L 11 R 4184/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 9 R 1950/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 4184/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 7. August 2007 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der 1959 geborene Kläger hat keine Ausbildung abgeschlossen und war als Gipser, Zeitungsausträger sowie bis zum Beginn der Arbeitsunfähigkeit im Juli 2005 als Staplerfahrer tätig.

Den Antrag des Klägers vom 21. November 2005 auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung wies die Beklagte mit Bescheid vom 1. März 2006 und Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 2006 ab. Grundlage hierfür war das Gutachten der Internistin Dr. D. (Leistungseinschätzung: leichte bis mittelschwere Tätigkeiten sechs Stunden und mehr möglich mit einigen qualitativen Leistungseinschränkungen).

Der Kläger hat hiergegen Klage bei dem Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Dieses hat die behandelnden Ärzte - den Orthopäden Dr. S. (leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf orthopädischem Fachgebiet noch sechs Stunden täglich möglich), die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. T. (Arbeitsfähigkeit unter drei Stunden täglich; keine Wegstrecke über 500 Meter zu Fuß möglich) und den Internisten Dr. K. (Leistungsfähigkeit nicht beurteilbar) - als sachverständige Zeugen gehört.

Der Internist B. hat in seinem Gutachten, welches eine Untersuchung mittels Echokardiogramm bei Dr. T. und eine lungenfachärztliche Untersuchung durch Dr. F. eingeschlossen hat, eine koronare Eingefäßerkrankung (Zustand nach Stent-Implantation der LAD; leicht bis mittelschwer eingeschränkte Pumpfunktion nach Vorderwandinfarkt 8/05), eine arterielle Hypertonie, eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung, einen Zustand nach Oberschenkelamputation links (1979) mit Belastungsschmerzen im rechten Kniegelenk, ein chronisches Halswirbelsäulen-Syndrom bei Bandscheibenvorfall, ein umschriebenes linksseitiges Brustwirbelsäulensyndrom mit Interkostalneuralgie, Schlafstörungen mit Angstzuständen, Übergewicht, eine Fettleber, Hyperlipidämie sowie Analphabetismus diagnostiziert. Leichte körperliche Tätigkeiten sowie nach adäquater Behandlung der Lungenerkrankung gelegentlich auch wieder mittelschwere körperliche Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien sechs Stunden täglich möglich, ohne häufiges Heben, Tragen und Bewegen schwerer Lasten, ohne ständigen Zeitdruck oder sonstige überdurchschnittliche Stressbelastung (Akkordarbeit, Wechselschicht etc.), ohne Tätigkeiten mit regelmäßigem Einwirken von widrigen Klimaeinflüssen (Kälte, Nässe, Zugluft, starke Hitze) oder Lungenreizstoffen (Staub, Gase, Dämpfe), ohne regelmäßige Zwangshaltungen (Bücken, Knien, Überkopfarbeiten) sowie ohne regelmäßiges Bewältigen langer Gehstrecken, häufiges Treppensteigen oder Besteigen von Leitern oder Gerüsten. Weiterhin könne der Kläger keine Tätigkeiten ausüben, welche die Fähigkeit des Lesens und Schreibens erfordern. Trotz der Beinprothese und der Belastungsschmerzen in beiden Beinen könne der Kläger täglich viermal eine Wegstrecke von 500 m innerhalb 20 Minuten zu Fuß zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten benutzen.

In der mündlichen Verhandlung vor dem SG hat der Kläger angegeben, er könne Ziffern lesen, nicht aber Texte. Die Beklagte hat ihn daraufhin auf den Beruf des Museumswärters verwiesen.

Mit Urteil vom 7. August 2007 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab dem Monat November 2005 auf Dauer Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, vor dem Hintergrund der Oberschenkelamputation, der starken Schwächung der Herzfunktion und des Analphabetismus des Klägers seien keine Berufsfelder ersichtlich, in denen der Kläger tatsächlich erwerbstätig sein könne. Das gelte auch für die Tätigkeit als Museumswärter.

Die Beklagte hat gegen das Urteil am 27. August 2007 Berufung eingelegt. Sie sieht den Analphabetismus des Klägers nicht als nachgewiesen an und hält jedenfalls die Tätigkeit als Produktionshelfer für möglich. Sie verweist auf die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 19. April und 13. Juni 2007 (L 10 R 2036/05, L 10 R 614/07).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 7. August 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Bei ihm liege ein sog. Seltenheitsfall vor, bei dem auf Grund besonderer Umstände der allgemeine Arbeitsmarkt verschlossen sei. Er könne auf Grund seines Körpergewichts und mehrerer Bandscheibenvorfälle nicht weit laufen. Selbst bei geringfügiger Erwerbstätigkeit bestehe insbesondere wegen des extrem hohen Blutdrucks die erhöhte Möglichkeit eines Arbeitsunfalls.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des SG und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung der Beklagten, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet. Das SG hätte der Klage nicht stattgeben dürfen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf für die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Rechtsgrundlage für die hier begehrte Rente wegen Erwerbsminderung ist in erster Linie § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI). Danach haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie - unter anderem - teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind.

Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Nach § 240 Abs. 1 SGB VI haben Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres auch Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind.

Berufsunfähig sind nach § 240 Abs. 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Der Kläger ist nicht erwerbsgemindert, denn er kann leichte körperliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Dies ergibt sich aus dem vom SG eingeholten Gutachten des Internisten B., das im Einklang mit der gutachtlichen Einschätzung von Dr. D. steht. Die gegenteilige Ansicht von Dr. T., die diese nur pauschal geäußert und nicht durch weitergehende Befunde begründet hat, ist nicht überzeugend.

Die im Vordergrund stehende koronare Herzerkrankung steht leichten Tätigkeiten nicht entgegen. Der Sachverständige B. hat die linksventrikuläre Pumpfunktion als lediglich leicht- bis mittelgradig eingeschränkt bezeichnet. Zu diesem Ergebnis kam das im Rahmen der gutachtlichen Untersuchung bei dem Kardiologen Dr. T. durchgeführte Echokardiogramm. Die arterielle Hypertonie hat der Sachverständige B. als gut eingestellt bewertet und Hinweise auf eine Belastungskoronarinsuffizienz nicht gefunden. Die vom Kläger geltend gemachte erhöhte Möglichkeit eines Arbeitsunfalls ist damit nicht nachgewiesen. Dass die Fahrradergometrie bei der gutachtlichen Untersuchung bereits auf der 50-Watt-Stufe abgebrochen werden musste, ist im Wesentlichen auf die obstruktive Lungenerkrankung und das Körpergewicht des Klägers (105 kg bei 165 cm Körpergröße) zurückzuführen. Insoweit bestehen zweifellos Leistungseinschränkungen, die jedoch nicht so weit gehen, wie dies der Kläger meint. Der aktuelle Zustand der Lungenfunktion, wie er sich in den Untersuchungen durch den Lungenarzt Dr. F. dargestellt hat, schränkt zwar die Leistungsfähigkeit deutlich ein, lässt jedoch nach den Ausführungen des Sachverständigen B. noch leichte körperliche Tätigkeiten bei Beachtung einiger qualitativer Leistungseinschränkungen zu. Bei adäquater Behandlung sind sogar gelegentliche mittelschwere Tätigkeiten wieder möglich.

Den orthopädischen Beeinträchtigungen - betroffen sind insbesondere Schmerzen im Oberschenkelstumpf links, Belastungsschmerzen im rechten Kniegelenk und Wirbelsäulenbeschwerden - kann durch die im Tatbestand näher wiedergegebenen qualitativen Leistungseinschränkungen ausreichend Rechnung getragen werden. Auch dies hat der Sachverständige B. nach eigener klinischer Untersuchung und unter ausführlicher Auseinandersetzung mit den vorliegenden Befunden eingehend und überzeugend begründet. Auch der behandelnde Orthopäde Dr. S. hat für das orthopädische Fachgebiet leichte körperliche Tätigkeiten für möglich gehalten.

Der Senat kann dahingestellt lassen, ob der Kläger Analphabet ist. Immerhin kann er, wie er in der mündlichen Verhandlung vor dem SG mitgeteilt hat, Ziffern lesen. Seine Lesefähigkeit reichte auch aus, um als Zeitungsausträger tätig zu sein. Mit den insoweit vorhandenen Fähigkeiten ist er in der Lage, Kleinartikel von Hand versandfertig zu machen und bestimmte Produktionshelfertätigkeiten (Etikettierung von Farbdosen oder Versand von Umschlägen, Verpacken von Portionsbeuteln Kaffee) auszuführen. Solche Tätigkeiten können, wie dies aus den im Tatbestand zitierten Entscheidungen des 10. Senats des LSG Baden-Württemberg, die den Beteiligten übermittelt worden sind, auch von Personen verrichtet werden, die nicht oder kaum lesen können. Sie sind dem Kläger auch vor dem Hintergrund seiner sonstigen gesundheitlichen Einschränkungen zumutbar. Die Tätigkeiten werden überwiegend im Sitzen durchgeführt und die Körperhaltung kann gewechselt werden. Zwangshaltungen, wie sie der Sachverständige B. für den Kläger ausgeschlossen hat, fallen nicht an. Die genannten Tätigkeiten entsprechen damit dem, was der Sachverständige B. und auch der Orthopäde Dr. S. noch für möglich gehalten haben. Es handelt sich auch um Tätigkeiten ohne intellektuelle Anforderungen oder nervliche Belastungen, d. h. um geistig einfache Arbeiten, die nach einer kurzen praktischen Einführung ("kurzes Zeigen") ausgeführt werden können.

Ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegen, die nach der Rechtsprechung des BSG ausnahmsweise die Pflicht zur Benennung zumindest einer Verweisungstätigkeit erfordern, kann offen gelassen werden, da eine solche Benennung mit den beschriebenen Tätigkeiten jedenfalls möglich ist.

Der Kläger ist auch nicht dadurch in seiner Berufstätigkeit eingeschränkt, dass er einen Arbeitsplatz nicht erreichen kann. Um Wegefähigkeit annehmen zu können, ist es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) notwendig, wenn der Versicherte keinen Arbeitsplatz innehat oder ihm konkret keiner angeboten wird, dass der Versicherte täglich viermal eine Wegstrecke von mehr als 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeit benutzen kann (BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 - 13/5 RJ 73/90 - SozR 3-2200 § 1247 Nr. 10; Urteil vom 14. März 2002 - B 13 RJ 25/01 R - SGb 2002, 239; Urteil vom 28. August 2002 - B 5 RJ 12/02 R; Urteil vom 28. August 2002 - B 5 RJ 8/02 R -). Diese Voraussetzungen sind, auch wenn die Amputation und die Folgen der internistischen Erkrankungen den Kläger in seiner Gehfähigkeit einschränken, nach dem Gutachten des Sachverständigen B., dem sich der Senat anschließt, (noch) erfüllt.

Weitere Ermittlungen sind nicht notwendig, da der Sachverhalt geklärt ist. Das gilt auch für die vom Kläger gegenüber dem Sachverständigen B. geäußerten nächtlichen Ängste und Schweißausbrüche. Während der gutachtlichen Untersuchung sind Auffälligkeiten von psychischer Seite nicht bemerkt worden. Eine nervenärztliche Behandlung durch einen Facharzt findet nicht statt. Weitere Ermittlungen auf anderen Fachgebieten hat der Sachverständige B. ausdrücklich nicht für notwendig erachtet.

Aufgrund seines beruflichen Werdegangs ist der Kläger auf den gesamten Arbeitsmarkt, damit auch auf die genannten Tätigkeiten verweisbar, so dass er auch nicht berufsunfähig ist.

Auf die Berufung der Beklagten ist damit das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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