Gesundheitsstörung nicht nachgewiesen. Im Gutachten von Dr. B. vom 30.07.1998 ist als Diagnose nur angeführt "anamnestisch Verdacht auf Cephalosporinallergie, kein Anhalt für atope Reaktionslage". Die offensichtlich nur auf den eigenen Angaben des Klägers beruhende Verdachtsdiagnose begründet keinen sicheren Nachweis. In anderen ärztlichen Unterlagen wurde eine Allergie nicht angegeben. Darüber hinaus dürfte bei Vorliegen einer solchen Allergie ein Teil-GdB von mehr als 10 nicht gerechtfertigt sein, da neben den auch nicht bekannten körperlichen Auswirkungen der Allergie auch die Vermeidbarkeit der Allergene (vgl. AP Nr. 26.10) und die Häufigkeit der allergischen Reaktionen (vgl. AP Nr. 26.17) bei der GdB-Bewertung eine Rolle spielen.

Weder zum geltend gemachten Zeitpunkt im September 1998 noch danach bis zum 15.06.2004 ist daher ein Gesundheitszustand nachgewiesen, der die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit einem GdB von mindestens 50 rechtfertigen würde. Eine Rechtswidrigkeit der gerügten bestandskräftigen Bescheide von 1998 und 2003 ist damit nicht nachgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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