L 13 R 2916/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 6 RA 2643/00
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 R 2916/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 27. Juni 2002 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die 1945 geborene Klägerin absolvierte, nachdem sie zuvor eine Ausbildung zur Buchbinderin abgebrochen hatte, in der Zeit vom 1. April 1965 bis 30. September 1965 einen halbjährigen Berufsfachlehrgang für kaufmännisch-praktische Arzthelferinnen. In der Folge war sie bis 1980 in verschiedenen Arztpraxen als Arzthelferin beschäftigt. Am 14. Juli 1999 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit. Bei Antragstellung gab sie an, sie halte sich wegen der Folgen eines schweren Autounfalls am 22. August 1998 für erwerbsunfähig. Zur Ermittlung des medizinischen Sachverhalts zog die Beklagte neben Befundunterlagen der die Klägerin behandelnden Ärzte einen Entlassungsbericht der B.-Klinik Ü. am B., Fachklinik für innere Medizin und Orthopädie, bei. Die Klägerin hatte in dieser Klinik in der Zeit vom 27. Oktober 1998 bis 26. November 1998 ein stationäres Heilverfahren absolviert, nachdem sie zuvor vom 23. bis 29. September 1998 stattionär im Zentrum für Psychiatrie R.-W. behandelt worden war. Im Entlassungsbereicht vom 15. Dezember 1998 wurden als Diagnosen ein Zustand nach Polytrauma am 22. August 1998, Rippenserienfrakturen, Übernähung von Leber- und Milzrissen, die Ausprägung einer schweren ARDS-Trachealstenose, eine akute Cholecystitis mit Operation am 10. September 1998 und die Ausprägung einer reaktiven Angstpsychose genannt. Der leitende Arzt Dr. B. und der Stationsarzt Z. führten weiter aus, die Klägerin könne trotz dieser Erkrankungen leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ohne überwiegende Zwangshaltungen unter Beachtung einer Einschränkung der Gang- und Standsicherheit noch vollschichtig verrichten. Die Beklagte ließ die Klägerin daraufhin von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. und von dem Internisten Dr. L. begutachten. Ersterer legte in seinem Gutachten vom 21. Januar 2000 dar, die Klägerin könne leichte Tätigkeiten ohne Zeitdruck weiterhin vollschichtig ausführen; das Gleiche gelte für eine Tätigkeit im erlernten Beruf als Arzthelferin. Dr. L. diagnostizierte in seinem Gutachten vom 9. Februar 2000 eine arterielle medikamentös eingestellte Hypertonie, einen Zustand nach Bridenileus (mechanischer Darmverschluss; 12/99), einen Zustand nach akutem Lungenversagen (ARDS = Acute Respiratory Distress Syndrome; 8/98), eine bekannte Trachealstenose sowie einen Zustand nach Übernähung einer Le-ber-/Milzruptur 8/98, nach Rippenserienfraktur 8/98, nach NNH-Fraktur und Fensterung 8/98 und nach Cholecystektomie 8/98. Auch Dr. L. hielt die Klägerin für fähig, sowohl im zuletzt ausgeübten Beruf als Arzthelferin, als auch in sonstigen Berufsbildern des allgemeinen Arbeitsmarktes weiterhin vollschichtig erwerbstätig zu sein. Mit Bescheid vom 16. März 2000 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 23. März 200 Widerspruch. Nach Beiziehung weiterer Befundunterlagen ließ die Beklagte die Klägerin von dem Orthopäden Dr. M. begutachten. Dieser bejahte auch unter zusätzlicher Berücksichtigung der Diagnosen auf orthopädischem Fachgebiet (chronisch rezidivierendes Lumbalsyndrom mit rezidivierender Blockierung des rechten Ileosacralgelenks, chronisches Thorakalsyndrom bei degenerativen Veränderungen der Brustwirbelsäule und Rippenserienfraktur 8 bis 12 links, Supraspinatustendopathie links, mediale Instabilität des Daumengrundgelenks rechts bei ulnarer Seitenbandruptur) ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte körperliche Arbeiten. Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2000 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Mit der am 18. Dezember 2000 beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Das SG hat zunächst schriftliche sachverständige Zeugenaussagen der den Kläger behandelnden Ärzte Dr. K. und Dr. S. eingeholt. Der Orthopäde Dr. K. (Aussage vom 10. Mai 2001) hat die Klägerin nicht mehr für fähig gehalten, Tätigkeiten im Beruf der Arzthelferin auszuführen. Leichtere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, wie z. B. das Berufsbild einer Empfangsdame oder einer Telefonistin sei der Klägerin seines Erachtens noch etwa halbschichtig zumutbar. Die Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. S. hat in der psychovegetativen Komponente bei vorliegender posttraumatischer Belastungsstörung den limitierenden Faktor für eine Dauerbelastung gesehen. Leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien noch möglich, im bisherigen Beruf nur zeitlich begrenzt (abhängig von aktueller körperlicher und psychischer Verfassung). Das SG hat die Klägerin daraufhin von dem Orthopäden Dr. B. begutachten lassen. In seinem Sachverständigengutachten vom 30. Oktober 2001 hat dieser dargelegt, die Klägerin leide unter einem chronisch rezidivierenden BWS und LWS-Syndrom bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen, einem knöchern fest verheilten Zustand nach Serienfraktur der achten bis zwölften Rippe und rezidivierenden Iliosakralgelenksreizungen sowie -blockierungen, an einem Zustand nach Polytrauma, abgeheilt und ohne funktionelle weitere Behinderungen, an einem Zustand nach Band-OP des rechten Daumengrundgelenks mit leichter Bewegungseinschränkung, aber ohne Funktionsbehinderung sowie an einem Zustand nach perilonärer fest verheilter Bandläsion der rechten Handwurzel mit Belastungseinschränkung. Trotz dieser Erkrankungen könne die Klägerin eine Tätigkeit als Arzthelferin oder sonstige Tätigkeiten das allgemeinen Arbeitsmarktes noch voll-schichtig ausüben. Nach Beiziehung einer schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K., abgegeben in einem von der Klägerin gegen das Land Baden-Württemberg wegen Schwerbehinderung geführten Rechtsstreit, hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 27. Juni 2002 abgewiesen.

Gegen den ihr gemäß Empfangsbekenntnis am 1. Juli 2002 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 17. Juli 2002 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Sie trägt vor, das SG habe den Sachverhalt insbesondere auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet nicht ausreichend ermittelt. Zur weiteren Begründung legt sie ein vom LSG in dem Verfahren nach dem Schwerbehindertengesetz eingeholtes Sachverständigengutachten von Prof. Dr. B. vom 4. Juni 2004 nebst ergänzender Stellungnahme vom 23. Oktober 2004 vor. Wegen des Inhalts des Gutachtens und der Stellungsnahme wird auf Bl. 2 bis 19 und 90 bis 97 der Berufungsakte des Senats Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 27. Juni 2002 sowie den Bescheid vom 16. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Juli 1999 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Dauer zu gewähren.

Für den Fall eines nach dem 30. November 2000 eingetretenen Leistungsfalls beantragt die Klägerin,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 27. Juni 2002 sowie den Bescheid vom 16. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Januar 2001 Rente voller Erwerbsminderung, hilfsweise Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig und den Gerichtsbescheid des SG für zutreffend. Ergänzend legt sie die Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. B. vom 1. März 2007 (Bl. 210, 211 der Berufungsakten) vor.

Der Senat hat zunächst die medizinischen Unterlagen aus den Akten des SG (S 1 SB 2397/01) und des LSG (L 8 SB 2710/03) beigezogen und eine schriftliche sachverständige Zeugenaussage von Neurologe Dr. K. eingeholt. Dieser hat ausgesagt, das für die berufliche Leistungsfähigkeit maßgebliche Leiden liege auf schmerztherapeutischem Fachgebiet, wobei die erhebliche psychiatrische Co-Morbidität angemessen zu berücksichtigen sei. Eine Aussage zum quantitativen Restleistungsvermögen sei ihm nicht möglich. In der Folge ist von Amts wegen Prof. Dr. S. und auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Prof. Dr. B. mit der Erstattung eines nervenärztlichen Sachverständigengutachtens beauftragt worden. Der Nervenarzt Prof. Dr. S., Abteilungsleiter am Zentrum für Psychiatrie R.-W., hat bei der Klägerin ein Lumbalsyndrom mit ischialgiformer Schmerzausstrahlung rechts ohne Wurzelkompressionssymptome oder sonstige neurologische Defizite diagnostiziert. Auf psychiatrisch-psychosomatischem Fachgebiet hat der Sachverständige keine relevante Erkrankung oder Schädigung festgestellt. Die Klägerin könne leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit vollschichtig ausüben. Lediglich in qualitativer Hinsicht müssten die für Rückenleiden typischen Leistungseinschränkungen beachtet werden. Im übrigen bestehe keine Notwendigkeit besonderer Arbeitsbedingungen (Gutachten vom 15. Februar 2005 nebst ergänzender Stellungnahme vom 29. März 2006). Demgegenüber hat Prof. Dr. B. in seinem Gutachten vom 17. November 2005 die Auffassung vertreten, die Klägerin leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, an einer organisch-emotional labilen (asthenischen) Störung, an einer organisch-psychischen Störung und an einem Zustand nach Bandscheibenvorfall. Wegen dieser Erkrankungen könne die Klägerin selbst leichte Tätigkeiten nur noch unter dreistündig ausüben. Zuletzt hat der Senat eine weitere schriftliche sachverständige Zeugenaussage von der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr W. eingeholt. Wegen des Inhalts dieser Aussage vom 19. Januar 2007 wird auf Bl. 204 bis 207 der Berufungsakte verwiesen.

Wegen der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten, die Klageakten des SG (S 6 RA 2643/00) und die Berufungsakten des Senats (L 13 RA 2482/02 und L 13 R 2916/04) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Die gemäß §§ 143, 144 Abs. 1 SGG statthafte Berufung ist zulässig, sie ist unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zu Recht die Klage abgewiesen. Gegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (vgl. Bundessozialgericht (BSG) SozR 3-2600 § 44 Nr. 7) ist der den Antrag der Klägerin auf Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit ablehnende Bescheid vom 16. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Dezember 2000. Dieser erweist sich als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in subjektiven Rechten. Ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit steht der Klägerin nicht zu. Darüber hinaus hat sie auch keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nach dem seit 1. Januar 2001 geltenden Recht.

Maßgeblich für den erhobenen Anspruch sind, da sich unter Zugrundelegung des klägerischen Begehrens ein Rentenbeginn vor dem 1. Januar 2001 ergeben würde, noch die Bestimmungen des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (vgl. §§ 300 Abs. 2, 302b Abs. 1 Satz 1 SGB VI in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000, BGBl. I S. 1827 (a. F.); Jörg in Kreikebohm, SGB VI, § 302b Rdnr. 3). Gemäß § 44 Abs. 1 SGB VI a. F. haben Versicherte Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn sie die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sowie die allgemeine Wartezeit erfüllt haben und erwerbsunfähig sind; entsprechende Regelungen sind in § 43 Abs. 1 SGB VI a. F. für die Rente wegen Berufsunfähigkeit vorgesehen. Berufsunfähig sind nach allen Fassungen des § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI - geändert erst durch die Einführung der neuen Rente wegen Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI ab 1. Januar 2001 - Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI a. F. alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie des bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind (§ 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI a. F.). Zu beachten ist außerdem die Vorschrift des § 43 Abs. 2 Satz 4 SGB VI in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGB VI vom 2. Mai 1996 (BGBl. I S. 659; vgl. BSGE 78, 207, 212; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 52); danach ist bei vollschichtigem Leistungsvermögen die jeweilige Arbeitsmarktlage grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (vgl. dazu allgemein BSG - Großer Senat - BSGE 80, 24 ff).

Schon die Voraussetzungen für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit liegen nicht vor. Zwar ist die allgemeine Wartezeit (vgl. §§ 50 Abs. 1 Nr. 2, 51 Abs. 1 SGB VI) erfüllt und die ansonsten erforderliche Drei-Fünftel-Belegung mit Pflichtbeiträgen hier ausnahmsweise entbehrlich (§ 241 Abs. 2 Satz 1 SGB VI); die Klägerin ist aber nicht berufsunfähig.

Ausgangspunkt der Prüfung ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG der "bisherige Beruf", den der Versicherte ausgeübt hat (BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 107 und 169). Dabei ist unter dem bisherigen Beruf in der Regel die letzte nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit jedenfalls dann zu verstehen, wenn sie zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten war (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 130; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr. 17). Kann der Versicherte diesen "bisherigen Beruf" aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten, ist zu ermitteln, ob es zumindest eine Tätigkeit gibt, die ihm sozial zumutbar ist und die er gesundheitlich wie fachlich noch bewältigen kann. Das Bundessozialgericht hat zur Feststellung des qualitativen Wertes des bisherigen Berufes und damit zur Bestimmung zumutbarer Verweisungstätigkeiten (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 55; Niesel in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 240 SGB VI Rdnr. 24 ff. m.w.N.) ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe in Gruppen untergliedert. Diese werden durch die Leitberufe eines Facharbeiters mit Vorgesetztenfunktion (und diesem gleichgestellten besonders hoch qualifizierten Facharbeiters), eines Facharbeiters, der einen anerkannten Ausbildungsberuf mit einer anerkannten Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren, regelmäßig drei Jahren ausübt, eines angelernten Arbeiters, der einen Ausbildungsberuf mit einer vorgeschriebenen Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren ausübt, und eines ungelernten Arbeiters charakterisiert. Dabei wird die Gruppe der angelernten Arbeiter nochmals in die Untergruppen der "oberen Angelernten" (Ausbildungs- oder Anlernzeit von über zwölf bis zu 24 Monaten) und "unteren Angelernten" (Ausbildungs- oder Anlernzeit von mindestens drei bis zu zwölf Monaten) unterteilt. Kriterien für eine Einstufung in dieses Schema sind dabei die Ausbildung, die tarifliche Einstufung, die Dauer der Berufsausbildung, die Höhe der Entlohnung und insbesondere die qualitativen Anforderungen des Berufs. Eine Verweisung ist grundsätzlich nur auf eine Tätigkeit der jeweils niedrigeren Gruppe möglich. Ferner ist erforderlich, dass der Versicherte die für die Verweisungstätigkeit notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten innerhalb einer bis zu drei Monaten dauernden Einarbeitung und Einweisung erwerben kann (BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 23). Entsprechendes gilt im wesentlichen auch für Angestelltenberufe (vgl. z. B. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 2, Nr. 41 m. w. N.).

In Anwendung dieser Maßstäbe ist als "bisheriger Beruf" der Klägerin derjenige einer kaufmännisch-praktischen Arzthelferin zugrunde zu legen. Der Senat kann die Frage, welcher Stufe dieses Berufsbild zuzuordnen ist und ob die Klägerin damit einen qualifizierten Berufsschutz genießt - was mehr zweifelhaft ist, nachdem die Klägerin diesen Beruf bereits nach Absolvierung eines halbjährigen Berufsfachlehrgangs ausüben konnte -, hier offen lassen, denn die Klägerin ist zur vollen Überzeugung des Senats trotz der bei ihr vorliegenden Erkrankungen noch in der Lage, auch in diesem "bisherigen Beruf" weiterhin vollschichtig erwerbstätig zu sein. Für den orthopädischen Bereich ergibt sich dies aus dem von Dr. B. im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens vor dem SG erstatteten Gutachten vom 30. Oktober 2001. Dieser hat aus den von ihm erhobenen Befunden (Diagnosen: chronisch rezidivierendes BWS und LWS-Syndrom bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen, Zustand nach Rippenserienfraktur 8. bis 12. Rippe (knöchern fest verheilt), rezidivierende Iliosakralgelenksreizungen und -blockierungen, Zustand nach Polytrauma, abgeheilt und ohne funktionelle weitere Behinderungen, Zustand nach Band-OP des rechten Daumengrundgelenks mit leichter Bewegungseinschränkung, ohne Funktionsbehinderung sowie Zustand nach perilonärer fest verheilter Bandläsion der rechten Handwurzel mit Belastungseinschränkung) nachvollziehbar und schlüssig gefolgert, dass die Klägerin zwar mittelschwere und schwere körperliche Arbeiten vermeiden muss, ihr auf der anderen Seite leichte körperliche Arbeiten noch vollschichtig zumutbar sind. In qualitativer Hinsicht muss sie darüber hinaus lediglich lang anhaltende Stresssituationen vermeiden. Auch diese qualitative Einschränkung schließt jedoch die Einsatzfähigkeit der Klägerin in ihrem bisherigen Beruf als Arzthelferin nicht aus. Wie Dr. B. auch insoweit überzeugend dargelegt hat, kann die Klägerin deshalb auch im erlernten Beruf noch vollschichtig arbeiten. Als niedergelassener Arzt hat der Sachverständige hier auch ausnahmsweise die zur Beurteilung dieser Frage erforderlichen berufskundlichen Kenntnisse, denn die von kaufmännisch-praktischen Arzthelferinnen verrichteten Tätigkeiten gehören zu denjenigen, die in jeder Arztpraxis tatsächlich vorkommen und deren Anforderungen deshalb von jedem niedergelassenen Arzt ausreichend beurteilt werden können. Die Beurteilung von Dr. B. wird durch das bereits von der Beklagten im Verlauf des Widerspruchsverfahrens eingeholte Gutachten von Dr. M., das der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwerten kann, bestätigt. Auch dieser hat - für den Senat überzeugend - dargelegt und begründet, dass die Klägerin sowohl leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes als auch eine Tätigkeit im erlernten Beruf als Arzthelferin vollschichtig verrichten kann. Soweit Dr. M. in qualitativer Hinsicht - insoweit über die Beurteilung von Dr. B. hinausgehend - auch die Vermeidung monotoner Arbeitshaltungen, Heben und Tragen von Lasten und Arbeiten in gebückter Haltung oder Zwangshaltung für erforderlich gehalten hat, steht dies seiner Annahme, die Klägerin könne auch den erlernten Beruf noch vollschichtig ausüben nicht entgegen, denn diesen qualitativen Funktionseinschränkungen trägt das Berufsbild der kaufmännisch-praktischen Arzthelferin ausreichend Rechnung. Auch Dr. M. ist aus den oben dargelegten Gründe die zur Beurteilung dieser Frage erforderliche berufliche Sachkunde zuzubilligen. Angesichts der überzeugenden, in Befunderhebung und sozialmedizinischer Beurteilung weitgehend übereinstimmenden Einschätzungen von Dr. B. und Dr. M. hält der Senat die abweichende Einschätzung des behandelnden Orthopäden Dr. K., der insbesondere die von ihm angenommene quantitative Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens nicht nachvollziehbar zu begründen vermochte, für widerlegt.

Weder auf internistischem noch auf nervenärztlichem Fachgebiet liegen Erkrankungen vor, die eine weitergehende Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit begründen könnten. Das internistische Fachgebiet betreffend hat dies bereits Dr. L. in seinem Gutachten vom 9. Februar 2000 (Diagnosen: arterielle medikamentös eingestellte Hypertonie, Zustand nach Bridenileus 12/99, Zustand nach akutem Lungenversagen, bekannte Trachealstenose, Zustand nach Übernähung einer Leber-/Milzruptur 8/98, Zustand nach Rippenserienfraktur 8/98, Zustand nach NNH-Fraktur und Fensterung 8/98, Zustand nach Cholecystektomie 8/98) überzeugend begründet. Für den Senat besteht - nachdem die Klägerin entsprechendes auch nicht vorgetragen hat - keine Veranlassung, an der Richtigkeit der Beurteilung von Dr. L. zu zweifeln, insbesondere ist nicht vorgetragen und sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass nach Erstattung des Gutachtens von Dr. L. eine relevante Verschlechterung des internistischen Befundes eingetreten wäre. Auf nervenärztlichem Fachgebiet liegen, wie Prof. Dr. S. in seinem Gutachten vom 15. Februar 2005 überzeugend dargelegt hat, keine für das Leistungsvermögen relevanten Erkrankungen oder Schädigungen vor. Es bestehen lediglich akzentuierte Persönlichkeitszüge und eine Neigung zu Stimmungsschwankungen. Diese haben jedoch keinen Krankheitswert und ziehen darüber hinaus weder qualitative noch quantitative Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit nach sich. Die sachverständige Zeugenaussage von Nervenärztin Dr. W. vom 19. Januar 2007 begründet keine Zweifel an der Richtigkeit des Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. S ... Dr. W. hat die Klägerin lediglich während eines kurzen circa vier Monate andauernden Zeitraums an fünf Terminen behandelt. Danach hat die Klägerin einen vereinbarten Termin nicht mehr wahrgenommen und ist nicht mehr erschienen. Zur Frage der Arbeitsfähigkeit gibt Dr. W. lediglich die ihr gegenüber von der Klägerin gemachten Angaben wieder und sieht sich zu einer eigenen Einschätzung nicht in der Lage. Ihre Aussage ist deshalb insgesamt, wie Beratungsarzt Dr. B. in seiner Stellungsnahme vom 1. März 2007 schlüssig ausgeführt hat, nicht geeignet, eine von der Beurteilung von Prof. Dr. S. abweichende Einschätzung des beruflichen Leistungsvermögens der Klägerin zu begründen. Nicht zu folgen vermocht der Senat dem auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG von Prof. Dr. B. erstatteten Gutachten vom 17. November 2005. Dem Gutachten fehlt bereits - worauf Prof. Dr. S. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 29. März 2006 zutreffend hingewiesen hat - eine zusammenfassende Wiedergabe der Aktenlage, eine vollständige Erhebung der medizinischen Vorgeschichte und eine sorgfältige biographische Anamnese. Darüber hinaus vermochte Prof. Dr. B. seine von der Beurteilung von Prof. Dr. S. abweichende Einschätzung weder in diagnostischer noch in sozialmedizinischer Hinsicht nachvollziehbar zu begründen. Sein Gutachten überzeugt deshalb insgesamt nicht.

Letztlich ist auch der Ausnahmefall einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung (vgl. hierzu etwa BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 117; auch Großer Senat BSGE 80, 24, 33 ff.) nicht gegeben. Da die Klägerin somit nicht berufsunfähig ist, erfüllt sie erst recht nicht die noch strengeren Anforderungen für das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit. Auch ein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nach dem seit 1. Januar 2001 geltenden Recht (§§ 43, 240 SGB VI in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000, BGBl. I S. 1827 (n. F.)), über den der Senat - jedenfalls nachdem die Klägerin dies ausdrücklich beantragt hat (vgl. BSG SozR 4-1500 § 1 Nr. 1) - zu entscheiden hat (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr. 9; BSGE 95, 112), besteht nicht. Die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 43, 240 SGB VI n. F., die bei einem Rentenbeginn nach dem 31. Dezember 2000 maßgeblich wären, liegen angesichts des oben festgestellten Leistungsvermögens des Klägers ebenfalls nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved