L 7 AS 180/07

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 AS 173/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 180/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 9. Mai 2007 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte ver-pflichtet ist, vom Einkommen des Klägers zu 1 höhere Fahrkos-ten in Abzug zu bringen, und den Klägern deshalb für die Zeit vom 01.12.2005 bis 31.05.2006 ein um 283,98 EUR höherer An-spruch auf Arbeitslosengeld II (Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zusteht.

Die Kläger bezogen im streitgegenständlichen Zeitraum von der Beklagten Alg II. Der Kläger zu 1 erzielte im Rahmen eines ge-ringfügigen Beschäftigungsverhältnisses als Wachmann seit 25.10.2005 ein monatliches Einkommen in Höhe von 354,57 EUR (brutto gleich netto). Sein Wohnort liegt von der Einsatzstel-le 17 km entfernt, die er mit seinem eigenen PKW zurücklegte. Er war an allen Tagen eines Monats im Einsatz. Mit Bescheid vom 16.01.2006 setzte die Beklagte vom Einkommen des Klägers zu 1 für die Zeit vom 01.12.2005 bis 31.05.2006 den nach § 11 Abs.2 Satz 2 SGB II vorgesehenen Pauschalbetrag von 100 EUR ab.

Mit ihrem Widerspruch vom 27.01.2006 machten die Kläger gel-tend, allein die Fahrkosten seien höher als die Pauschale von 100 EUR. Arbeitende, die unter 400 EUR verdienen würden, seien schlechter gestellt als wesentlich mehr Verdienende, denen das Gesetz zugestehe, gegebenenfalls höhere Beträge als den Pauschalbetrag nachweisen zu können. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16.03.2006 mit der Begründung zurück, nach den gesetzlichen Vorgaben könnten vom Einkommen des Klägers zu 1 nur 100 EUR als Pauschale abgesetzt werden, selbst wenn tatsächlich höhere Aufwendungen entstanden seien bzw. entstehen sollten.

Wegen Einkommensänderungen wurden mit Bescheiden vom 30.01. und 23.03.2006 für die Monate Januar bis März 2006 höhere Leistungen bewilligt und mit weiterem Bescheid vom 23.03.2006 die Bewilligung für die Monate Dezember 2005 und Januar 2006 teilweise aufgehoben.

Mit der am 05.04.2006 zum Sozialgericht Regensburg (SG) erho-benen Klage machten die Kläger geltend, die Beklagte habe die gesetzliche Pauschalierungsregelung zwar ihrem Wortlaut ent-sprechend angewandt, dies verstoße aber gegen den grundgesetz-lichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Die Regelung benachteilige denjenigen, der nicht mehr als 400 EUR verdiene. Dies verstoße gegen das Sozialstaatsprinzip. Durch die Regelung hätten geringfügige Beschäftigungsverhältnisse attraktiver gemacht werden sollen, der Geringverdiener, der übermäßig hohe Fahrtkosten habe, werde aber nicht bevorzugt, sondern müsse Nachteile hinnehmen.

Das SG hat die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Be-scheide mit Urteil vom 09.05.2007 verurteilt, dem Kläger zu 1 weitere 283,98 EUR zu zahlen. Obwohl sich aus der Niederschrift über den Termin zur mündlichen Verhandlung oder aus der übrigen Akte des SG dazu nichts ergibt, ist im Tatbestand des Urteils ausgeführt, die Beteiligten seien sich darüber einig, dass sich nach der angegriffenen Berechnungsmethode der Beklagten ein monatlicher Absetzbetrag vom Einkommen in Höhe von 150,91 EUR ergebe, während bei Zugrundelegung von Fahrtkosten für 30 Tage des Monats sich ein Absetzungsbetrag von monatlich 198,24 EUR ergebe. Der monatliche Differenzbetrag belaufe sich somit auf 47,33 EUR, so dass sich ein Streitwert von insgesamt 283,98 EUR ergebe. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, die Beklagte habe bei der Einkommensberechnung entgegen dem Wortlaut von § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II die nach § 3 Abs. 1 Nr.3 Buchst. b der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V) zu berechnenden Fahrtkosten von 0,20 EUR bei einer Entfernung von 17 km und 30 monatlichen Fahrttagen zugrunde zu legen und könne für die Absetzbeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 bis 5 SGB II nicht von dem Pauschalbetrag in Höhe von 100 EUR ausgehen. Dies folge aus dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Differenzierungsgebot des Art. 3 Abs.1 Grundgesetz (GG). Sinn und Zweck der Pauschalierungsregelung des § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II sei es, Beschäftigungsverhältnisse für erwerbsfähige Hilfebedürftige auch dann attraktiv zu machen, wenn damit nur ein geringfügiges Einkommen erzielbar sei. Deswegen sei ein im Verhältnis zum Einkommen sehr großzügiger pauschaler Absetzbetrag eingeräumt worden. Daneben sei es dem Gesetzgeber auch um die Verwaltungsvereinfachung gegangen. Dabei sei davon auszugehen, dass in aller Regel geringfügig Beschäftigte einer Teilzeittätigkeit nachgehen würden, die in den allermeisten Fällen wohl an nur ein bis drei Tagen in der Woche stattfinde und entsprechend dem niedrigen Einkommen auch entsprechend wenig Fahrkosten verursachen würden. In dieses "Schema" passe das klägerische Beschäftigungsverhältnis nicht. Der Kläger habe zwar im streitgegenständlichen Zeitraum verhältnismäßig wenig verdient, habe dafür aber überproportional hohe Fahrtkosten investieren müssen. Seine nach der Arbeitslosengeld II-Verordnung berechneten monatlichen Fahrtkosten würden allein 102 EUR ausmachen, also einen Betrag, der bereits die Pauschale von 100 EUR überschreite. Würde man auch hier nur den Pauschalbetrag vom Einkommen absetzen, würde das gesetzgeberische Ziel konterkariert. Aus Gründen der Gleichbehandlung bzw. der Differenzierung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG sei es geboten, entsprechend § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB II den Nachweis höherer (Fahr-)Kosten in Anlehnung an die Berechnung nach der Alg II-V zuzulassen bzw. anzuwenden. Andernfalls wäre die 400 EUR-Einkommensgrenze willkürlich und gleichheitssatzwidrig. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 08.06.2007 zugestellte Ur-teil am 15.06.2007 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, sie habe nach geltenden Rechtsnormen gehandelt. Der Gesetzgeber habe den Pauschalbetrag von 100 EUR festgelegt und bei Einkommen bis zu 400 EUR monatlich keine Ausnahmen zugelassen. Die Pauschalierung von Beträgen sei keine Besonderheit des SGB II, vielmehr seien in einer Vielzahl von unterschiedlichen Gesetzen Pauschalbeträge festgeschrieben.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 09.05.2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweisen auf ihren bisherigen Sachvortrag.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsak-ten beider Rechtszüge verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, weil sie vom SG zugelassen wurde.

Das Rechtsmittel ist sachlich auch begründet, weil den Klägern kein Anspruch auf höheres Alg II zusteht. Ein solcher Anspruch lässt sich nicht damit begründen, dass vom Einkommen des Klägers zu 1 Fahrkosten einkommensmindernd abzusetzen sind, die den Pauschalbetrag von 100 EUR übersteigen. Nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II ist bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die erwerbstätig sind, abweichend von Abs. 2 Satz 1 für die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen Ausgaben insgesamt (nur) ein Pauschalbetrag von 100 EUR in Abzug zu bringen. Nach dieser eindeutigen gesetzlichen Regelung kann nur der Pauschalbetrag von 100 EUR als einkommensmindernd berücksichtigt werden. Dies wird letztlich auch von den Klägern nicht bestritten. Entgegen der Ansicht des SG und der Kläger lässt sich auch aus dem Verfassungsrecht ein derartiger Anspruch nicht ableiten. Nach Ansicht des Senats ist der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt. Dieses Grundrecht ist nicht schon dann verletzt, wenn der Gesetzgeber Differenzierungen, die er vornehmen darf, nicht vornimmt. Der Gleichbehandlungsgrundsatz verpflichtet den Gesetzgeber nicht dazu, in jeder Rechtsvorschrift Raum für die Berücksichtigung einer wesentlichen Abweichung im Einzelfall zuzulassen. Aus Art. 3 GG ergibt sich auch kein Anspruch darauf, dass bei der Anwendung des Gesetzes wesentliche Abweichungen des Einzelfalles berücksichtigt werden. Abzustellen ist vielmehr darauf, ob ein vernünftiger Grund für die Gleichbehandlung fehlt (BVerfGE 90, 226, 239). Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Festsetzung eines Pauschalbetrages für Erwerbsfähige, die bis zu 400 EUR verdienen, nicht deshalb verfassungswidrig, weil dieser Betrag in manchen Fällen hinter der möglichen Belastung zurückbleiben kann. Dabei kann es offen bleiben, ob die Pauschalierung allein unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungsvereinfachung ("Typisierung") als gerechtfertigt erscheinen kann; denn der Gesetzgeber verfolgte einen sachlichen Grund, indem er mit der Festsetzung der Pauschale offensichtlich auch Einsparungen erzielen wollte.

Es ist daher aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht geboten, § 11 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB II in verfassungskonformer Weise so auszulegen, dass auch Fälle der vorliegenden Art unter Satz 3 subsumiert werden müssten. In der Privilegierung derjenigen, die mehr als 400 EUR verdienen, gegenüber denjenigen, die weniger verdienen, liegt kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz im Sinne des Art. 3 Abs 1 GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist Art. 3 Abs 1 GG vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (BVerfGE 55, 72, 88; BVerfGE 84, 133, 157; BVerfGE 85, 191, 210, BVerfGE 85, 238, 244; BVerfGE 87, 1, 36; BVerfGE 95, 39, 45). Eine Verletzung des Art. 3 Abs 1 GG liegt erst dann vor, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt, wenn die gesetzliche Regelung also als willkürlich bezeichnet werden muss (so grundlegend BVerfGE 1, 14, 52). Die Nichtberücksichtigung derjenigen, die weniger als 400 EUR verdienen, ist nicht willkürlich. Insofern stand es im sozialpolitisch weiten Ermessen des Gesetzgebers, die Privilegierung nicht auch auf Geringverdiener auszudehnen.

Für die hier gefundene Lösung sprechen schließlich Gesichtspunkte der Verwaltungspraktikabilität. Es wäre für die Leistungsträger verwaltungspraktisch aufwändig, bei Geringverdienern jeweils die tatsächlichen Fahrkosten zu berechnen.

Daher besteht kein Anlass, § 11 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB II in von den Klägern gewünschten Sinne verfassungskonform auszulegen. Ebenso wenig kam eine Vorlage an das BVerfG gemäß Art 100 Abs. 1 GG in Betracht.

Zur Überzeugung des Senats liegen andere Gründe, die einen höheren Anspruch auf Alg II begründen könnten, nicht vor, zumal solche Gründe von den Klägern auch nicht geltend gemacht werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wurde zugelassen, weil der Rechtsfrage, grund-sätzliche Bedeutung zukommt, ob § 11 Abs. 2 SGB II verfas-sungskonform dahingehend auszulegen ist, dass bei Hilfebedürf-tigen sich höhere Fahrkosten einkommensmindernd auswirken, wenn sie den Pauschalbetrag von 100 EUR übersteigen.
Rechtskraft
Aus
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