L 9 U 4071/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 2401/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 4071/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 20. Juli 2005 wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 15. Mai 2007 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten noch die Gewährung von Rente für die Zeit vom 1.11.1999 bis 5.9.2006.

Der im Jahr 1949 geborene Kläger, der als Hochbauhelfer beschäftigt war, rutschte am 30.7.1998 auf dem Weg zum Vespercontainer aus und zog sich dabei eine dislozierte distale Radiustrümmerfraktur links zu. Arbeitsfähigkeit trat zum 30.11.1998 wieder ein.

Mit Bescheid vom 16.6.1999 gewährte die Beklagte dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 30.7.1998 vom 30.11.1998 bis 31.10.1999 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH in Form einer Gesamtvergütung. Als Folgen des Arbeitsunfalls anerkannte sie: "Bewegungseinschränkung des linken Handgelenks nach knöchern fest verheiltem Speichenbruch links mit geringer Abkippung der Gelenkfläche. Muskelminderung am Arm, Minderung der Hohlhandbeschwielung". Grundlage hierfür war das Gutachten des Chirurgen Dr. W. vom 28.4.1999, der die MdE vom 30.11.1998 bis 24.10.1999 auf 20 vH und für die Zeit danach auf voraussichtlich 10 vH einschätzte.

Am 22.7.1999 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente über den 31.10.1999 hinaus. Dr. W., der den Kläger vom 1.3. bis 17.04.2000 wegen zunehmender Schmerzen am linken Handgelenk mittels einer Gipsschiene behandelt hatte, vertrat die Ansicht, die MdE liege bei 10 vH (Berichte vom 18.3. und 10.5.2000). Dr. H. und Dr. S. stellten beim Kläger im Gutachten vom 2.5.2000 als Unfallfolgen eine deutliche Bewegungseinschränkung links, eine Muskelminderung des linken Armes sowie subjektive Beschwerden fest und schätzten die MdE auf 10 vH.

Mit Bescheid vom 18.7.2000 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente nach Ablauf des Gesamtvergütungszeitraumes ab, da keine MdE in rentenberechtigendem Grade mehr bestehe.

Hiergegen legte der Kläger am 9.8.2000 Widerspruch ein und machte geltend, es sei nicht hinreichend berücksichtigt worden, dass er Linkshänder sei. Er habe vor ca. 10 Jahren einen ähnlichen Unfall an der linken Hand erlitten, weswegen die Hand stärker eingeschränkt sei. Ferner sei er im Jahr 1997 bei der Arbeit gestürzt. Die inzwischen aufgetretenen Bandscheibenvorfälle dürften auf die Arbeitsunfälle und die übermäßige Belastung durch schweres Tragen zurückzuführen sein. Die MdE liege deswegen insgesamt deutlich über 20 vH.

Die Beklagte veranlasste eine Untersuchung des Klägers durch Prof. Dr. H ... Dieser stellte im Gutachten vom 29.11.2001 beim Kläger folgende Unfallfolgen fest: 1. Knöchern fest ausgeheilte distale Radiusfraktur mit Gelenkbeteiligung links 2. Endgradig eingeschränkte Bewegungseinschränkung des linken Handgelenks 3. Subjektiv verminderte Kraft im linken Handgelenk. Die MdE betrage 10 vH. In den für die Höhe der Rente maßgebenden Verhältnissen sei keine Änderung gegenüber den früheren Befunden eingetreten. In der ergänzenden Stellungnahme vom 11.2.2002 führte Prof. Dr. H. aus, am 5.5.1990 habe sich der Kläger eine distale Radiusfraktur zugezogen. Am 30.7.1998 habe er sich erneut an derselben Stelle das Handgelenk gebrochen. Die Unfallfolgen des ersten Unfalls gingen in die Unfallfolgen des zweiten Unfalls über. Nur letzterer könne beurteilt werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.4.2002, zur Post gegeben am 22.4.2002, wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen erhob der Kläger am 22.5.2002 Klage zum Sozialgericht (SG) Stuttgart, mit der er die Gewährung von Rente nach einer MdE um 20 vH weiter verfolgte. Der Kläger legte ein Attest des Orthopäden Dr. J. vom 4.9.2002 vor, der ausführte, die Einschätzung der MdE liege in einem gewissen Rahmen im Ermessen des Untersuchers. Bei den vorliegenden Befunden könne durchaus eine MdE von 20% festgestellt werden, da rezidivierend Probleme, Entzündungszustände sowie eine deutliche Bewegungseinschränkung vorlägen.

Das SG hörte Dr. J. (Auskünfte vom 5.5. und 15.12.2003) und den Arzt für Allgemeinmedizin Dr. Schlüter (Auskunft vom 28.1.2004) schriftlich als sachverständige Zeugen und zog Unterlagen des Katharinenhospitals über eine stationäre Behandlung des Klägers vom 14.7. bis 16.7.2003 wegen eines Abszesses am linken Unterarm bei. Anschließend holte das SG ein orthopädisches Gutachten ein. Der Orthopäde Dr. H. führte im Gutachten vom 28.5.2004 aus, beim Kläger liege eine posttraumatische Arthrose des Radiokarpalgelenks/Radioulnarge¬lenks links mit Funktionsdefizit bei Status nach stattgehabter Radiusfraktur links und nachfolgender Osteosynthese und Materialentfernung sowie Denervation des linken Handgelenks nach Wilhelm, Resektion Processus styloideus radii links 11.11.2002 und Revision, Inzision, Spülung bei Abszess des distalen linken Unterarmes vom 15.7.2003 vor. Die MdE schätze er vom 1.12.1998 bis 24.10.1999 auf 20 vH und vom 25.10.1999 bis auf weiteres auf 10 vH. In der ergänzenden Stellungnahme vom 24.8.2004 gab Dr. H. an, die von ihm be¬schriebenen Befunde wiesen eine teigige Schwellung des linken Handgelenks auf, die Mittel¬hand (ohne Daumen) weise keine Umfangsvermehrung auf. Das Handgelenk links sei um 2,5 cm im Umfang größer als das rechte Handgelenk. Eine massive Schwellung des linken Handgelenks habe am Untersuchungstag nicht vorgelegen, wobei beim Untersuchungsgang mehrmals all¬tagstypische Bewegungen durchgeführt worden seien. Sein Gutachten sei deswegen nicht weiter zu ergänzen.

Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beauftragte das SG Dr. J. mit der Begutachtung des Klägers. Dieser führte in der gutachterlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 31.1.2005 aus, wie er bereits am 5.5.2003 mitgeteilt habe, sei seines Erachtens die Beweglichkeit des Handgelenks auf Grund der posttraumatischen Veränderungen wesentlich eingeschränkter als in den bisherigen Gutachten dargestellt. So habe sich im Rahmen seiner ambulanten Untersuchung eine reduzierte Beuge- und Streckfähigkeit im Handgelenk von Dorsalextension/Palmarflexion 10/0/10 gefunden; auch die Radial- und Ulnaradduktion sei im Vergleich zur Gegenseite auf ein Viertel des normalen Maßes reduziert. Wegen der stärkeren Bewegungseinschränkung und der Tatsache, dass wegen der posttraumatischen Veränderungen mit einer Verschlechterung über das altersübliche Maß hinaus zu rechnen sei, schätze er die MdE mit 20 vH ein.

Die Beklagte legte Unterlagen des Kreiskrankenhauses Backnang (Prof. Dr. H.) vom 3.11. und 25.11.2004 über eine stationäre Behandlung des Klägers vom 2.11. bis 15.11.2004 wegen eines Handgelenks-Empyems links (Spätinfekt) sowie eine Mitteilung vom 28.12.2004 (Arbeitsfähigkeit ab 27.12.2004; MdE unter 10 vH) vor. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 8.4.2005 teilte Dr. J. mit, die Einschätzung der MdE mit 20 vH beruhe allein auf der Tatsache, dass die Handgelenksbeweglichkeit des Klägers deutlich schlechter sei als in den Gutachten beschrieben. Berücksichtigt werden sollte auch, dass es sich im November 2004 um das zweite Infektereignis nach den vorausgegangenen Operationen gehandelt habe.

Mit Urteil vom 20.7.2005 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, das SG schließe sich der Beurteilung im Gutachten von Dr. H. an. Auf die Entscheidungsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.

Gegen das am 2.9.2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am Dienstag, den 4.10.2005 Berufung eingelegt und vorgetragen, als Linkshänder sei er kaum noch in der Lage manuelle Tätigkeiten von gewisser Dauer und Schwere auszuüben. Selbst bei einfachen Verrichtungen im privaten Bereich schwelle das Handgelenk nach kurzer Zeit an und schmerze. Seit dem Arbeitsunfall habe er sein Handgelenk wegen der unvollkommenen Heilung achtmal operieren lassen. Auch seien arthrotische Veränderungen erkennbar. Er habe erneut am 6.12.2005 sowie in der Zeit vom 24.1. bis 2.3.2006 operiert werden müssen.

Der Senat hat Professor Dr. Sch. von der Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie von der BG. U. T. sowie Dr. J. schriftlich als sachverständige Zeugen gehört (Auskünfte vom 12.4.2006 und 29.8.2007) und ärztliche Unterlagen der Beklagten über Behandlungen des Klägers ab Oktober 2005 beigezogen,

Die Beklagte hat ein von Prof. Dr. Sch. erstattetes Gutachten vom 18.12.2006 vorgelegt. Als Unfallfolgen nennt er: 1. Bewegungseinschränkung des Handgelenks links 2. Kraftminderung der linken Hand 3. Subjektive Schmerzen im Bereich des linken Handgelenks 4. Narbenbildung im Bereich des linken Handgelenks und Unterarms 5. Schwellung des linken Handgelenks 6. Röntgenbefunde. Die MdE schätzte er ab 5.5.2003 auf 20 vH, ausgehend von den Angaben von Dr. J., der am 5.5.2003 eine Extension/Flexion von 10/0/10 erhoben hatte.

Mit Bescheid vom 15.5.2007 gewährte die Beklagte dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 30.7.1998 ab 6.9.2006 eine Rente nach einer MdE um 20 vH. Für einen früheren Zeitpunkt seien die Voraussetzungen für eine MdE um 20 vH. nicht erfüllt. Grundlage für den Rentenbeginn war eine Stellungnahme ihres Beratungsarztes vom 10.5.2007.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 20. Juli 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. Juli 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. April 2002 aufzuheben, den Bescheid vom 15. Mai 2007 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 30. Juli 1998 vom 1. November 1999 bis 5. September 2006 Rente nach einer MdE um 20 vH zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 15. Mai 2007 abzuweisen.

Sie erwidert, sowohl in den Gutachten von Dr. H., Prof. Dr. H. und Dr. H. werde die unfallbedingte MdE mit 10 vH bewertet. Dr. J. habe am 5.5.2003 keine eigenen Befunde erhoben. Er habe sich in seiner sachverständige Zeugenaussagen vielmehr auf einen Befund während einer Wiedererkrankung nach Operation von November 2002 gestützt. Dieser Befund könne deswegen nicht Grundlage für eine Neufeststellung der Rente sein, da die später erhobenen Befunde wieder mit einer MdE von unter 20 vH einzuschätzen gewesen seien. Auch komme die Gewährung von Rente ab einem früheren Zeitpunkt wegen der Arbeitsunfähigkeit des Klägers gem. § 74 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII nicht in Betracht.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet, da das angefochtene Urteil des SG sowie der Bescheid der Beklagten vom 18.7.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.4.2002 nicht zu beanstanden sind. Über den Bescheid der Beklagten vom 15.5.2007, der gem. §§ 153 Abs. 1, 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist, weil er (u. a.) die Ablehnung der Gewährung einer Verletztenrente für die Zeit vor den 5.9.2006 wiederholt hat, entscheidet der Senat auf Klage (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 8. Aufl., § 96 Rdnr. 7). Die Klage ist jedoch nicht begründet, da die Gewährung von Rente für die Zeit vom 1.10.2005 bis 5.9.2006 gem. § 74 Abs. 2 SGB VII ausgeschlossen ist.

Nach § 75 SGB VII kann ein Unfallversicherungsträger die Versicherten nach Abschluss der Heilbehandlung mit einer Gesamtvergütung in Höhe des voraussichtlichen Rentenaufwandes abfinden, wenn nach allgemeinen Erwartungen unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des Einzelfalles zu erwarten ist, dass nur eine Rente in Form der vorläufigen Entschädigung zu zahlen ist. Nach Ablauf des Zeitraumes, für den die Gesamtvergütung bestimmt war, wird auf Antrag Rente als vorläufige Entschädigung oder Rente auf unbestimmte Zeit gezahlt, wenn die Voraussetzungen hierfür vorliegen. Die Einschätzung der MdE für die Anschlussrente ist von der Gesamtvergütung unabhängig. Es ist also kein Besserungsnachweis erforderlich, wenn sie niedriger ausfällt (Ricke in Kasseler Kommentar, Stand März 2007, § 75 SGB VII Rdnr. 5).

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vom Hundert mindern (§ 56 Abs. 1 SGB VII ). Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger die Rente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann (§ 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall wird die vorläufige Entschädigung als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der Vomhundertsatz der MdE abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben (§ 62 Abs. 2 SGB VII).

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII; vgl. auch BSGE 63, 207, 209 = SozR 2200 § 581 Nr. 28). Dabei kommt es auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung; sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind (vgl. BSG SozR 2200 § 581 Nrn. 22 und 23). Bei der Beurteilung der MdE sind aber auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend sind, aber Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden und einem ständigen Wandel unterliegen (vgl. BSG SozR 2200 § 581 Nr. 23 und 27). Bei einer Vielzahl von Unfallfolgen haben sich im Laufe der Zeit für die Schätzung der MdE Erfahrungswerte herausgebildet. Sie sind in Form von Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und dienen als Anhaltspunkte für die MdE Einschätzung im Einzelfall. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte bilden lediglich die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet, und gewährleisten, dass alle Betroffenen bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden (Ruppelt in Schulin HS UV, § 48 RdNr 28). Den MdE Tabellen kommt nicht der Rechtscharakter einer gesetzlichen Norm zu. Sie können vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten angesehen werden, um den unbestimmten Rechtsbegriff der MdE auszufüllen (BSG SozR 3 2200 § 581 Nr. 5).

Ausgehend von diesen Rechtsvorschriften und den vom BSG hierzu entwickelten Rechtsgrundsätzen ist der Senat zur Überzeugung gelangt, dass beim Kläger in der Zeit vom 1.11.1999 bis 30.9.2005 wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 30.7.1998 keine MdE von 20 vH bestand. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat auf Grund der ärztlichen Äußerung von Dr. W. in der Mitteilung vom 10.5.2000, den Gutachten von Dr. H./Dr. S. vom 2.5.2000 und Professor Dr. H. vom 29.11.2001, die im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden, des Gutachtens von Dr. H. vom 28.5.2004 nebst ergänzender Stellungnahme vom 24.8.2004 sowie der sachverständigen Zeugenaussagen von Professor Dr. Sch. vom 12.4.2006. Danach bestanden beim Kläger in der Zeit vom 1.11.1999 bis 30.9.2005 eine deutliche Bewegungseinschränkung im linken Handgelenk (Gutachten vom 2.5.2004: handrückenwärts/hohlhandwärts 30-0-40, ellenwärts/speichenwärts 25-0-25; Gutachten vom 29.11.2001: 40-0-45 und 30-0-25; Gutachten vom 28.5.2004: 40-0-30 und 30-0-30) und Beschwerden. Sowohl Dr. W. als auch Dr. H./Dr. Siegwarth, Professor Dr. H. und auch der gerichtliche Sachverständige Dr. H. schätzen die MdE hierfür ab 1.11.1999 auf 10 vH. Der hiervon allein abweichenden Beurteilung des Orthopäden Dr. J. vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Soweit er behauptet, die Beweglichkeit des Handgelenks sei wesentlich stärker eingeschränkt als in den Gutachten dargestellt und habe bei 10-0-10 gelegen, ist zu berücksichtigen, dass dieser Befund lediglich vorübergehend (wohl am 25.11.2002) vorlag, nachdem der Kläger am 11.11.2002 am linken Handgelenk operiert worden war (Denervierungs-Operation, Entfernung des Processus styloideus radii). Dieser vorübergehende Befund kann nicht als Grundlage für die Einschätzung der MdE herangezogen werden. Ebenso kann der während eines Infekts (Handgelenks-Empyem links, stationäre Behandlung vom 2.11. des 15.11.2004) festgestellte Befund, nämlich eine praktisch aufgehobene Handgelenksbeweglichkeit, nicht der MdE-Einschätzung zugrunde gelegt werden, zumal es sich hier ebenfalls um einen vorübergehenden Zustand gehandelt hat. Die von Dr. J. behaupteten gravierenden Bewegungseinschränkungen sind - abgesehen von kurzfristigen Erkrankungen - deswegen nicht nachgewiesen. Aus diesem Grund kann der Senat auch der Beurteilung von Professor Dr. Sch. hinsichtlich des Beginns der MdE um 20 vH nicht folgen, da er den von Dr. J. in der sachverständigen Zeugenaussage vom 5.5.2003 mitgeteilten vorübergehenden Befund vom 25.11.2002 als Zeitpunkt der dauerhaften Verschlimmerung seiner Beurteilung zu Grunde gelegt hat, obwohl dieser nur vorübergehend bestand.

Als Beginn der Verschlimmerung sieht der Senat den 1.10.2005 an, da sich der Kläger am 4.10.2005 wegen seit 1.10.2005 bestehender Beschwerden in durchgehende ambulante bzw. stationäre Behandlung begeben musste. Am 4.10.2005 stellte sich der Kläger nämlich wegen seit vier Tagen bestehender Schmerzen bei Dr. J. vor, der eine Punktion im linken Handgelenk vornahm. Vom 4.10. bis 7.10.2005 wurde die Handgelenksinfektion stationär im Kreiskrankenhaus Backnang (Bericht vom 24.10.2005) mittels Unterarmgipsschiene, Eiskühlung, Hochlagerung und Antibiose mittels Ciprospray behandelt. Danach fanden weitere Vorstellungen in der BG. U. T. am 12.10., 27.10., 3. und 14.11.2005 statt. Vom 5.12. bis 8.12.2005 befand sich der Kläger dann in stationärer Behandlung der BG. U. T., wo am 6.12.2005 eine Handgelenksdenervierungs-Operation links durchgeführt wurde. Nach weiteren ambulanten Vorstellungen am 5. und 24.1.2006 wurde der Kläger am 24.1.2006 wegen eines Abszesses im Bereich des linken Handrückens und des distalen Unterarms streckseitig links erneut stationär in der BG. U. T. aufgenommen. Es wurden mehrere Revisionsoperationen vorgenommen sowie die Deckung des Defekts mit Vollhautentnahme vom linken Unterarm. Am 2.3.2006 wurde der Kläger aus der stationären Behandlung entlassen. Weitere Vorstellungen erfolgten in der BG. U. T. am 31.3. und 9.5.2006. Nach den operativen Maßnahmen ist eine hälftige Bewegungseinschränkung im linken Handgelenk verblieben (Zeugenaussage von Professor Dr. Sch. vom 12.4.2006), bzw. es liegen folgende Bewegungsausmaße vor (Gutachten vom 18.12.2006): handrückenwärts/hohlhandwärts links 30-0-20 (rechts 50-0-50), speichenwärts/ellenwärts links 10-0-10 (rechts 15-0-25). Dieser verschlechterte Bewegungsumfang rechtfertigt eine MdE um 20 vH, wovon Professor Dr. Sch. auch zu Recht in der sachverständigen Zeugenaussage vom 12.4.2006 und im Gutachten vom 18.12.2006 ausgeht. Obwohl die Verschlimmerung schon am 1.10.2005 auf Dauer eingetreten ist, steht dem Kläger die Rente noch nicht ab diesem Zeitpunkt zu. Nach § 74 Abs. 2 SGB VII dürfen Renten nicht für die Zeit neu festgestellt werden, in der Verletztengeld zu zahlen ist oder ein Anspruch auf Verletztengeld wegen des Bezugs von Einkommen oder des Erhalts von Betriebs- und Haushaltshilfe oder wegen der Erfüllung der Voraussetzungen für den Erhalt von Betriebs- oder Haushaltshilfe nicht besteht. Zum Einkommen zählen auch Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosengeld II. Da der Kläger in der Zeit ab 1.10.2005 wegen der Folgen des Arbeitsunfalls arbeitsunfähig war, stand ihm dem Grunde nach Verletztengeld zu. Wegen des Bezugs von Leistungen der Arbeitsverwaltung hat der Kläger das Verletztengeld nicht erhalten, weswegen die Beklagte - nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung - Erstattungsansprüche der Arbeitsverwaltung zu erfüllen hat. Aufgrund dessen steht dem Kläger die Rente für die Zeit vom 1.10.2005 bis 5.9.2006 nicht zu.

Nach alledem waren der Bescheid der Beklagten vom 18.7.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.4.2002 sowie das Urteil des SG vom 20.7.2005 und der Bescheid der Beklagten vom 15.5.2007 nicht zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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