L 2 An 880/73

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 An 880/73
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15. August 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die 1898 in B. geborene Klägerin ist als Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt. Im April 1939 war sie von B., ihrem letzten inländischen Wohnsitz, aus Verfolgungsgründen nach (China) ausgewandert, von dort 1945 nach den USA übersiedelt und schließlich im Frühjahr 1960 wieder in die Bundesrepublik zurückgekehrt.

Am 15.9.1972 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Zu ihrem Arbeitsleben gab sie an, sie habe vom 1.4.1914 bis 1.10.1919 bei der Firma St. & K. in B., danach vom 1.11.1919 bis 31.12.1921 bei L. B. in B. und schließlich vom 1.4.1922 bis 31.12.1926 bei dem Bücherversand L. in B. als Verkäuferin beschäftigt gewesen. Versicherungsbeiträge seien während ihrer Tätigkeit in Breslau entweder an die LVA Schlesien oder die RfA, während ihrer Tätigkeit in Berlin an die RfA, entrichtet worden. Nach ihrer Eheschließung im Februar 1927 sei sie in Deutschland nicht mehr versicherungspflichtig tätig gewesen.

Nachdem die Beklagte die Entschädigungsakten der Klägerin vom Entschädigungsamt B. beigezogen hatte und Konten-Suchaktionen nach Versicherungsunterlagen der Klägerin in ihrem Archiv ohne Erfolg geblieben waren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21.3.1973 den Antrag auf Altersruhegeld mit der Begründung ab, daß die Wartezeit nicht erfüllt sei und auch nach § 29 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nicht als erfüllt gelte. Die Zeit vom 1.4.1914 bis 31.12.1926 könne als Versicherungszeit nicht berücksichtigt werden, weil sie weder nachgewiesen noch durch geeignete Beweismittel hinreichend glaubhaft gemacht worden sei. Die Zeit von April 1939 bis Ende Dezember 1949 könne als Ersatzzeit nicht berücksichtigt werden, weil vor der Ersatzzeit keine Versicherung bestanden habe und auch die sonstigen Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 AVG für die Anrechnung der Ersatzzeit nicht erfüllt seien.

Mit ihrer Klage wandte sich die Klägerin gegen diesen Bescheid und trug vor, sie wisse genau, daß während der angegebenen Beschäftigungsverhältnisse Beiträge entrichtet worden seien. Die Versicherungsunterlagen seien ihr anläßlich ihrer Flucht abhanden gekommen. Der Bescheid der Beklagten lasse auch nicht erkennen, ob eine Konten-Suchaktion, insbesondere auch unter ihrem Mädchennamen, durchgeführt worden sei. Auch könne sich die Beklagte nicht auf die Vollständigkeit ihres Archivs berufen, da ihr ein Fall bekannt sei, in dem trotz zunächst ergebnislos verlaufener Suchaktion noch Beitragsunterlagen des betreffenden Versicherten gefunden worden seien. Im übrigen könne sie nach fast 60 Jahren keine Zeugen oder Mitarbeiter mehr ausfindig machen, die über die früheren Beschäftigungsverhältnisse Angaben machen können.

Die Beklagte trug demgegenüber vor, sie habe trotz eingehender Karten-Suchaktionen (nach Stufen 2 und 3, auch unter dem Mädchennamen der Klägerin und ähnlich klingenden Namen) keine Beitragsunterlagen der Klägerin ermitteln können. Die Beitragskonten seien bis auf wenige genau bekannte Ausnahmen, zu denen der Name der Klägerin nicht gehöre, erhalten geblieben. Im Hinblick hierauf könne der Nachweis einer Beitragsentrichtung zur Angestelltenversicherung trotz Fehlens von Unterlagen in ihrem Archiv für den Zeitraum bis 31.12.1922 nur durch Vorlage der gelben Versicherungskarte, für die Zeit danach nur durch Vorlage der Angestelltenversicherungskarten bzw. Aufrechnungsbescheinigung geführt werden.

Mit Urteil vom 15.8.1973 wies das Sozialgericht Wiesbaden die Klage ab. In den Gründen der Entscheidung führte er aus, die Beklagte habe den Rentenantrag mangels Erfüllung der Wartezeit zu Recht abgelehnt. Der behaupteten Beitragsentrichtung zur Angestelltenversicherung stehe das Beitragskonto der Beklagten entgegen, in dem keine Unterlagen der Klägerin hätten ermittelt werden können. Angesichts der Genauigkeit des von der früheren RfA bis 31.12.1922 praktizierten Kontenverfahrens, bei dem die vom Arbeitgeber überwiesenen Beiträge auf einer Kontokarte buchungsmäßig vermerkt worden seien, könne nicht davon ausgegangen werden, daß etwa vorhandene Beiträge nicht ordnungsgemäß verbucht worden seien. Ein Gegenbeweis könne von der Klägerin nur durch Vorlage der gelben Versicherungskarte geführt werden. Nach Einführung des Markenverfahrens ab 1.1.1923 hätten Beitragsmarken in die Versicherungskarte eingeklebt und diese nach 2 Jahren zum Umtausch gegeben werden müssen. Die von der Beklagten durchgeführte Karten-Suchaktion nach Stufen 2 und 3, die auch unter dem Mädchennamen der Klägerin erfolglos sei, sei jedoch ergebnislos geblieben. Die Ersatzzeit von 1939 bis 1949 könne auf die Wartezeit nicht angerechnet werden, da die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 AVG nicht erfüllt seien.

Mit der am 6.9.1973 eingegangenen Berufung wendet sich die Klägerin gegen das am 28.8.1973 zum Zwecke der Zustellung per Einschreiben zur Post aufgelieferte Urteil.

Sie trägt vor, auch wenn eine Beitragsentrichtung für die Zeit bis 31.3.1922 dahingestellt bleibe, sei der Rentenanspruch begründet. Denn vom 1.4.1922 bis Ende 1926 habe sie bei dem Bücherversandgeschäft L. in B. als festbesoldete Vertreterin mit garantiertem Mindesteinkommen versicherungspflichtig gearbeitet. Daß diese Firma keine Versicherungsbeiträge entrichtet habe, könne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, da sie sich sonst strafbar gemacht hätte. Den Angaben der Beklagten, in ihrem Archiv seien keine Versicherungskarten zu ermitteln gewesen, komme schon aus diesem Grunde, aber auch deshalb keine Bedeutung zu, weil sie ihre Suchaktion auf Grund unvollständiger Erhebungen durchgeführt habe.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15.8.1973 und den Bescheid vom 21.3.1973 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1.12.1963 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres,
hilfsweise
ab 1.10.1972 Versicherungsrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Da die Klägerin die behauptete Beitragsentrichtung weder durch Vorlage entsprechender Unterlagen noch durch Zeugenerklärungen nachgewiesen oder glaubhaft gemacht habe, müsse sie nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast die Folgen der Beweislosigkeit tragen.

Wegen des Sachverhalts im einzelnen wird auf den weiteren Inhalt der Gerichts- und Beklagtenakten, ferner auf den Inhalt der beigezogenen Entschädigungsakten der Klägerin, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung waren, Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte und auch statthafte Berufung der Klägerin, über die der Senat gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist zulässig. Sie ist jedoch weder aus dem Haupt- noch aus dem Hilfsantrag begründet.

Das angefochtene Urteil ist nicht zu beanstanden, denn es stellt zutreffend fest, daß der Klägerin ein Anspruch auf Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres nicht zusteht, weil die gesetzliche Wartezeit, die gemäß § 25 Abs. 4 AVG a.F. 180 Kalendermonate anrechenbarer Versicherungszeit beträgt, nicht erfüllt ist. Anrechnungsfähige Versicherungszeiten sind nach § 27 Abs. 1 AVG Zeiten, für die nach Bundesrecht oder früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Angestelltenversicherung Beiträge wirksam entrichtet sind oder als entrichtet gelten (Beitragszeiten), ferner Zeiten ohne Beitragsleistung nach § 28 AVG (Ersatzzeiten). Ersatzzeiten werden nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AVG für die Erfüllung der Wartezeit nur angerechnet, wenn eine Versicherung vorher bestanden hat; die weiteren Bestimmungen des § 28 Abs. 2 Satz 2 a u. b AVG, nach denen Ersatzzeiten ohne vorherige Versicherung angerechnet werden können, treffen im Falle der Klägerin nicht zu, weil sie nach ihrer Rückkehr in das Bundesgebiet eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nicht wieder aufgenommen hatte.

Auf die Wartezeit anrechenbare Beitragszeiten sind nicht nachgewiesen. Der Nachweis der Beitragsentrichtung erfolgt grundsätzlich durch Vorlage der Versicherungskarte (§ 133 AVG). Die Beklagte konnte in ihrem Karten- bzw. Kontenarchiv keinerlei Versicherungsunterlagen der Klägerin ermitteln, obwohl eingehend Suchaktionen – nach Stufen 2 und 3 – durchgeführt worden sind. Der Einwand der Klägerin, bei Durchführung der Suchaktionen hätten der Beklagten nicht die erforderlichen Informationen zur Verfügung gestanden, ist nicht zu folgen. Denn der Beklagten waren alle für die Einleitung der Suchaktion erforderlichen Daten aus dem Rentenantragsformular, aus dem Formular über die Angaben zum Arbeitsleben der Versicherten und aus den vom Entschädigungsamt Berlin beigezogenen Akten der Klägerin bekannt. Insbesondere hat sich die Suchaktion auch auf den Mädchennamen der Klägerin, ihren jetzigen Namen sowie auf eine Vielzahl von ähnlichen gleichklingenden Namen erstreckt. Anhaltspunkte dafür, daß die Suchaktionen nicht sorgfältig oder nicht umfassend durchgeführt worden sind, sind für den Senat nicht ersichtlich. Auch die Klägerin war nicht in der Lage, Versicherungskarten vorzulegen, die eine Beitragsentrichtung für die Zeit ihrer behaupteten Beschäftigungsverhältnisse von 1914 bis 1926 ausweisen.

Eine Glaubhaftmachung dieser Beitragszeiten nach der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) vom 3.3.1960 in der Fassung des Gesetzes vom 22.12.1965 kommt nicht in Betracht. Nach dieser reicht es aus, wenn die rechtserheblichen Tatsachen, zu deren Nachweis die Versicherungsunterlagen dienen, im Sinne des § 10 VuVO glaubhaft gemacht werden. § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VuVO setzen aber für die Glaubhaftmachung voraus, daß die fehlenden Versicherungsunterlagen von einem Versicherungsträger aufzubewahren gewesen sind, dessen Karten- oder Kontenarchiv vernichtet bzw. teilweise vernichtet ist, wobei die Unterlagen in diesem Fall in dem vernichteten Teil aufbewahrt gewesen sein müssen. Diese Voraussetzungen treffen im Falle der Klägerin nicht zu. Das Kontenarchiv der Beklagten ist – bis auf wenige bekannte Ausnahmen, von denen der Namensbereich des Geburts- und Familiennamens der Klägerin (–N. u. M.–) nicht betroffen ist – unbeschädigt erhalten geblieben, so daß ihr die Beweiserleichterungen der VuVO für die behaupteten Beschäftigungsverhältnisse als Verkäuferin, bzw. Vertreterin für die nur Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet worden sein können, nicht zugute kommen (vgl. zur Beweiskraft des Kontenarchivs der BfA LSG Essen, DAngVers. 1973, 232). Einer Glaubhaftmachung der rechtserheblichen Tatsachen, zu deren Nachweis die Versicherungsunterlagen dienen, kämen daher allenfalls im Rahmen des § 1 Abs. 1 Satz 2 VuVO in Betracht. Nach dieser Bestimmung, die ohnehin nur für Zeiten ab 1.1.1923 – Einführung der Beitragsentrichtung im sog. Markenverfahren – Bedeutung hat, müßte die Klägerin zunächst glaubhaft machen, daß unaufgerechnete Versicherungskarten bei ihr oder ihrem Arbeitgeber verblieben und dort verlorengegangen sind. Hierzu hat die Klägerin keine konkreten Angaben machen können. Ihre Behauptung, es seien Versicherungsunterlagen anläßlich ihrer Flucht im Jahre 1939 verlorengegangen, reicht nicht aus. Es ist unwahrscheinlich, daß bei fortdauernder angestelltenversicherungspflichtiger Beschäftigung vom 1.1.1923 bis Ende 1926 mehrere unaufgerechnete Versicherungskarten bei der Klägerin oder ihrem Arbeitgeber verblieben und dort abhanden gekommen sind. Denn Versicherungskarten mußten, sobald sie vollgeklebt waren, bei der Ausgabestelle eingereicht werden, wo sie in eine neue Versicherungskarte umgetauscht wurden. Hätte die Klägerin, wie sie bisher behauptet hat, im Zeitraum von Januar 1923 bis etwa Ende 1926 fortlaufend Beiträge entrichtet, so müßte mindestens 1 Versicherungskarte vollgeklebt gewesen und umgetauscht worden sein, da eine Versicherungskarte lediglich Raum für 24 Monatsbeitragsmarken enthielt.

Ist mithin nicht einmal glaubhaft gemacht, daß und auf welche Weise Versicherungskarten der Klägerin verlorengegangen sind, so kommt es auf das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 VuVO, nämlich die Glaubhaftmachung der Beitragsentrichtung, nicht mehr an. Der Senat konnte somit dahingestellt sein lassen, ob und inwieweit es sich bei den von der Klägerin angegebenen Beschäftigungsverhältnissen um echte, versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gehandelt hat. Jedenfalls hat die Klägerin hierzu auch keinerlei beweiserhebliche Unterlagen und Zeugenerklärungen vorgelegt. Ihre Angaben über Art und Dauer der Beschäftigungsverhältnisse reichen nicht aus, zumal sie mit ihren früheren Angaben im Entschädigungsverfahren in Widerspruch stehen. Dort hatte die Klägerin u.a. angegeben, sie sei zunächst in B. 3 Jahre als Lehrmädchen tätig gewesen, habe danach außer in B. auch in W. in der Damenkonfektion gearbeitet und sei erst 1924 nach B. gezogen, wo sie 3 Jahre lang den Buchversand L. vertreten habe. Hiernach ließe sich – auch bei Unterstellung der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 2 VuVO – kein einigermaßen sicheres Bild über die Beschäftigungsverhältnisse der Klägerin gewinnen, so daß ihre Angaben für eine Glaubhaftmachung nicht als ausreichend angesehen werden können.

Sind mithin keine Versicherungszeiten auf die Wartezeit anrechenbar, so ist auch ein Anspruch auf Gewährung der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 24 Abs. 2 AVG mangels Erfüllung der Wartezeit nicht gegeben. Die Klägerin konnte daher auch mit dem Hilfsantrag auf Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente nicht durchdringen. Über diesen Antrag konnte der Senat sachlich entscheiden, weil über den ihm zugrunde liegenden Streitgegenstand – die Erfüllung der Wartezeit – im angefochtenen Bescheid incidenter mitentschieden worden ist und die Klägerin insoweit ihre Klage im Berufungsverfahren in zulässiger – weil sachdienlicher – Weise erweitert hat.

Die Berufung der Klägerin kann daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved