S 3 AL 100/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 3 AL 100/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 146/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 26.04.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.05.2005 wird abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ab dem 01.05.2005 Arbeitslosengeld nach einem täglichen Bemessungsentgelt von 81,64 EUR zu gewähren. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Höhe des der Klägerin bewilligten Arbeitslosengeldes.

Die 1971 geborene Klägerin war seit 1991 als Sachbearbeiterin bei der Firma S. in L. beschäftigt. Im Zeitraum zwischen Mai 2001 und Dezember 2001 erzielte die Klägerin ein Bruttoarbeitsentgelt von 18.024,16 EUR. Von Mitte Dezember 2001 bis Mitte März 2002 bezog die Klägerin nach der Geburt ihres Sohnes 2002 Mutterschaftsgeld und anschließend Erziehungsgeld. Die Elternzeit endete am 15.01.2005. Am Folgetag nahm die Klägerin ihre Beschäftigung bei der Firma S. wieder auf. Sie erzielte im Januar 2005 ein Bruttoentgelt von 1.350,00 EUR und in den Monaten Februar bis April 2005 ein Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von jeweils 2.550,00 EUR. Das Arbeitsverhältnis endete zum 30.04.2005.

Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 26.04.2005 Arbeitslosengeld ab dem 01.05.2005 nach einem Bemessungsentgelt von 64,40 EUR täglich (Lohnsteuerklasse I, erhöhter Leistungssatz).

Hiergegen hat die Klägerin Widerspruch eingelegt. Sie vertritt die Auffassung, dass das Arbeitslosengeld nach einem Bruttoarbeitsentgelt von 2.550,00 EUR zu berechnen sei.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 31.05.2005 als unbegründet zurück. Das Arbeitslosengeld der Klägerin müsse fiktiv bemessen werden, da die Klägerin im Bemessungszeitraum von 2 Jahren nicht mindestens 150 Tage versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Bei Einstufung der Klägerin in die Qualifikationsgruppe 3 ergebe sich ein tägliches Bemessungsentgelt von 64,40 EUR und ein täglicher Leistungssatz von 28,36 EUR.

Am 24.06.2005 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie macht verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Berechnungsweise der Beklagten im Hinblick auf Art. 3 Grundgesetz (GG) und Art. 6 GG geltend.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 26.04.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.05.2005 abzuändern und ihr Arbeitslosengeld ab dem 01.05.2005 nach einem täglichen Bemessungsentgelt von 81,64 EUR zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen. Die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Kd.-Nr. 331A080946) waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 26.04.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.05.2005 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in ihren Rechten.

Die Beklagte hat der Klägerin für die Zeit ab 01.05.2005 Arbeitslosengeld nach einem täglichen Bemessungsentgelt von 81,64 EUR zu gewähren.

§ 129 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) bestimmt, dass das Arbeitslosengeld 60 % des pauschalierten Nettoentgeltes (Leistungsentgelt) beträgt (allgemeiner Leistungssatz). Der erhöhte Leistungssatz von 67 % wird gewährt, wenn der Arbeitslose oder sein nicht dauernd getrennt lebender und ebenfalls unbeschränkt einkommensteuerpflichtiger Ehegatte oder Lebenspartner ein Kind im Sinne des § 32 Abs. 1, 3 - 5 des Einkommensteuergesetzes hat.

Der Bemessungszeitraum umfasst gemäß § 130 SGB III die beim Ausscheiden des Arbeitslosen aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen. Der Bemessungsrahmen umfasst ein Jahr; er endet mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung des Anspruchs.

Zeiten, in denen der Arbeitslose Erziehungsgeld bezogen oder nur wegen der Berücksichtigung von Einkommen nicht bezogen hat oder ein Kind unter drei Jahren betreut und erzogen hat, wenn wegen der Betreuung und Erziehung des Kindes das Arbeitsentgelt oder die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit gemindert war, bleiben nach § 130 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB III bei der Ermittlung des Bemessungszeitraumes außer Betracht.

Der Bemessungszeitraum wird nach § 130 Abs. 3 Satz 1 SGB III auf zwei Jahre erweitert, wenn der Bemessungszeitraum weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthält (Nr. 1) oder es mit Rücksicht auf das Bemessungsentgelt im erweiterten Bemessungsrahmen unbillig hart wäre, von dem Bemessungsentgelt im Bemessungszeitraum auszugehen (Nr.2). Satz 1 Nr. 2 ist nur anzuwenden, wenn der Arbeitslose dies verlangt und die zur Bemessung erforderlichen Unterlagen vorgelegt hat. Kann ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmens nicht festgestellt werden, ist nach § 132 Abs. 1 SGB III als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen. Für die Festsetzung des fiktiven Arbeitsentgeltes ist der Arbeitslose der Qualifikationsgruppe zuzuordnen, die der beruflichen Qualifikation entspricht, die für die Beschäftigung erforderlich ist, auf die die Agentur für Arbeit die Vermittlungsbemühungen für den Arbeitslosen in erster Linie zu erstrecken hat. Das Gesetz unterscheidet in § 132 Abs. 2 dabei in vier Qualifikationsgruppen. Die Klägerin wurde von der Beklagten in die Qualifikationsgruppe 3 eingestuft, was tatsächlich ihrem bisherigen beruflichen Werdegang entspricht. Nach Auffassung der Kammer ist jedoch keine fiktive Bemessung notwendig gewesen.

Im Fall der Klägerin umfasste der Bemessungsrahmen den Zeitraum von einem Jahr unter Aussparung der Erziehungszeiten. Dies ergibt sich daraus, dass nach Ansicht der Kammer § 130 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB III dahingehend auszulegen ist, dass die in der Vorschrift genannten Erziehungszeiten derart für die Ermittlung des Bemessungszeitraums außer Betracht zu bleiben haben, dass der Bemessungsrahmen entsprechend erweitert wird (ebenso Brand in Niesel, SGB III, 3 Aufl., § 130 Rdnr. 9; Rolfs in Gagel, SGB III, § 130 Rdnr. 34; anderer Ansicht: Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III, § 130 Rdnr. 80). Dabei kann offen gelassen werden, ob diese Erweiterung entsprechend § 130 Abs. 3 Satz 2 nur auf Verlangen des Arbeitslosen vorzunehmen ist oder von vornherein zu berücksichtigen ist. Im Falle der Klägerin hat diese jedenfalls eine entsprechende Erweiterung spätestens mit ihrem Widerspruch geltend gemacht.

Das Sozialgericht Berlin hat sich in seiner Entscheidung vom 29.05.2006 (S 77 AL 961/06) ausführlich mit der verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift des § 130 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB III beschäftigt. Das Gericht kam zu der Auffassung, dass die Auslegung, wonach Erziehungszeiten derart für die Ermittlung des Bemessungszeitraums außer Betracht zu bleiben haben, dass der Bemessungsrahmen entsprechend erweitert wird, dem Wortlaut der Vorschrift, der Regelungssystematik, dem Willen des historischen Gesetzgebers und den Regelungszwecken entspricht. Die Kammer schließt sich nach eigener Überprüfung dieser Rechtsauffassung an und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf die ausführlich begründeten Erwägungen in den Entscheidungsgründen des Urteils vom 29.05.2006.

Besonders hervorzuheben sind dabei die nachfolgenden verfassungsrechtlichen Erwägungen des Sozialgerichts Berlin: "Zur Vermeidung dieser verfassungsrechtlichen Probleme sind die Regelungen verfassungskonform auszulegen. Dabei haben sich die Beklagte und das Gericht an den Grundsätzen der Art. 3 und 6 Abs. 4 Grundgesetz (GG) sowie am europarechtlichen Diskriminierungsverbot für Frauen zu orientieren. Insbesondere Letzteres und das Gebot von Schutz und Fürsorge den Müttern gegenüber (Art. 6 Abs. 4 GG) sind dabei zu beachten. Bei diesen Maßstäben ist zunächst festzustellen, dass es keinen sachlichen Grund gibt, Mütter/Väter danach unterschiedlich zu behandeln, in welchem Maße sie neben der Erziehung eine Berufstätigkeit ausüben. In jedem Fall handelt es sich um eine Pflichtversicherungszeit ... Während von der entsprechenden Schutzvorschrift des § 131 Abs. 2 Nr. 1 SGB III alte Fassung nur solche Erziehenden erfasst wurden, bei denen wegen der Betreuung oder Erziehung eines Kindes das Arbeitslosengeld oder die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit gemindert war, werden nach dem Wortlaut jetzt Erziehungsgeld-Empfänger ohne Rücksicht auf eine Minderung der Arbeitszeit einbezogen. Dies erscheint im Hinblick auf den gesetzgeberischen Willen, Erziehende im Rahmen der Vorgaben des Art. 6 GG besonders zu fördern, plausibel. Angesicht des Wortlautes und den Anmerkungen der Gesetzesbegründung ist auch kein Grund erkennbar, warum für den Anwendungsbereich der Schutzvorschrift für Erziehende danach unterschieden werden sollte, ob neben der Erziehung noch eine Teilzeitbeschäftigung ausgeübt wurde."

Im vorliegenden Fall reichte der Bemessungsrahmen unter Aussparung der nach § 130 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB III außer Betracht zu bleibenden Mutterschutz- und Erziehungszeiten jedenfalls vom 01.05.2001 bis zum 12.12.2001 und vom 16.01.2005 bis zum 30.04.2005. In diesen 12 Monaten wurde das Bruttoarbeitsentgelt der Klägerin vollständig abgerechnet. Entsprechend der Arbeitsbescheinigungen der Firma S. hat die Klägerin in den vorgenannten Zeiträumen ein Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 27.024,16 EUR bezogen. Unter Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse I und des erhöhten Leistungssatzes ergibt sich nach den Berechnungen der Kammer ein tägliches Bemessungsentgelt von 81,64 EUR.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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