S 2 KR 85/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Würzburg (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 KR 85/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 14.05.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.02.2003 wird abgewiesen.
II. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger einen höheren Zuschuss als 65 % zu den Kosten der zahnprothetischen Behandlungen zu bezahlen.

Der 1954 geborene Kläger musste sich 1989 einer Chemo- und Strahlentherapie unterziehen. Bereits damals sei er in der Zahnklinik Erlangen darauf hingewiesen worden, dass er in einigen Jahren mit massiven Zahnproblemen rechnen müsse.

Der Kläger beantragte bei der Beklagten, die Rechnungen der Zahnärztin Dr. R. vom 26.07.2000, 13.10.2000 und 18.05.2001 in vollem Umfang zu übernehmen.

Er legte eine Bescheinigung der Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie der Universität E. vom 01.09.1998 vor, worin mitgeteilt wird, infolge der intensiven Radiotherapie lägen irreversiblie Behandlungsfolgen im Sinne einer Zahnhalskaries und weitere destruktive Veränderungen des Zahnhalteapparates vor. Diese Befunde seien nicht durch mangelnde Mundhygiene oder mangelnde präventive Maßnahmen verursacht worden, sondern als indirekte Behandlungsfolge zu werten.

Die Beklagte ließ durch den MDK (Dr. M.) am 03.05.2002 ein Gutachten nach Aktenlage erstellen. Dr. M. gelangte zu dem Ergebnis, es sei nicht nachweisbar, dass der im Unterkiefer im Jahr 2000 und der im Oberkiefer im Jahr 2001 eingegliederte Zahnersatz auf die direkten Folgen eines 1989 diagnostizierten lymphoepithelialen Karzinoms und der nachfolgenden Radiotherapie zurückzuführen sei. Die angegebene Mundtrockenheit sei zweifelsohne eine Folge dieser Therapie, jedoch seien nicht zwangsläufig Schäden der Zahnhartsubstanz und des Zahnhalteapparates in Kauf zu nehmen, sofern eine effiziente häusliche Mundhygiene und zahnärztliche Betreuung erfolge.

Mit Bescheid vom 14.05.2002 lehnte es die Beklagte ab, Kosten über den 65 %-igen Kassenzuschuss hinaus zu übernehmen.

Mit seinem Widerspruch dagegen machte der Kläger geltend, dass die Zahnklinik Erlangen sehr wohl einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Bestrahlung und den jetzigen Zahnschäden sehe.

Daraufhin ließ die Beklagte durch Frau S. vom MDK ein weiteres sozialmedizinisches Gutachten erstellen. In der Begutachtung nach Aktenlage vom 22.11.2002 führte diese im Wesentlichen aus, dass sich ein Zusammenhang zwischen der behandelten Krebserkrankung und der durchgeführten Zahnersatzversorgung nach den vorliegenden Unterlagen medizinisch nicht begründen lasse.

Mit Widerspruchsbescheid vom 20.02.2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück, weil nach der gesetzlichen Regelung des § 30 Sozialgesetzbuch V (SGB V) die Beklagte lediglich 65 v. H. der Vertragskosten für die vorgelegten Heil- und Kostenpläne bewilligen könne. Ein Anspruch auf eine weitergehende Kostenbeteiligung bestehe nicht.

Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Würzburg (Eingang am 11.03.2003) erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass bei der intensiven Chemo- und Strahlenbehandlung eines Karzinoms im Nasen-Rachen-Raum 1989 wegen der örtlichen Gegebenheiten der gesamte Kopfbereich mit einer sehr intensiven Strahlendosis bestrahlt worden sei (68 gy). In diesem Zusammenhang habe die Klinik dem Kläger erklärt, dass wegen dieser intensiven Radiotherapie irreversible Behandlungsfolgen im Sinne einer Zahnhalskaries und weiterer destruktiver Veränderungen des Zahnhalteapparates zu erwarten seien. Zu diesen Folgen sei es auch gekommen. Bis jetzt seien praktisch alle Zähne, die nicht bereits früher durch Brücken verbunden gewesen seien, überkront worden, weil sämtliche Zähne Schaden aufgewiesen hätten. Das Bundessozialgericht habe am 06.10.1999 festgestellt, dass eine Befreiung vom Eigenanteil bei der Versicherung mit Zahnersatz mit Rücksicht auf den verfassungsrechtlichen Schutz der körperlichen Unversehrtheit unter dem Gesichtspunkt der Aufopferung geboten sei, wenn eine frühere Leistung der Krankenkasse den jetzigen Behandlungsbedarf veranlasst habe und sich als hoheitlicher Eingriff darstelle.

Der Kläger stellt den Antrag:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 14.05.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.02.2003 verurteilt, dem Kläger einen höheren Zuschuss als 65 % zu den Kosten der zahnprothetischen Behandlungen, einschließlich funktionsanalytischer Leistungen, durch die Zahnärztin Frau Dr. R., K. (Eigenanteilsrechnungen vom 26.07.2000, 13.10.2000 und 18.05.2001) zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Kammer hat zu dem Verfahren die Beklagtenakte beigezogen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf den Inhalt der beigezogenen Beklagtenakte und der Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.

Die Beklagte hat zu Recht einen Anspruch auf einen über 65 % hinausgehenden Zuschuss zu den Kosten der zahnprothetischen Behandlungen verneint. Diesbezüglich kann im Wesentlichen auf die zutreffenden Ausführungen der Beklagten in dem Widerspruchsbescheid vom 20.02.2003 Bezug genommen werden. § 136 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gibt dem Gericht die Möglichkeit, von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abzusehen, soweit es der Begründung des Widerspruchsbescheides folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt.

Zur Ergänzung wird darauf hingewiesen, dass die Kammer abweichend von der Beklagten die Überzeugung hat, dass die streitgegenständlichen Behandlungen wesentlich durch die 1989 durchgeführte Chemo- und Strahlenbehandlung verursacht bzw. mitverursacht worden sind. Dies ergibt sich zum einen aus der Bescheinigung der Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie der Universität E. vom 01.09.1968 und lässt sich darüber hinaus aus dem Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 15.01.2003 - L 1 KR 83/01 - entnehmen. Dort wird ein Sachverständigengutachten vom 08.06.2001 zitiert, wonach zur Entstehung einer Strahlenkaries als eigenständiges Krankheitsbild in der Literatur über Wichtung direkter und indirekter radiogener Veränderungen der Zahnhartsubstanz zwar kontroverse Meinungen existierten, jedoch eine direkte radiogene Schädigung bei Dosen von über 50 gy wahrscheinlich sei.

Trotz Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen den Bestrahlungen und den geltend gemachten Behandlungskosten bleibt bei der Versorgung mit Zahnersatz die Leistung der Beklagten auf einen Zuschuss von 65 % beschränkt. Eine Befreiung vom Eigenanteil könnte lediglich mit Rücksicht auf den verfassungsrechtlichen Schutz der körperlichen Unversehrtheit unter dem Gesichtspunkt der Aufopferung geboten sein, wenn die Strahlenbehandlung sich als hoheitlicher Eingriff darstellen würde. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

Das Bundessozialgericht hat am 06.10.1999 - B 1 KR 9/99 R - dazu ausgeführt, dass ein möglicher ursächlicher Zusammenhang der zahnprothetischen Versorgung mit anderen Erkrankungen grundsätzlich nicht zu einer Erhöhung des von der Krankenkasse zu tragenden Kostenanteils führe. Diese Aussage müsse allerdings aus verfassungsrechtlichen Gründen eingeschränkt werden. Sie könne, wie das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 14.08.1998 entschieden habe, jedenfalls dann nicht aufrechterhalten werden, wenn die Notwendigkeit des Zahnersatzes auf einer von der gesetzlichen Krankenversicherung gewährten Erstbehandlung beruhe, die sich im Nachhinein als gesundheitsschädlich und somit als hoheitlicher Eingriff in nicht vermögenswerte Rechtsgüter darstelle. Insoweit gebiete Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschriften des SGB V dahingehend, dass der Versicherte vom gesetzlichen Eigenanteil freizustellen sei. Eine Erstbehandlung sei dann als Eingriff in diesem Sinne aufzufassen, wenn der behandelnde Arzt bei Einhaltung der Regeln der ärztlichen Kunst verpflichtet gewesen sei, eine ihm keinen Spielraum belassende Vorgabe des des Leistungs- oder des Leistungserbringungsrechts zu beachten und nur eine bestimmte Untersuchungs- oder Behandlungsmethode anzuwenden, mit der die Gesundheit des Versicherten geschädigt worden sei. In einem solchen Falle sei es in Anwendung des richterrechtlich entwickelten Instituts der Aufopferung geboten, die Kosten des Zahnersatzes in vollem Umfang zu übernehmen und den Versicherten von dem eigentlich vorgesehenen Eigenanteil zu befreien. Denn der allgemeine Rechtsgedanke, dass der einzelne für ein ihm durch hoheitlichen Zwang unter Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes im öffentlichen Interesse auferlegte Sonderopfer eine billige Entschädigung von der Allgemeinheit erhalten solle, sei bei der Auslegung der Vorschriften zu beachten.

Diese Voraussetzungen sind indes hier nicht erfüllt. Ein der Risikosphäre der Beklagten zuzurechnender hoheitlicher Eingriff liegt nicht vor. Eine Befreiung vom Eigenanteil ist nicht schon und allein deshalb zu rechtfertigen, weil die Beklagte im Rahmen ihrer Leistungspflicht als gesetzliche Krankenkasse gegenüber dem Versicherten dem ihm zu gewährenden Anspruch auf Behandlung seiner schwerwiegenden Erkrankung nachgekommen ist. Ein hoheitlicher Eingriff in nichtvermögenswerte Güter, der eine weitergehende Schutzpflicht auszulösen vermag, hätte nur dann vorgelegen, wenn der behandelnde Arzt bei Einhaltung der Regeln der ärztlichen Kunst verpflichtet gewesen wäre, eine ihm keinen Spielraum belassende Vorgabe des Leistungs- oder Leistungserbringungsrechts zu beachten und nur eine bestmmte Untersuchungs- oder Behandlungsmethode anzuwenden. Das ist nicht der Fall. Der Kläger selbst trägt vor, dass er vor der Strahlentherapie 1989 auf mögliche Folgeschäden hingewiesen wurde. Ihm war bekannt, dass dadurch eine Kiefersperre, eine Mundtrockenheit und Beschädigungen der Zahnsubstanz und des Zahnhalteapparates auftreten konnten. Ebenso hat ihn die Zahnklinik Erlangen schon 1989 darauf hingewiesen, dass er in einigen Jahren mit massiven Zahnproblemen rechnen müsse.

Da der Kläger die Durchführung der Strahlentherapie hätte ablehnen können oder ggf. eine andere Therapie, soweit eine solche Behandlungsalternative überhaupt bestanden hat hätte wählen können, liegt kein Sonderopfer vor.

Der Hinweis darauf, dass die gesetzliche Krankenversicherung hoheitlich rechtlich geregelt sei und deshalb von einem hoheitlichen Eingriff auszugehen sei, ist nicht zielführend. Denn maßgebend für die beim Kläger durchgeführte Behandlung war die vom behandelnden Mediziner gesehene Notwendigkeit und nicht etwa von der Beklagten vorgegebenen Begrenzungen, die nur eine bestimmte Behandlung zugelassen hätten. Insoweit unterscheidet sich das Vorgehen der Ärzte nicht wesentlich von der Behandlung eines Privatpatienten, der nicht in einer gesetzlichen Krankenversicherung versichert ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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